Geschäften im Asyl-Container Von Alex Baur

Wer noch irgendwelche Zweifel hat, dass die zur Abstimmung kommenden Gesetze bitter nötig sind, um nur die gröbsten Missbräuche und Fehlleistungen zu verhindern und zu korrigieren, sollte unbedingt den nachfolgenden Artikel lesen

Wer sind diese Leute, was machen sie hier, warum kommen sie in unser Land? Alle reden von den Flüchtlingen, niemand kennt sie. Ein Bericht aus der Asyl-Unterkunft in Musterlingen
 
Prince ist ein liebenswürdiger Kerl. Trotzdem braucht es mehrere Anläufe, bis er mich zu sich nach Hause einlädt, in die Containersiedlung im Industrieviertel von Musterlingen. Fremde sind hier nicht willkommen, vor allem wenn sie weiss sind. Prince geht für mich ein grosses Risiko ein. Sollte es nach einem meiner Besuche zu einer Polizeirazzia kommen - und das ist hier immer möglich - dann hat er ein Problem. Erst kürzlich wurde ein Mitbewohner von seinen Kumpanen zusammengeschlagen, weil man ihn als Spitzel verdächtigte.
 
Stundenlang habe ich mit Prince diskutiert, detailliert hat er mir den Libanon-Konflikt erklärt, er redet gerne, nur nicht über das, was mich interessiert: seine wahre Geschichte. Erst nach hartnäckigem Insistieren gibt er wenigstens die offizielle Version preis. Demnach wäre Prince vor 31 Jahren in Sierra Leone geboren worden, wo er im «Marketing» gearbeitet hätte, bis er 1999 aus politischen Gründen fliehen musste, zu Fuss hätte er zuerst die Sahara durchquert und danach, im Kanu paddelnd, die Meerenge von Gibraltar, um von dort irgendwie in die Schweiz zu gelangen, auf unbekannten Pfaden, denn er reiste bei Nacht, und in der Nacht sieht man ja nichts. Prince starrt missmutig in eine Ecke, als er mir die Story in knappen Zügen und teilnahmslos vorträgt, die Sache ist ihm peinlich, er weiss wohl, dass ich ihm kein Wort glaube, und er versucht gar nicht erst, mich zu überzeugen. Die reale Geschichte von Prince ist möglicherweise abenteuerlicher. Vielleicht reiste er aber auch, wie viele, mit einem Touristenvisum ausgestattet, direkt per Flugzeug nach Europa, deponierte seine Papiere bei Verwandten, bevor er in die Schweiz einreiste, um hier seinen Asylantrag zu stellen. Entscheidend ist für ihn seither nur eines: Würde er die Wahrheit erzählen, sässe er ein paar Tage später im Flugzeug zurück in seine Heimat irgendwo in Afrika. Das zu verhindern, darum dreht sich seine ganze Existenz seit nunmehr sechs Jahren.
 
Ganz reizend
Ich habe die Container in Musterlingen aufgesucht, um mir im Hinblick auf die Abstimmung über die Asyl- und Ausländervorlage am konkreten Beispiel ein Bild zu machen. Baut die Gesetzesrevision auf «menschenverachtenden und realitätsfremden Prämissen» (Ruth Dreifuss) auf? Stehen wir am «Ende der humanitären Tradition» (Rosmarie Zapfl), wenn Asylsuchende sich künftig ausweisen müssen? Werden die «Menschenrechte an der Schweizer Grenze abgeschafft» (Franz Hohler), wenn Immigranten, die eine Identifizierung verweigern, während 18 (bisher 9) Monaten inhaftiert werden können? Steht der «Staat vor seinem Ausverkauf» (Peter Bichsel), wenn definitiv Abgewiesene statt Fürsorge nur noch «Nothilfe» erhalten?
 
Während mehrerer Tage habe ich mich in der Containersiedlung herumgetrieben, die offene Feindseligkeit war nach wenigen Stunden verflogen, das Misstrauen ist geblieben. Ein Interesse an Publizität hat hier kaum einer, auch für die Betreuer ist Reden gefährlich, wegen des Amtsgeheimnisses. Die Stimmung in der Asylbranche ist gereizt, ein unüberlegtes Wort kann verheerende Folgen zeitigen, die Strafanzeigen sitzen locker. Schnell wurde mir klar, dass es nur funktionieren würde, wenn ich allen Gesprächspartnern Anonymität garantiere. Der Name Musterlingen ist so frei erfunden wie alle anderen Namen - der Rest entspricht der Realität, wie ich sie in der Gemeinde vorgefunden habe.
 
