Vernetzte Sicherheit - Richtige Antwort auf aktuelle Bedrohungen? Von Ulrich Schlüer

Unerwünschte Strategie-Diskussion - Die Diskussion einer unserem Land Sicherheit gewährleistenden Strategie hatte sich in den letzten zwei Jahrzehnten mit einem Schattendasein zu begnügen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden Ideen, wie sie der amerikanische Historiker Francis Fukuyama mit dem angeblichen «Ende der Geschichte» am profiliertesten präsentierte, vorschnell und dankbar aufgenommen: Seine Endzeit-Theorie, den endgültigen Durchbruch der demokratischen Idee ins Zentrum stellend, wurde als Vorwand genutzt, sich angesichts einer offensichtlich unübersichtlicher gewordenen Entwicklung der Weltpolitik selbst nicht mehr lange mit Lagebeurteilung und Bedrohungsanalyse herumschlagen zu müssen.

Auch in der Schweiz versteifte man sich in den Neunzigerjahren auf die vorweggenommene Schlussfolgerung, in der am «Ende der Geschichte» angelangten Welt von heute sei die Ausformulierung einer eigenständigen, auf einer auf unser Land ausgerichteten sicherheitspolitischen Lagebeurteilung und Sicherheitsstrategie fusssenden Doktrin für die Armee nicht mehr erforderlich. Eine Schlussfolgerung, die sich rasch als verhängnisvolle Fehlbeurteilung erweisen sollte, die bis heute gravierende negative Auswirkungen zeitigt. In einer Demokratie, gar in einer direkten Demokratie, auf eine plausible politische Begründung für die Aufrechterhaltung einer eigenen Armee und eigenständiger Wehranstrengungen verzichten zu wollen, mündet zwangsläufig in die Erosion von Glaubwürdigkeit - und damit des Fundaments unserer Arme - in unserer Bevölkerung. Wer eine Armee für das eigene Land als notwendig erachtet, muss die Unverzichtbarkeit dieses zweifellos teuren Instruments der eigenen Bevölkerung gegenüber begründen können - immer: buchstäblich zu jedem Zeitpunkt. Die Armee im Zeitgeist-Jargon bloss noch als «Sicherheits-Dienstleisterin» zu etikettieren, die für allerlei «Kunden» Dienstleistungen zu erbringen in der Lage sei, wird sich als glaubwürdige Begründung nie durchsetzen können. Die Armee ist nicht etwas Beliebiges. Sie kann nur als das von dem auf seine Freiheit pochenden Bürger anerkannte und in der Demokratie mitgetragene Instrument, das dem Staat, der Gemeinschaft der Bürger auf der Grundlage des staatlichen Gewaltmonopols in letzter Konsequenz die Existenz zu sichern hat, bestehen. Die Armee verteidigt die Freiheit der Bürger und die Unabhängigkeit des Landes. Zu diesem Zweck wurde sie geschaffen. Zu diesem Zweck wird sie aufrechterhalten und alimentiert. Die Gefahren, die Bedrohungen haben sich im Lauf der Zeit immer wieder verändert, heute gegenüber der Zeit des Kalten Krieges sogar gravierend verändert. Aber der Auftrag des Souveräns an die Armee ist der gleiche geblieben.

Die Welt bleibt unfriedlich
Mag die Zeit der grossen Panzerschlachten zumindest für Europa abgelaufen sein, mögen schwere Artilleriefernduelle in Europa der Vergangenheit angehören, mag der Zusammenprall von Massenheeren auf Schlachtfeldern unrealistisch geworden sein, so ist die Welt, obwohl die grossen Potentiale zur Kriegführung mit schweren Waffen unsichtbarer geworden sind, kaum friedlicher geworden. Die Öffentlichkeit wird mit den neuen, die Gewaltkonflikte der heutigen Zeit kernzeichnenden Formen kriegerischer Auseinandersetzungen täglich konfrontiert. Dass das Massaker die grosse Feldschlacht abgelöst hat, sieht der Medienkonsument Abend für Abend. Der Medien-Zuschauer weiss durchaus, dass die Methoden der neuen, der asymmetrischen, mit terroristischen Mitteln operierenden Kriegführung im Grunde jeden sozusagen jederzeit treffen können, wo immer diese auf dem Erdball brutale Wirklichkeit wird. Er vertraut lediglich auf die Wahrscheinlichkeit, sich im entscheidenden Moment selbst nicht gerade am Zielpunkt eines blutigen Anschlags aufzuhalten. Darüber hinaus meldet der Bürger Forderungen an den Staat, den Inhaber des Gewaltmonopols an: Dieser habe mit den ihm zur Erfüllung der Sicherheitsbedürfnisse anvertrauten Geldern das Menschenmögliche vorzukehren, auf dass das Allerschlimmste von unserem Land abgehalten und die Sicherheitsbedürfnisse der Öffentlichkeit hinreichend erfüllt werde.

