Kein Grund zum Feiern - Von Rüdiger Göbel

Seit gut einer Woche feiert Israel seine Staatsgründung vor 60 Jahren. Am Abend des 14. 5. würdigte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in einem Festakt in der Frankfurter Paulskirche die Besatzungsmacht als »die einzige funktionierende Demokratie« im Nahen Osten; US-Präsident George W. Bush gratulierte mit einer Rede in der Knesset in Jerusalem. Weitgehend unbeachtet von den großen Medien zogen am 15. Mai im Westjordanland und im Gazastreifen Zehntausende Palästinenser durch die Straßen und gedachten der »Nakba«, ihrer nationalen Katastrophe.

Sirenen heulten in Erinnerung an die Massenvertreibung vor sechs Jahrzehnten. Mehr als 700’000 Palästinenser hatten 1948 aus ihrer Heimat fliehen müssen, Hunderte wurden seinerzeit ermordet. Über 500 palästinensische Ortschaften wurden im Rahmen der israelischen Staatsgründung entvölkert und zerstört, um eine Rückkehr der angestammten Bevölkerung unmöglich zu machen. Weite Teile ihres Landes wurden erobert und später von Israel annektiert. Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas sagte in einer Fernsehansprache, man begehe den Nakba-Tag, um an den »langen Kampf« der Palästinenser zu erinnern. Nur ein Ende der israelischen Besatzung könne Sicherheit für die Region bringen. Abbas kritisierte die Ausweitung zionistischer Siedlungen im Westjordanland und merkte an, es gebe »zwei Völker, eines, das seine Unabhängigkeit feiert, und eines, das seine Nakba erleidet«. Der vom Westen gestützte Präsident ohne Staat versicherte gleichwohl: »Unsere Hand ist immer noch zum Friedensschluß ausgestreckt.« Im Stadtzentrum Ramallahs ließen Palästinenser 22000 schwarze Luftballons steigen - einen für jeden Tag seit der israelischen Staatsgründung. Der stille Protest sollte den Himmel über dem nahe gelegenen Jerusalem verdunkeln. Im Gazastreifen protestierten Anhänger der Hamas an den blockierten Grenzübergängen gegen die anhaltende Abriegelung des Autonomiegebiets. Nach Polizeiangaben wurden drei Jugendliche verletzt, als israelische Soldaten mit Schüssen und Tränengas gegen die Menge vorgingen. Agenturberichten zufolge waren die Besatzer zuvor mit Steinen beworfen worden. US-Präsident Bush schließlich ging auf die Lage der Besetzten und Vertriebenen gleich gar nicht ein. In seiner Rede im israelischen Parlament am 15. Mai erwähnte er die Palästinenser lediglich am Rande bei einer »Zukunftsvision« für die gesamte Region. In sechs Jahrzehnten werde Israel, so schwärmte Bush, »eine der größten Demokratien der Welt« sein, eine »sichere und florierende Heimat für das jüdische Volk«. Die Palästinenser hätten dann die Heimat, von der sie lange geträumt hätten. Von Kairo und Riad bis Bagdad und Beirut würden die Menschen dann »in freien und unabhängigen Gesellschaften« leben.
 