Let’s talk about drugs
Die Fürsorgebehörde von Musterlingen betreut knapp hundert Immigranten, die ein Asylgesuch gestellt haben, das in mehr als der Hälfte aller Fälle allerdings bereits rechtsgültig abgewiesen wurde. Einige Antragsteller wurden aus humanitären Gründen «vorläufig aufgenommen», die meisten hätten die Schweiz längst verlassen müssen. Sie leben hier, weil ihre Identität nicht eruiert werden kann. Landesweit kommen zurzeit auf 11’280 hängige Asylgesuche 9’109 «Vollzugsverfahren» - gemeint sind damit Leute, die keine Flüchtlinge sind, in der Regel mangels Papieren aber nicht ausgeschafft werden können. Wird die Gesetzesrevision angenommen, haben jene, die das Land verlassen müssen, nur noch ein Anrecht auf sogenannte Nothilfe. Das wären, neben freiem Logis, Wasser, Strom, Heizung sowie medizinischer und zahnärztlicher Betreuung, rund 260 Franken pro Monat und Person. Heute bekommen alle, unbesehen ihres Status, mindestens 396 Franken Rente. Das ist nicht viel. Von materieller Not kann in der Containersiedlung gleichwohl keine Rede sein. Adidas-Sneakers und iPod scheinen zur Standardausrüstung zu gehören wie Lederjacke und Handy, augenfällig vor allem bei jener Gruppe, die hier die Mehrheit stellt und die gemäss einem Verdikt des Presserates nicht mehr als «Schwarzafrikaner» bezeichnet werden darf, sofern es um Drogenhandel geht. Und davon muss hier die Rede sein.
 
«Nicht alle Afrikaner handeln mit Drogen», sagt Prince, während wir von seiner Veranda aus das Treiben im Container-Camp betrachten. Da hat er zweifellos recht. Hier gibt es diverse Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Es gibt welche, die für ihre Kollegen kochen, putzen oder waschen, andere erledigen Botengänge, Wacheschieben auf dem Balkon, einige sind im «Marketing» tätig, besorgen Handys, Mountainbikes oder Markenartikel zu Discountpreisen. Alimentiert wird dieses kleine, in sich geschlossene Biotop freilich von einer einzigen Einnahmequelle: Kokain. Reguläre Einkünfte ausserhalb der Fürsorge gibt es nicht.
 
Fahnder Kurt Forrler von der Kantonspolizei Zürich arbeitet seit Jahren in der Asylszene. Die Zustände in Musterlingen sind für ihn «absolut typisch». Bei den Kontrollen, die im Camp im Schnitt einmal im Monat stattfinden, bleibt immer etwas hängen: Hehlerware, verdächtige Geldbündel in «gassenüblicher Stückelung», Belege, die von den Geldtransfers ins Ausland zeugen, ein paar Gramm Kokain. Grosse Mengen sind aber selten. Die Afrikaner - «Chügeli-Neger» im Polizeijargon - sind im Detailhandel tätig. Der Stoff wird meist ausserhalb der Camps gebunkert, die Bestellungen gehen via Handy ein und werden per Velokurier oder S-Bahn ausgeliefert. Die Dealer verstecken die Droge in kleinen Gummibällchen, die sie im Notfall schlucken (weshalb sie meist ein Getränk in Griffweite haben) und später wieder ausscheiden. Gemessen am Ertrag betreiben sie einen enormen Aufwand - was allerdings auch für ihre Verfolger gilt. Gemäss Fahnder Forrler ist es praktisch unmöglich, die «hermetisch geschlossenen Gruppen» der Afrikaner zu infiltrieren. Geständnisse sind so selten wie Belastungen von Komplizen, wird einer erwischt, liegt in der Regel nicht mehr drin als ein Strafbefehl.
 