Das Ende des Interventionismus
Nachdem die Strategie-Diskussion nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ins Abseits manövriert worden ist, erscheint es als unumgänglich, einige Veränderungen der strategischen Lage, die die Schweiz stark beeinflussen, hier anzuführen. Die Zahl derer, die noch an einen für die USA siegreich endenden Waffengang im Irak glauben, ist äusserst klein geworden. Durchhalteparolen aus dem Pentagon, dieser Krieg dürfe «nicht verloren gehen», stempeln die Irakintervention zum Rückzugsgefecht. Gleichzeitig erweisen sich auch die kriegerischen Handlungen in Afghanistan als für den Westen immer verlustreicher. Auch dort wird die Situation für die Interventionskräfte aus dem Westen zunehmend unbeherrschbar. Dabei ist klar: Wer einen Waffengang «als nicht mehr gewinnbar» erklärt, gibt ihn, wenn auch nicht öffentlich, verloren. Die Gegner im «US-Krieg gegen den Terror» vermochten der USA eine Kriegführung aufzuzwingen, die Sieg nicht mehr gestattet. Sie verfolgten eine gleichzeitig einfache wie raffinierte Strategie: Nach dem spektakulären, die Welt erschütternden Volltreffer am 11. September 2001 hat Al Kaida zwar immer wieder angedroht, aber nie mehr ernsthaft versucht, den Hauptgegner USA noch einmal direkt zu treffen. Unter Anwendung terroristischer, psychologisch grosse Wirkung erzielender Methoden trafen sie statt dessen zunächst die Spanier umso wirksamer. Diese verabschiedeten sich darauf innert weniger Tage aus der «Allianz der Willigen». In gleicher Weise und mit gleichem Ergebnis setzten die Islamisten danach den Italienern zu. Selbst die Engländer wurden mit Terror mürbe gemacht - die britische Absetzbewegung aus dem Irak ist eingeleitet. Die USA steht als Kriegführende zunehmend allein da. Und das hat drastische Auswirkungen: Die USA musste sich vor wenigen Tagen als nicht mehr in der Lage erklären, ihren Beitrag zu der von ihnen am nachhaltigsten geforderten und geförderten «schnellen Eingreiftruppe» der Nato zu leisten. Die Preisgabe, der Zerfall dieses Konzepts steht offenbar bevor. Die asymmetrische Strategie der Al Kaida hat die US-Strategie des weltweiten Interventionismus zur Makulatur verkommen lassen. Schätzte die Welt die USA noch vor fünf Jahren als einzige Macht ein, die militärische Aktionen weltumspannend umzusetzen in der Lage sei, so ist diese imperiale Fähigkeit der USA inzwischen offensichtlich zu Ende gegangen. Dass eine westliche Werte repräsentierende «Staatengemeinschaft» nach dem faktischen «Ende der Geschichte» nur mit einigen wenigen verbliebenen Schurken auf dieser Welt noch aufzuräumen habe, bis der Sieg der westlichen Demokratie endgültig sei - dieser in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gleichsam als verbindlich erklärte Traum ist ausgeträumt. Die asymmetrische Kriegführung der Islamisten erwies sich - so beunruhigend das auch ist - als den mit modernster Technologie und modernsten Waffensystemen ausgerüsteten US-Streitkräften und ihren Verbündeten überlegen. Die Islamisten erreichten ihnen wichtige Kriegsziele, die Staatengemeinschaft unter US-Führung erreichte sie nicht.

