Ein später Sieg Hitlers? - Die Shoah darf nicht im Zentrum jüdischen Bewußtseins stehen Von Raffael Seligmann

politonline: Am 26. Januar hat sich die UNO-Vollversammlung dafür ausgesprochen, die Erinnerung an den Holocaust aufrechtzuerhalten, um damit künftigen Völkermorden vorzubeugen. Sind wir somit gehalten, die laufenden, sich in einem unerträglichen Ausmass steigernden Massaker an mutmasslichen Terroristen und Zivilisten in Afghanistan und im Irak sowie die völkerrechtswidrige Bombardierung dieser beiden Länder, desgleichen die Zerstörung des Südlibanons, nicht als Völkermord zu betrachten? Warum tritt niemand mit dieser Frage an die Vollversammlung heran? Wo bleibt hier der vielgepriesene neue Menschenrechtsrat in Genf? In diesem Zusammenhang lassen wir Raffael Seligmann und seine Sicht der Dinge hier zu Wort kommen:

Sechzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz geht für das assimilierte Judentum die größte Bedrohung nicht länger vom Antisemitismus, sondern von der Aufgeschlossenheit der westlichen Gesellschaften gegenüber den Israeliten aus. Die Hebräer werden sich entscheiden müssen. Gott, die Geschichte oder Hitler? Im Spannungsfeld dieser Alternativen liegt die Zukunft des Judentums.

In den Vereinigten Staaten ebenso wie in Deutschland heiraten heute mehr als 70 % der Juden Partner anderer oder keiner Konfession. Die Kinder aus diesen Ehen wachsen in neun von zehn Fällen ohne Bezug zum Judentum auf. So ist zu erklären, daß die Zahl der amerikanischen Juden trotz Zuwanderung und Kinderreichtum seit Jahrzehnten zurückgeht. In Deutschland beobachten wir eine scheinbar gegenläufige Entwicklung. Vor der Wiedervereinigung lebten hier weniger als dreißigtausend Hebräer. Eine verlöschende Gemeinschaft: Die Sterbeziffer überstieg die Geburtenzahl um das Siebenfache. Die Bereitschaft Deutschlands zur Aufnahme von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion brachte dann die Wende. Seither sind 15’0000 Juden aus den GUS-Staaten zugewandert. Über achtzigtausend von ihnen landeten in jüdischen Gemeinden, so daß das deutsche Judentum mit heute über hunderttausend Menschen zur drittgrößten jüdischen Einheit Westeuropas aufstieg. Die zahlenmäßige Stärke steht allerdings im Gegensatz zur integrativen Kraft der Gemeinde. Das Gros der Zuwanderer besitzt bis heute nur rudimentäre Kenntnisse von jüdischer Religion, hebräischer Gebetssprache, jüdischen Gesetzen, Geschichte und Tradition des Judentums. Damit unterscheidet sich die israelitische Gemeinschaft Deutschlands wenig von anderen Diaspora-Gemeinden. Die Wurzel des Judentums sind der Glaube und die ihn begleitende Kenntnis sowie die Befolgung der 613 israelitischen Gebote. In der säkularen westlichen Gesellschaft nimmt bei Juden gleichermaßen wie in ihrer Umwelt die religiöse Bindung ab; und die Kenntnis der Glaubensgebote, der eigenen Geschichte und Überlieferung. Was aber bleibt vom Judentum, wenn man den Glauben verloren und das Wissen nie erworben hat? Der Zionismus hat die Lücke nie schließen können. Der Judenstaat erfährt von der überwiegenden Mehrheit der Juden in aller Welt große Sympathie. Doch die Diaspora-Hebräer bleiben zionistische Trockenschwimmer. Sie predigen den „Aufstieg“, also die Zuwanderung nach Israel. Tatsächlich aber leben sie in ihren Heimatländern. Erst nach ihrem Ableben erfüllen sich einige ihren Traum und lassen sich in Zion beerdigen, wie der ehemalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis.