Zwei aus fünf
Wie viele politische Flüchtlinge leben in Musterlingen? Gerda Stricker, als Sozialvorsteherin für den Asylbereich zuständig, atmet tief durch, zögert eine Weile: «Ich weiss nicht - wahrscheinlich keine.» In den vergangenen fünf Jahren gab es zwei positive Asylentscheide. Die Betroffenen, ein Iraker und eine Türkin mit zwei Kindern, seien aber kaum «Politische im klassischen Sinn». Das Klischeebild vom Flüchtling, der, ungerecht verfolgt und gepeinigt aus politischen oder religiösen Gründen, sich irgendwie bis zur Schweizer Grenze durchgeschlagen hat und hier dankbar für jeden Teller Suppe ist, hat Frau Stricker schon vor zwanzig Jahren abgelegt. Damals gehörte sie noch zu einer Gruppe von Freiwilligen, die sich im Dorf für Flüchtlinge engagierten. Diese Illusion habe sich schnell zerschlagen. Ihr Herz schlage «nach wie vor auf der linken Seite», versichert Stricker, eine generelle Abneigung gegenüber ihrer Klientel habe sie trotz allem nie empfunden - aber oft Ratlosigkeit. Und die Asylvorlage? - «Mein Bauch sträubt sich dagegen, doch konkret könnte ich nicht sagen, was daran ungerecht wäre.»
 
Freiwillige gibt es in Musterlingen schon lange nicht mehr. Das Asylwesen hat sich zu einem hochspezialisierten Wirtschaftszweig gemausert, der Heerscharen von Juristen, Übersetzern, Polizisten und Sozialarbeitern ernährt. Allerdings sind auch Klagen aus der Bevölkerung selten geworden. In Musterlingen hat man sich an die Anwesenheit der Fremden gewöhnt, man nimmt sie kaum noch zur Kenntnis, solange sie nicht im Umfeld der Schulen dealen. Dass das nicht mehr passiert, dafür sorgt Dante, der Asylkoordinator. Der Mann sei ein Glücksfall für Musterlingen, versichert Stricker, auch wenn sie gelegentlich ob seinen schroffen Umgangsformen leer schlucken müsse. Doch Dante habe die Sache im Griff, er werde wohl kaum geliebt, aber immerhin respektiert, und die Sozialvorsteherin ist froh, wenn sie sich auf jene Klientel konzentrieren kann, die ihr am meisten Kummer bereite: Teenager, die bereits am Tropf der Fürsorge hängen, bevor sie überhaupt ins Berufsleben eingestiegen sind, Schweizer genauso wie Ausländer.
 
Bitte einmal Rasen mähen
Dante spricht gern Klartext. «Ich kann mir Dinge erlauben», sagt er mit einem entwaffnenden Lächeln, «die bei einem Schweizer sofort als rassistisch empfunden würden.» Schliesslich ist er selber in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, seine Hautfarbe ist dunkel, er tritt seiner Klientel ohne falsche Hemmungen und auf Augenhöhe entgegen. Das sei nötig, sagt er, denn die Erwartungen der Immigranten seien oft realitätsfremd und masslos überrissen. Die Basis dafür werde bereits bei der Empfangsstelle gelegt, wo Asylbewerber automatisch an die Fürsorge angedockt und umfassend versorgt werden. Für Schweizer Verhältnisse mag die Hilfe bescheiden anmuten, für Leute aus Ländern, in denen die Familie das einzige soziale Netz ist und wo man nichts für nichts bekommt, sei das eine Erfahrung der surrealen Art. Fatal sei vor allem die falsche Illusion, die bei den Immigranten so unbewusst geschürt werde: dass man im Grunde genommen willkommen sei. Rundgang mit Dante durch die Asylunterkünfte von Musterlingen: Ein Roma-Vater möchte die Wiese vor seinem Haus gemäht haben (seine Kinder könnten sich beim Spielen Zecken holen), der Ablauf der Dusche ist schon wieder verstopft (sollte diesmal bitte etwas zügiger repariert werden), in der Containersiedlung verlangen zwei Leute nach einem Pingpong-Tisch (in der Nachbargemeinde haben sie auch einen), Frau Lubamba braucht unbedingt einen Vorschuss (vor einem halben Jahr stellte sie einen Antrag auf operative Verkleinerung ihrer Nase, die ihr bei den Gelegenheitsjobs an der Zürcher Langstrasse hinderlich ist), Frau Nuri aus Teheran möchte per Taxi zum Zahnarzt nach Zürich chauffiert werden (sie kenne sich in der Stadt nicht aus). Dante bleibt cool, lässt sich gar nicht erst auf Diskussionen ein - «mein Budget ist aufgebraucht», lautet seine Standardantwort. Das versteht jeder.
 