Der Terror ändert sein Gewicht
Dabei wurden die US-Streitkräfte nie in offener Feldschlacht geschlagen. Sie wurden, indem Verbündete mit begrenzten, aber zielgenau eingesetzten Mitteln zum Ausscheiden aus der «Allianz der Willigen» veranlasst werden konnten, nicht im Herzen, wohl aber an der Achillesferse getroffen: Die USA ist mit einer Überdehnung ihres militärischen Engagements konfrontiert, die das Halten der erreichten Position ernsthaft in Frage stellt. Es wäre fahrlässig, der schweizerischen Bevölkerung gegenüber diese Fakten nicht beim Namen zu nennen. Und auch die Konsequenzen aus diesen Tatsachen zu zeigen. Deutschland hat im jüngsten Verfassungsschutzbericht diese Konsequenzen angesprochen, indem es zum Ausdruck brachte, dass diejenigen Länder, die als Verbündete im Schlepptau von USA und NATO an Interventionen in islamischen Ländern beteiligt sind, bezüglich der Terroranschläge am gefährdetsten sind. Seit Deutschland Kräfte der Bundeswehr in Afghanistan einsetze, sagt dieser Bericht in der Einleitung zum Islam-Kapitel, sei die BRD nicht mehr Rückzugsgebiet für islamistische Terroristen, sondern Operationsgebiet. Die Terrorgefahr habe sich für Deutschland dementsprechend vergrössert. Und schon macht Deutschland Erfahrungen, die bereits Regierungen anderer europäischer Staaten, insbesondere Frankreichs und Englands, aufs höchste alarmieren. Die Täterschaft des islamistischen Terrorismus hat sich auf beunruhigende Weise verändert: Nicht mehr die Araber treten als Täter in Erscheinung, sondern zunehmend aus Einheimischen rekrutierte Konvertiten, von denen Einzelne einen besonders fanatischen Hass auf die westliche Wohlstandszivilisation zu entwickeln scheinen. Auch Einwanderer der zweiten und dritten Generation, von denen man bis vor kurzem noch eine rasche und umfassende Integration sozusagen von selbst erwartet hatte, werden zu einem Reservoir, aus dem islamistische Extremisten offensichtlich Nachwuchs zu rekrutieren fähig sind. Dass solche Täterschaft die Sicherheitskräfte vor eine ganz besondere, äusserst schwierig zu meisternde Herausforderung stellt, ist mit Händen zu greifen.

Die Antwort der Schweiz
Was heisst das für die Schweiz? Es heisst zweierlei: In aussenpolitischer Hinsicht erfährt die Politik strikter Neutralität, die Politik einer bewussten und überlegten Nichteinmischung in Konflikte irgendwo auf der Welt - also eine Politik, die vor allem zu vermeiden sucht, dass das eigene Land fahrlässig und ungewollt in weltpolitische Konflikte mit unabsehbarem Eskalationsrisiko hineingezogen wird - um der Sicherheit der Schweiz und ihrer Bewohner willen eine Renaissance. Dabei ist Neutralität natürlich keine Lebensversicherung. Neutralität gewährt der Schweiz keine hundertprozentige Garantie vor Schlägen asymmetrischer Kriegführung. Aber überlegte Neutralitätspolitik vermindert das Risiko - so wie überlegte Neutralitätspolitik auch in gefährlichen Phasen der Vergangenheit nur die Risiken zu mindern, nie aber den Hauptfeind zu beseitigen vermochte. Aber es gelang damit, den erkannten Hauptfeind davon abzuhalten, massive Kräfte gegen die Schweiz in Bewegung zu setzen. Insofern wird glaubwürdige Neutralitätspolitik heute von gleichen oder zumindest gleichartigen Überlegungen diktiert wie gestern und vorgestern. Sicherheitspolitisch ist endlich anzuerkennen, dass strikte Abgrenzung von innerer und äusserer Sicherheit heutzutage nicht mehr bedrohungsgerecht ist - eine oft beschworene Binsenwahrheit, die aber allzu selten auf ihre konkreten Konsequenzen durchdacht wird. Wenn die stärkste, durch zwei Ozeane geschützte Macht der Welt am Sitz ihres Verteidigungsministeriums, also in ihrem militärischen Gehirn, einen Volltreffer hinnehmen muss, dann ist das eine drastische Illustration der Tatsache, dass Waffengänge nicht mehr an Landesgrenzen stattfinden. Der Ruf nach Vernetzung der vorhandenen Sicherheitsinstrumente, der Ruf insbesondere nach enger bedrohungsgerechter Zusammenarbeit von Militär, Polizei und Grenzschutz erweist sich daher als wichtig und richtig. Diese Zusammenarbeit ist zu konkretisieren. Gefährdet sind in der Schweiz nicht Grenzabschnitte, auch wenn Grenzschutz zur Abwehr böswilliger Infiltration wichtig bleiben dürfte. Die Kriegsschauplätze von heute befinden sich indessen in den Städten. Dort finden sich jene spektakulären Ziele, welche die Strategen der asymmetrischen Kriegführung zur Erzielung der von ihnen gesuchten massenpsychologischen Effekte ins Visier nehmen. Überfällig ist in der Schweiz die Erarbeitung einer umfassenden Gefährdungsanalyse, die erstens gefährdete Ziele als solche erfasst und zweitens sorgfältige Überlegungen anstellt und gegebenenfalls Massnahmen entwirft, wie offensichtliche Gefährdungen im Einzelfall entschärft werden können.

