Zwei weitere Männer

Bremen/Berlin/Kandahar/Guantánamo (Eigener Bericht) - Schwere Vorwürfe des ehemaligen US-Lagerhäftlings Murat Kurnaz gegen mehrere deutsche Regierungsstellen bleiben undementiert. Beschwerden oder Forderungen nach Gegendarstellungen zu dem am 24. 5. veröffentlichten Leidensbericht des im Sommer 2006 freigekommenen Bremers seien bislang nicht eingetroffen, bestätigt ein Sprecher der Rowohlt-Verlags, in dem das Buch erschienen ist. »Wir äußern uns dazu nicht«, heißt es auf Anfrage in Bundesministerien. Wie aus Kurnaz' Darstellungen hervorgeht, hatten US-Verhörspezialisten bereits bei seinen ersten Foltervernehmungen im afghanischen Kandahar genaue Kenntnisse über sein deutsches Lebensumfeld zur Verfügung. Deutsche Geheimdienstbeamte suchten die Lage des in Guantánamo Misshandelten zu nutzen, um ihn zur Zuarbeit für die deutsche Inlandsspionage zu bewegen. Einheiten der Bundeswehr bewachten ein Geheimgefängnis, in dem US-Militärs Gefangene zu Tode folterten. Kurnaz zufolge werden mindestens zwei weitere in Deutschland ansässige Personen im US-Lager Guantánamo festgehalten.

Fünf Tage aufgehängt
In einem erschütternden Bericht schildert der Bremer Murat Kurnaz die Qualen, denen er und zahlreiche weitere Inhaftierte in mehreren US-Internierungslagern ausgesetzt waren und teilweise heute noch sind. Die Misshandlungen durch US-Militärs reichen demnach von religiösen und sexuellen Demütigungen über physische Attacken durch mangelhafte Versorgung, Schlafentzug, Kälte, Hitze, Lärm, Schläge, Tritte und Stromstöße bis hin zu Verstümmelungen und Amputationen. Bei Verhören greifen die amerikanischen Streitkräfte auf ein Arsenal von Foltertechniken zurück, das aus zahlreichen Diktaturen des 20. Jahrhunderts bekannt ist. Eine der bekannteren Methoden besteht darin, Gefangene an den Händen aufzuhängen. Kurnaz hing, mit Handschellen befestigt, fünf Tage an der Decke eines unbeheizten Flugzeugschuppens - zum Jahreswechsel 2001/2002, im afghanischen Winter. Sein körperlicher Zustand wurde von Militärärzten sorgfältig protokolliert.
 
Zu Tode gefoltert
Nicht alle Gefangenen überlebten die Misshandlungen. Kurnaz selbst hat ein Todesopfer der Hängefolter gesehen und musste beobachten, wie US-Soldaten einen Mithäftling mit Tritten traktierten, bis er starb. Die Vorfälle datieren aus der Zeit, als er selbst im US-Geheimgefängnis im südafghanischen Kandahar festgehalten wurde - Ende 2001 und Anfang 2002. Genau während dieses Zeitraums, am 15. Dezember 2001, traf ein Vorauskommando der deutschen Eliteeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) in Afghanistan ein. Zu seinen Aufgaben gehörte die Bewachung des Geheimgefängnisses, in dem die amerikanischen Streitkräfte Lagerinsassen ums Leben brachten. Kurnaz dokumentiert in seinem Bericht ausführlich seine Misshandlung durch KSK-Soldaten. Demnach hat einer von ihnen den Kopf des Bremers auf den Boden geschlagen und auf ihn eingetreten. Ein anderer benutzte Köpfe von Gefangenen anschließend als Zielscheibe für Zielübungen mit seiner Maschinenpistole. [1]
 
Schon beim ersten Verhör
Wie Kurnaz bemerkt, verfügten die US-Militärs bereits während seines ersten Folterverhörs im Dezember über detaillierte Kenntnisse seines deutschen Lebensumfelds, obwohl das Bundeskriminalamt behauptet, polizeiliche Ermittlungsdaten erst am 18. Januar 2002, mehrere Wochen nach der Erstvernehmung, weitergeleitet zu haben. Dazu gehörten neben den Namen und Telefonnummern von Freunden und Bekannten auch persönliche Angaben, die nur mit Genehmigung eines Richters ermittelt werden können: Bankverbindungen und Kontobewegungen. Die deutschen Behörden sind bis heute nicht in der Lage zu erklären, wie die Daten schon zum Zeitpunkt der ersten Verhöre in die Hände der Folterer kommen konnten.
 
Anwerbeversuch
In seinem Bericht schildert Kurnaz ausführlich die deutsch-amerikanische Verhörkooperation nach seiner Verlegung in das US-Folterlager Guantánamo. Demnach ignorierten zwei Mitarbeiter des Auslandsgeheimdienstes (BND) und ein Beamter der Inlandsspionage (Verfassungsschutz) bei einer zwölf Stunden währenden Vernehmung am 23./24. 9. 2002 seine Hinweise auf die erlittene Folter und forschten ihn stattdessen über sein früheres Bremer Umfeld aus. Kurnaz dokumentiert ausführlich einen Anwerbeversuch durch die drei Deutschen. »(W)ir hätten eventuell einen V-Mann, der dich täglich oder zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten treffen würde , beschrieben die Geheimdienstbeamten dem Gefangenen die ihm angebotene Tätigkeit. [2]
 
Sabotage
Wie die rot-grüne Bundesregierung Kurnaz' Befreiung aus seiner Folterhaft systematisch sabotierte, obwohl Washington offenbar entsprechende Angebote machte, ist inzwischen mit zahlreichen Papieren belegt. »Die Frage der Zulassung der Wiedereinreise von Kurnaz war laut Bundesinnenministerium und dem Chef des Bundeskanzleramts (Steinmeier, d.Red.) bereits mehrfach Gegenstand der nachrichtendienstlichen Lage«, heißt es etwa in einem Aktenvermerk des Auswärtigen Amts aus den letzten Tagen der Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die »nachrichtendienstliche Lage « ist eine regelmäßige Zusammenkunft der deutschen Geheimdienstspitzen mit dem Chef des Bundeskanzleramts. Dort sei auch, heißt es weiter, »mit dem Auswärtigen Amt Übereinstimmung erzielt worden, eine Wiedereinreise des K. nicht zuzulassen.« [3] Amtschef war damals Josef Fischer (Bündnis 90/Die Grünen).
 
Aus Deutschland
Kurnaz zufolge wurden während seiner Gefangenschaft mindestens zwei weitere Männer in Guantánamo festgehalten, »die aus Deutschland kamen «. Über eventuelle Aktivitäten der Berliner Regierung mit dem Ziel, ihre Freilassung zu erreichen, liegen keine Angaben vor.
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[1], [2] Murat Kurnaz: Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantánamo, Berlin 2007
[3] Chronik, in: Murat Kurnaz: Fünf Jahre meines Lebens, S. 259-275
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/56819 vom 25. 4. 2007