Glaube und Zionismus wurden im Diaspora-Judentum durch eine Fixierung auf die Shoah ersetzt. „Der Ewige Jude, das bin ich. Der kahlgeschorene Häftling auf dem Weg in die Gaskammer, der Geschundene und ins Ghetto Gepferchte, der kleine Warschauer Jude, der den deutschen Maschinenpistolen mit unglaublich ernstem und würdigem Blick entgegentritt, das alles bin ich.“ So beschrieb Alain Finkielkraut Anfang der achtziger Jahre die Surrogatidentität der modernen Hebräer. Das ironische Bekenntnis: „Ich hatte einst die Tatsache, daß ich Jude bin, vergöttert“, verwies auf den Ursprung. Der Buchtitel „Der eingebildete Jude“ war Diagnose. Solche Reflexionen sind amerikanisch-jüdischen Funktionären fremd. Ihre Geschäftsgrundlage ist der Völkermord. So nannte Menachem Rosensaft, der Gründer des „Internationalen Netzwerkes der Kinder jüdischer Holocaust-Überlebender“, den Holocaust eine „Quelle der Stärke (und) einzigartigen Identität“. Noch penetranter formuliert Rabbi Marvin hier vom Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles: „Für uns ist jede Nacht Kristallnacht.“ Die Shoah als Quelle jüdischer Identität erzeugt allemal wallende Emotionen. Tatsächlich aber führt dieser Weg zur Ignoranz gegenüber hergebrachten jüdischen Werten und Traditionen. Der Genozid war die schlimmste Katastrophe der hebräischen Geschichte - eine eigenständige jüdische Leistung war er nicht. Wer den Völkermord in den Mittelpunkt jüdischen Bewußtseins stellt, erhebt damit konsequent Adolf Hitler an Gottes Stelle zum Schöpfer jüdischer Identität: Das wäre der mentale Endsieg des Antisemitismus. Sechzig Jahre nach Auschwitz ist absehbar, daß die letzten Überlebenden bald ihre Augen schließen werden. Ihre Zeugnisse gerinnen zu Dokumenten. Allenthalben werden Gedenkstätten errichtet und ausgebaut. Sie sind notwendige Erinnerungsstücke. Ebenso wie entsprechende historische Darstellungen. Doch als Basis eines zukünftigen Judentums taugen diese Bausteine nicht. Ein lebendiges Judentum muß sich auf seine traditionell geschaffenen Werte besinnen. Glaube läßt sich nicht verordnen. Doch die Kenntnis der jüdischen Geschichte, der Überlieferung und Kultur ist unabdingbar, um hebräisches Dasein zu rechtfertigen. Deutschland besitzt eine mehr als 1600 Jahre lange jüdische Geschichte, die von der deutschen Historie nicht zu trennen ist. Das zionistische Manifest „Der Judenstaat“ wurde in deutscher Sprache verfaßt. Der geborene Jude Heinrich Heine wurde zum deutschen Nationaldichter. Der später ermordete Walther Rathenau organisierte die deutsche Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg. Sein Cousin, der Sezessionsmaler Max Liebermann, war Präsident der Preußischen Akademie der Künste. Auch wenn sie diskriminiert und verfolgt wurden, waren die Juden stets Teil der deutschen Gesellschaft. Wer sie zur Opfergemeinschaft reduziert, beraubt sie ihres Wertes und ihrer Existenz. Für eine Renaissance des deutschen Judentums nach Auschwitz braucht es mehr als einer zentralen Gedenkstätte und Klezmermusik. Der Weg in die Zukunft beginnt für Juden wie Nichtjuden mit dem Kennenlernen der eigenen Geschichte. Sie darf nicht bei Auschwitz stehenbleiben, und Streit ist unvermeidlich. Doch bitte so lebendig und erleuchtend wie in der Judenschul.   
Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 23.01.2005, Nr. 3 / Seite 2:
Gastkommentar  Raffael Seligmann; der Verfasser lebt als Schriftsteller in Berlin