Beim gesichtslosen Block aus den 1960er Jahren, den die Asylfürsorge von Musterlingen für Familien gemietet hat, muss eine Wohnung saniert werden. Die Familie Berisha ist in den Kosovo zurückgekehrt, unfreiwillig. Den Vater holte die Polizei eines Morgens, als die Kinder bereits in der Schule waren, unangemeldet ab und brachte ihn gleich zum Flughafen; der Rest der Familie reiste später «freiwillig» auf dem Landweg nach. Sie haben alles in ihren Lieferwagen gepackt, was nicht niet- und nagelfest war: Kühlschrank, Lampen, sogar die Vorhangschienen fehlen. Die Wände sind verschmiert, die Schlüssel unauffindbar, das billige Parkett quillt aus allen Fugen. Das ist normal. Wer zur Ausreise gezwungen wird, denkt nicht dankbar an die Schweiz zurück, Rückkehrhilfe hin oder her, sondern mit einer Wut im Bauch. Sieben Jahre lebten die Berishas in Musterlingen zwischen Ungewissheit und der Hoffnung, dass sie es doch irgendwie schaffen würden. Das ist etwa so, als würde man unerwünschte Gäste im Vorzimmer vor einer Schale verstaubter Snacks sitzen lassen, während in der Stube ein duftendes Festmahl serviert wird, auf dass die Fremden aus eigenen Stücken verschwinden mögen, bevor man unhöflich wird.
 
Sitzengeblieben
Natürlich gibt es auch immer welche, die es irgendwie trotzdem schaffen. Rund ein Drittel aller abgewiesenen Asylsuchenden darf aus humanitären Gründen bleiben. Die Familie Tahiri gehört zu dieser Gruppe. Die Tahiris kamen während des Kosovokonflikts als Kriegsflüchtlinge in die Schweiz. Als «vorübergehend Aufgenommene» hätten sie spätestens 2003 wieder ausreisen müssen. Doch ausgerechnet damals holte sich Vater Tahiri bei einem Autounfall ein Schleudertrauma. Die Suva glaubte ihm nicht, nach aufwendigen Abklärungen in zwei Spezialkliniken wurde sein Rentengesuch definitiv abgewiesen. Nun kam auch noch ein Tinnitus hinzu, ein lästiges Pfeifen im Ohr, Tahiris Anwälte legten sich ins Zeug und erwirkten eine IV-Rente. Ein Gesuch um Zusatzleistungen ist zurzeit bei der Fürsorgebehörde von Musterlingen hängig. Denn mittlerweile wurde Frau Tahiri von der ALV ausgesteuert. Was den arbeitsunfähigen Herrn Tahiri allerdings nicht daran hinderte, auch diesen Sommer mit seinem schwarzen Golf in den Kosovo zu fahren, ferienhalber. Von Ausreise redet schon lange keiner mehr.
 
In Musterlingen leben 45 abgewiesene Flüchtlinge, die aus humanitären Gründen bleiben durften. Fünfzehn (davon zehn Tamilen) arbeiten, die andern sind bei der Fürsorge hängengeblieben. Zum Beispiel die Kulatovics, eine Roma-Familie aus Mazedonien, die 1990 in die Schweiz kam. Ihr Asylgesuch wurde längst abgewiesen, mit Hilfe von insgesamt vier Anwälten konnte die Abreise aber immer wieder hinausgezögert werden, bis die Familie als «Härtefall» aufgenommen wurde. Gearbeitet hat Herr Kulatovic gleichwohl nie, zumindest nicht offiziell, ein Antrag auf eine IV-Rente ist hängig. Der Gemeinde käme diese Entlastung gelegen, die Fürsorgekosten explodieren auch in Musterlingen. Trotzdem wurde kein Aufwand gescheut, um wenigstens den drei Kindern mit teuren Fremdplatzierungen und Sonderschulen eine Chance auf eine bessere Zukunft zu geben. Genützt hat’s wenig, die drei sind mittlerweile junge Erwachsene, ihre Deutschkenntnisse sind rudimentär geblieben, auch die zweite Generation lebt von der Fürsorge. Eine der Töchter ist bereits Mutter eines dreijährigen Kindes, das die Fürsorgebehörde kürzlich fremdplatzieren musste. Vier Roma-Familien leben heute in Musterlingen, keine von ihnen konnte je in einen regulären Arbeitsprozess integriert werden. In der Regel ergänzen die Familienväter ihre Sozialrenten durch Handel mit Autos und Alteisen, was gelegentlich zu Klagen wegen überstellter Parkplätze aus der Nachbarschaft führt. Ein Schlaumeier plünderte monatelang heimlich die Metallsammelstelle der Gemeinde und verschaffte sich auf diesem Weg allein im vergangenen Jahr ein «Nebeneinkommen» von immerhin 18.500 Franken.
 