Vernetzte Sicherheit in überbautem Gebiet
Als Herausgeber einer Zeitung, die sich seit nunmehr drei Jahrzehnten intensiv mit Fragen sowohl der nationalen als auch der internationalen, zunehmend aber auch der national und international vernetzten Sicherheit auseinandersetzt, hatten wir in den siebziger Jahren im bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauss einen besonders aufmerksamen Leser, mit dem mehrfach auch direkter Gedankenaustausch möglich war. Seine hohe Meinung von den Sicherheitsanstrengungen der Schweiz ist mir im Gedächtnis geblieben. Strauss - auf damals im Gebrauch stehende Armeefilme verweisend - bewunderte die Schweiz, weil die Bevölkerung hier mit Hilfe realistischer Filme wahrheitsgetreu aufgeklärt würde, was für Feuerhöllen Flächenbombardements gegen Städte entfachen würden - etwas, das deutschem Publikum nach dem Zweiten Weltkrieg nie hätte gezeigt werden können. Ein Land, das seiner Bevölkerung die ungeschminkte Wahrheit über die Wirkungen moderner Waffen vermittle, schätze er als besonders stark ein, weil die Bevölkerung in einem solchen Land auch gegen harte Schläge weit mehr Resistenz entwickle, von deren konkreter Wirkungskraft man andern Völkern nicht einmal Andeutungen machen könne. Natürlich, die Zeiten haben sich geändert. Trotzdem stellt sich die Frage: Würde Franz Josef Strauss den Sicherheitsanstrengungen der Schweiz heute die gleiche Qualität attestieren, wie er sie ihr in den letzten Jahren des Kalten Kriegs attestiert hat? 

Heute müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass auch die Schweiz No-Go-Areas für die Sicherheitskräfte kennt, was der 6. Oktober mit drastischer Deutlichkeit einer weiten Öffentlichkeit vor Augen geführt hat. Rechtsfreie Zonen, zu denen den Polizeikräften der Zugang verwehrt ist. Die Reithalle - sie liegt in der Bundeshauptstadt - ist ein Zentrum, von dem aus ungestraft und unbehelligt Unruhen organisiert, alimentiert, inszeniert werden können, wohin sich Unruhestifter, selbst schwere Gewalttäter in Sicherheit bringen können, ohne dass ihnen von Seiten der öffentlichen Ordnungskräfte ein Haar gekrümmt werden kann. Weil diesen Ordnungskräften gemäss Entscheid der für die Sicherheit Berns verantwortlichen Behörde der Zugang zur Reithalle verwehrt ist. Glaubt jemand, dass solche Tatsachen sich möglicherweise in unserem Land aufhaltenden Kräften, die allenfalls nach Ansätzen für die Realisierung von Anschlägen suchen, verborgen bleiben? Glaubt jemand, die faktische, von den Behörden angeordnete Existenz «rechtsfreier Räume» würde ausgerechnet von jenen übersehen, welche sich professionell mit den asymmetrischen Methoden moderner Kriegführung als Planer beschäftigen? Getrauen sich unsere Behörden, derartige Tatsachen, die eine unsere Sicherheit gefährdende asymmetrische Kriegführung gegen unser Land zweifellos begünstigen, der Öffentlichkeit wenigstens mitzuteilen? Also offen einzugestehen, dass mögliche Drahtzieher von Anschlägen vor einer Tat nicht erst über eine Landesgrenze infiltrieren müssen, weil sie längst im Lande sind? Es geht mit dieser Frage nicht darum, den Teufel an die Wand zu malen. Aber es geht darum, zu fragen, ob die heutigen Behörden die faktische Sicherheitslage der Bevölkerung im Blick auf die Bedrohung durch asymmetrische Kriegführung ebenso ehrlich vermitteln wie zu der Zeit, als Franz Josef Strauss die Bereitschaft der Schweizer Regierung zur ungeschminkten Wahrheit der Bevölkerung gegenüber nachdrücklich gewürdigt hat? Politische Verantwortungsträger, die entweder die Augen vor der Realität verschliessen oder eine unerfreuliche Realität vor der Bevölkerung schönzureden versuchen, stellen im Zeitalter der asymmetrischen Kriegführung jedenfalls ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar - ob sie sich ihres Tun nun voll bewusst sind oder nicht. Es geht, wenn wir dies feststellen, nicht, oder zumindest nicht nur um Schuldzuweisung. Es geht vor allem um eine realistische Lagebeurteilung.