Es ist freilich auch nicht einfach, von Fürsorge und Schwarzmarkt wegzukommen. Denn das System arbeitet gegen die Arbeitswilligen. Die Negativselektion beginnt beim Asylantrag: Der ehrliche, der sich ausweist und seine Identität preisgibt, ist schnell wieder draussen. Wenn ein Asylbewerber überhaupt einen Job findet, verdient er mit Arbeit kaum mehr (oder sogar weniger), als ihm das Sozialamt bietet. Wer dennoch bleibt, wird in Anbetracht der ungewissen Zukunftsaussichten alles daran setzen, möglichst schnell möglichst viel Geld zu machen, was auf legalem Weg ausgeschlossen ist. Logische Konsequenz: Die Kriminalitätsrate ist im Asylbereich um ein Vielfaches höher als bei jeder anderen Bevölkerungsgruppe. So gingen vergangenes Jahr im Kanton Zürich 20,9 % aller geklärten Diebstähle auf das Konto von Asylanten, die 17,8 % der Untersuchungshäftlinge stellen, und selbst bei den Gewaltdelikten ist ihr Anteil mit 7,3 % rund zehn Mal höher als bei der Durchschnittsbevölkerung.
 
Panzerglas - für die Betreuer
Von der Fürsorge allein, ob Sozial- oder Nothilfe, lebt nach den Erfahrungen von Dante praktisch keiner. Jede Volksgruppe hat ihre Präferenzen: Wohlorganisierte Gruppen aus Pakistan verkaufen Rosen in Bars und Restaurants, Schwarzafrikanerinnen bevorzugen eher den Strich, Nordafrikaner gelten als Spezialisten für Taschendiebstahl. Kopfzerbrechen bereiten Fahnder Forrler von der Zürcher Kapo aber vor allem professionelle Einbrecher- und Diebesbanden aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Gangstersyndikate schleusen ihre Leute gezielt ins Land ein, Forrler hat schon Täter geschnappt, die am selben Tag, an dem sie bei der Empfangsstelle ihren Asylantrag stellten, ihren ersten Diebstahl verübten.
 