Moderne Elektronik im Sicherheitsverbund
Moderne Elektronik, moderne Führungs- und Aufklärungstechnologie spielt im Sicherheitsverbund von heute eine zunehmend tragende Rolle. Diese Mittel sind ebenso wie ihre weitere Entwicklung, Abstimmung und Perfektionierung unverzichtbar. Sie liefern, richtig eingesetzt, der Führung ein Ganzes an Information, das lagegerechtes Entscheiden markant erleichtern und damit verbessern kann. Allerdings: Hightech allein ist noch kein Konzept, keine Strategie. Hightech-Geräte sind Hilfsmittel, die der Führung Planung und Durchführung erfolgreicher Einsätze ermöglichen müssen. Hightech kann aber weder den Mut zur Wahrheit noch den Willen zur Erbringung von Leistung in schwierigem Umfeld ersetzen. Ohne Führungswillen, ohne Führungskompetenz, ohne Entscheidungsmut der Verantwortlichen nützt auch die ausgeklügeltste Elektronik wenig. Führungswille und Führungskompetenz bleiben auch in der modernen Armee unersetzbar. Vernachlässigung des Sicherheitsauftrags - etwa durch das bewusste Übersehen von politisch schöngeredeten «rechtsfreien Räumen» - kann durch Hightech-Einsatz nie kompensiert werden. Wer Wahrheit vertuscht, kann die daraus entstehenden Mängel im Dispositiv nie und nimmer durch Elektronik ausgleichen. Die Elektronik nimmt der Führung auch nicht die Aufgabe ab, eine komplexer gewordene sicherheitspolitische Lage richtig zu beurteilen. Sie bietet jedoch, richtig angewendet, exzellente Entscheidungshilfen - den Entscheid selbst aber nimmt sie niemandem ab. Bedrohungsgerechtes Handeln ist ohne eine richtige, vom beurteilenden Menschen erarbeitete Lageanalyse nicht möglich, gerade auch heute nicht, da die politische Situation zweifellos diffuser ist als zur Zeit des Kalten Krieges. Die im Ernstfall einsetzbaren Mittel waren in der Vergangenheit immer begrenzt, sind dies in Gegenwart und werden es auch in Zukunft sein. Die Fähigkeit des Strategen, die wirkliche Gefahr im entscheidenden Moment mit zwar begrenzten, aber richtig eingesetzten Mitteln zu bannen oder abzuwehren, diese Fähigkeit ist im Jahr 2007 so unabdingbar, wie sie das in den Jahren 1955, 1940 und 1914 war. Auf Führung, Führungsfähigkeit, Führungskompetenz kann keine Armee verzichten. Fehlt sie, ist der Untergang programmiert. Gerade im Blick auf die Welt von heute ist auch unvoreingenommen festzustellen: Jene Mächte, die bezüglich Kriegstechnologie an der Spitze der Entwicklung stehen, sind offenkundig mit Misserfolgen konfrontiert. Die USA erreicht weder im Irak noch in Afghanistan ihre Befriedungsziele. Besonders alarmieren muss, dass es der weltweit als am leistungsfähigsten eingeschätzten israelischen Hightech-Armee letztes Jahr nicht gelungen ist, die Hizbollah im Libanon entscheidend zu schlagen. Wer - und dies erscheint uns als unverzichtbar - Elektronik für die Gewährleistung der eigenen Sicherheit und zur erfolgversprechenden Vernetzung der eigenen Sicherheitsinstrumente nutzen will, muss die Gründe des ausbleibenden Erfolgs im Irak, in Afghanistan, im Libanon, mit aller denkbaren Sorgfalt studieren und finden. Vorschnelle Antworten nach dem Muster, die Israeli seien eben zu arrogant gewesen, genügen gewiss nicht. Nicht das Ja oder Nein zur Elektronik in der Armee von heute steht zur Diskussion, wohl aber die unverzichtbare Optimierung der Nutzung vorhandener und in Entstehung begriffener Elektronik, also die Erreichung maximaler Führungskompetenz auf der Grundlage der dank Elektronik weit verbesserten Nachrichtenlage und vervielfachten Einsatzmöglichkeiten der eigenen Mittel.