Mesrop Partev, 40, stammt aus Armenien und lebt seit vier Jahren in Musterlingen. Sein Asylantrag wurde 2003 definitiv abgelehnt, mangels Papieren konnte der Mann aber nicht ausgeschafft werden. Mehrmals sass er wegen Diebstahls in Haft, aufgrund von DNA-Spuren geht die Polizei davon aus, dass er der berüchtigten «Hammerbande» angehört. Kapitale Verbrechen konnten ihm aber nie nachgewiesen werden. Als vor zwei Jahren endlich Reisepapiere vorhanden waren und der Mann abgeschoben werden sollte, meldete sich seine Ehefrau samt Kind bei der Empfangsstelle in Kreuzlingen und stellte einen Asylantrag. Solange das Verfahren läuft, kann Mesrop Partev hierbleiben. Vor einem Jahr ist ein zweites Kind aufgetaucht, 14 Jahre alt, angeblich eine Tochter des Armeniers. Dieser befindet sich zurzeit wegen Magenproblemen infolge exzessiven Nikotinkonsums in Spitalbehandlung. Die Fürsorgebehörde hat soeben eine Kostengutsprache für eine Operation bewilligt. Von Ausreise redet unter diesen Umständen keiner mehr. Hartgesottene Kriminelle sind in Musterlingen allerdings die Ausnahme. «Sozial Auffällige», unter ihnen auch Geisteskranke, werden nach Möglichkeit ausgesondert und in einem sogenannten Minimalzentrum untergebracht. Eines davon befindet sich gleich neben dem Flughafengefängnis auf der grünen Wiese bei Kloten. In drei Pavillons hausen, getrennt nach Herkunft, je ein Dutzend Zentralasiaten, Nordafrikaner und Schwarzafrikaner. Neben Dealern, die den Stoff in der Regel selber nicht anrühren, finden sich hier auch mehrere Süchtige, die mit Methadon ruhiggestellt werden. Die Stimmung ist trotzdem aggressiv, Drohungen sind an der Tagesordnung, die Betreuer arbeiten hinter Panzerglas. Viele, die hier gestrandet sind, sassen auch schon im benachbarten Ausschaffungsgefängnis ein. Meistens waren sie nach ein paar Wochen wieder draussen, weil gemäss Bundesgericht die Ausschaffungshaft nur dann angeordnet werden kann, wenn eine realistische Aussicht auf die Beschaffung von Reisepapieren in nützlicher Frist besteht. Da die Ausschaffungshaft keine Strafe im juristischen Sinn ist, können sich die Häftlinge im Gruppenvollzug innerhalb der Gefängnismauern relativ frei bewegen und uneingeschränkt telefonieren. Ein bekanntes Beispiel dafür war der mutmassliche Terrorist Mohammed Achraf, der vom Flughafengefängnis aus die Terroranschläge von Madrid fernmündlich mitorganisiert haben soll. Über 10 % der Asylbewerber benutzen ihr Gesuch lediglich als eine Art Starthilfe und tauchen ab, bevor ein Entscheid vorliegt. Bekannt ist etwa der Fall eines lettischen Studenten, der die Semesterferien für eine Diebestour durch die Schweiz nutzte; als sein Asylantrag behandelt werden sollte, war der Mann längst wieder in seiner Heimat. Doch eine wachsende Zahl von Immigranten begründen ihr Asylgesuch gar nicht erst und nehmen damit einen sogenannten Nichteintretensentscheid (NEE) in Kauf. Diese Leute spekulieren lediglich darauf, dass ihre Identität möglichst lange nicht geklärt werden kann und nutzen derweil die ihnen vom Staat zur Verfügung gestellte Infrastruktur.
 
Wenn einer seine Papiere wirklich benötigt, zum Beispiel für eine Heirat, tauchen sie gemäss den Erfahrungen von Fahnder Forrler nicht selten unverhofft wieder auf. Afghanen und Bengalen werden über Nacht wieder zu Pakistani oder Indern, Angolaner zu Nigerianern, vermeintliche Tibeter zu Chinesen. Vor einem Jahr kam es in der Containersiedlung von Musterlingen zu einem Todesfall: Der allseits beliebte, joviale Mubarak starb an einem Herzversagen (er soll zuvor mehrere Viagra-Pillen geschluckt haben). Der Mann hatte ursprünglich den Irak als seine Heimat genannt, auf Intervention eines Übersetzers räumte Mubarak ein, er stamme aus Algerien, wo er als Islamist verfolgt werde. Nur wenige Stunden nach seinem Tod kam Mubaraks Schwester aus Deutschland angereist. Sie brachte die Papiere ihres Bruders gleich mit. In derselben Woche wurden Mubaraks Überreste in ihre wahre Heimat überführt, nach Tunesien. Die Familie bezahlte die rund 10.000 Franken für die Rückführung anstandslos in bar.
 
Wird das neue Gesetz den Missbrauch verhindern? Dante zuckt mit den Schultern. Die Kürzung der Fürsorge betrachtet er als symbolischen Akt. Die grossen Kosten fallen anderswo an. Unser System ist für Flüchtlinge ausgelegt, die mit viel Aufwand in die Gemeinden verteilt und dort integriert werden sollten. In der Praxis handelt es sich bei den Betroffenen meistens um Immigranten, die man möglichst schnell wieder loswerden möchte. Mit solchen Widersprüchen müsse man leben, solange es Arme und Reiche auf dieser Welt gibt. Positiv wäre für ihn aber allein schon, wenn künftig etwas weniger geheuchelt und gelogen werden müsste.
 
 
Quelle: http://www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=14705&CategoryID=82 Ausgabe 34/06 Hervorhebungen durch politonline
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