Vernetzte Sicherheit: Widersprüche
Einerseits ist klar: Sture Abgrenzung von äusserer und innerer Sicherheit wäre heute nicht mehr bedrohungsgerecht. Dass solche Abgrenzung nicht mehr möglich ist, verwischt aber auch die früher klare Trennung der Aufgabenbereiche von Polizei, Militär und Grenzschutz. Klar ist andererseits freilich auch: Der Souverän hält bis heute an der kantonalen Polizeihoheit fest. Das Konzept, wonach erkennbaren Verantwortungsträgern in klar abgegrenzten Räumen konkrete Verantwortung sichtbar zugewiesen wird, leistete in der Schweiz bis heute einen ganz wesentlichen Beitrag zur Gewährleistung der Sicherheit. Eine Erkenntnis, die in der breiten Bevölkerung verwurzelt ist, von der die Bevölkerung nicht lassen will. An diesem Eckpfeiler des Schweizer Sicherheitsdispositivs scheiterte seinerzeit die Idee «Busipo». Dieser Eckpfeiler bildet gleichzeitig auch das Fundament der kantonalen Polizeihoheit. Dennoch: Der jetzige Zustand kann nicht einfach sich selber überlassen werden. Es war richtig, dass auf die Initiative des VBS hin in teilweise grossangelegten Übungen im Verlauf der letzten Jahre mehrmals praktisch erprobt wurde, wie Sicherheitsbedürfnisse, die sich aus aktuellen Bedrohungslagen ergeben, angemessen erfüllt werden können. Dabei soll grundsätzlich jede denkbare Möglichkeit, jedes dankbare Szenarium zum Beüben freigegeben werden. Und zum Aushecken möglichst komplexer, möglichst wirklichkeitsnaher Übungen sollen die besten Köpfe aufgeboten werden. Die bis heute durchgeführten Übungen zeitigten - aus der Warte der Politik beurteilt - zweifellos auch gute, auswertbare Resultate. Fällig ist jetzt, gerade auch um die oft geforderte Vernetzung der Sicherheitsorgane zu testen, dass auch Gesamtverteidigungsübungen wieder angeordnet werden. Solche sind im Blick auf die Bedrohungslage zeitgemässer denn je. Zu beüben ist dabei auch die Staatsleitung selbst - der Bundesrat, die Armeespitze, kantonale Regierungen usw.

Und allmählich ist auch der Zeitpunkt gekommen, die gesetzgeberischen Konsequenzen aus den gewonnenen Erfahrungen zu ziehen, den Gesetzgebungsprozess für eine moderne bedrohungsgerechte Sicherheitsarchitektur für Bund, Kantone und Gemeinden, für die Schweiz und ihre Bevölkerung mit kantonalen und eidgenössischen Verantwortungsträgern anzupacken. Der Problematik angemessen wäre es dabei, zumindest für die Startphase die bewährten disziplinierenden Lageabstufungen beizubehalten - der Absturz von Usis nach mutwilliger Aufhebung jeglicher Denkordnung ruft wahrhaftig nicht nach Wiederholung. Dass die ordentliche, also die alltägliche Sicherheitslage durch die Kräfte der kantonalen und in Konkordaten organisierten Polizei bewältigt werden soll, bestreitet im Ernst ja niemand. Dass für besondere Situationen, also für voraussehbar erhöhte Sicherheitsleistungen auslösende Grossereignisse wie WEF, Euro 08 usw., ein Assistenzdienst durch die Armee unausweichlich ist, wobei die Führungsverantwortung, von Aufgaben wie Luftschirm-Gewährleistung einmal abgesehen, bei kantonalen Stellen bleiben soll, scheint auch nicht ernsthaft in Frage gestellt. Um so sorgfältiger kann man sich auf den Knackpunkt «ausserordentliche Lage» konzentrieren, die in Gestalt grosser Naturkatastrophen ebenso wie als Folge kriegerischer oder kriegsähnlicher Tragödien überfallartig eintreten kann. Für Ereignisse solcher Dimension ist die Frage praxistauglicher Führungsverantwortung und Kommandogewalt noch nicht zufriedenstellend beantwortet - weil solche Ereignisse selten die Gefälligkeit besitzen, auf den Zeitbedarf für bürokratische Abläufe von Gesuchstellung bis Einsatzbefehl Rücksicht zu nehmen. Auf dieser Ebene müssen offene Fragen bald zur Beschlussfassungsreife geführt werden. Die Bedrohungslage und das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung verlangen danach.

Quelle: «Schweizerzeit» vom 2. 11. 2007