Während die einen feiern, schreibt Vincenzo Rosso in  der jungen Welt 1, hungern die anderen, denn am 60. Gründungstag erreicht die Armut in Israel einen neuen Spitzenwert. Dem offiziellen Armutsbericht des National Insurance Institute für 2006 - 2007 zufolge beträgt die Zahl derjenigen, die unter der Armutsgrenze leben derzeit 167’4800 der 7,3 Millionen Staatsbürger, wozu 805’000 Kinder zählen, also jedes dritte Kind in Israel. Und die Zahlen der Armen steigen. Ein kürzlich von der Regierung veröffentlichter Bericht kam zu dem Ergebnis, dass 34 % der Israelis unter »Nahrungsunsicherheit« leiden. Am stärksten betroffen sind die ultra-orthodoxen Juden (52,6 %), Alleinerziehende (44,9 %), Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft (37,3 %) und alte Menschen (29,3 %). »Vielen Leuten gelingt es nicht, aus der Armut herauszukommen, obwohl sie arbeiten. Grund dafür ist der Anstieg der Mieten und der Kindergartengebühren sowie die steigenden Preise für Konsumgüter«, erklärt Bat Sheva, die Leiterin der »Ohavim«, die an der Peripherie von Tel Aviv Armenküchen, Kleiderkammern und Ähnliches betreibt. Inzwischen hat sich die Lage derart zugespitzt, dass die Dachorganisation zahlreicher Wohlfahrtsverbände, ›Latet‹, beim Obersten Gerichtshof eine Petition eingereicht hat, in der sie fordert, dass »der Staat die Verantwortung für die Essenausgabe an Bedürftige übernimmt«. Zugleich wird die »Privatisierung der Wohlfahrtdienste« angeprangert, »da die Last der Essenausgabe an mehr als 200000 Familien auf 200 gemeinnützige Organisationen und deren ehrenamtliche Helfer abgewälzt wird, ohne dass die Regierung sich in irgendeiner Weise daran beteiligt«. In einem »Todesursache Armut« betitelten Editorial gelangte die linksliberale Tageszeitung Haaretz am 2. Mai unter Bezug auf einen Bericht der Israel Medical Association (IMA) zu dem Fazit, dass »Armut in Israel (…) zur ersten Krankheits- und Todesursache geworden ist. Der Grund für die höhere Sterblichkeitsrate unter den Armen ist nicht der Mangel an medizinischen Diensten, sondern ihre sehr viel niedrigere Lebensqualität. Schlechte Behausungen, wenig Platz, mangelnde Heizung, schlechte Qualität der Nahrung, schlechte sanitäre Einrichtungen, psychologischer Druck, kein Geld, um einen Krankenwagen zu bezahlen - all das schafft signifikante Unterschiede, die sich weiter verschlimmern.« Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellte am 9. 5. 08 in ihrem Leitartikel zum 60. Jahrestag der Gründung des zionistischen Staates fest: »Da ist etwas faul im Staate Israel. Auch deshalb will keine rechte Freude über das Jubiläum aufkommen. (…) Da gibt es die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Vor allem die ultraorthodoxen Juden leben an der Armutsgrenze. Ihre Existenz basiert auf Almosen. (…) Auch die arabische Minderheit gehört zu den Armen.« Diese Tatsache sei gefährlich: »Immerhin ist jeder fünfte Israeli Araber. Die Armut in ihrer Mitte ist nicht nur ein soziales Problem. An diesen Arabern könnte das gesamte Modell des ›jüdisch-demokratischen‹ Staates zerbrechen.«
 
In diesem Zusammenhang ist auch ein Blick auf die im Gazastreifen lebenden Palästinenser geboten, deren Lage immer unerträglicher wird, da sowohl das Gesundheits- als auch das Bildungswesen ruiniert sind. Was die unvermindert anhaltende Blockade des Gazastreifens zur Folge hat, legte Gamal el Khoudary, ein unabhängiger Abgeordneter des Legislativrates der Palästinenser in Gaza und Präsident des Volkskomitees gegen die Belagerung, in einem Interview mit Werner Pirker von der jungen Welt 2 wie folgt dar:
 
 »Alle Grenzübergänge, die den Gazastreifen mit den umliegenden Regionen verbinden, sind gesperrt. 1,1 Millionen der rund anderthalb Millionen Einwohner sind Almosenempfänger, 60 % der Kinder und Jugendlichen, die 65 % der Gesamtbevölkerung ausmachen, leiden unter schwersten Mangelerscheinungen. Das Wirtschaftsleben liegt völlig danieder. 3900 Produktionseinrichtungen mussten dichtmachen. Von Palästinensern gekaufte Waren im Wert von 150 Millionen $ werden von den Israelis an der Grenze zurückgehalten. Israel ist als Macht über die palästinensischen Gebiete für alles verantwortlich, was mit den Menschen dort geschieht. Die internationale Staatengemeinschaft sollte Druck auf Israel ausüben, um die Belagerung endlich zu beenden.« Auf die Frage von Pirker, dass die Blockade von Israel und dem Westen damit gerechtfertigt werde, dass die Hamas eine terroristische Organisation sei, erklärte el Khoudary: »Die Blockade ist eine Art Kollektivstrafe. Ein ganzes Volk wird dafür bestraft, weil es sich bei der Wahl nach Ansicht der Besatzer für die falsche Partei entschieden hat.« Zur Zeit, so el Khoudary ferner, gibt es zwei Regierungen. Eine hat ihren Sitz in Gaza, die andere im Westjordanland. 39 der 132 Mitglieder des Palästinensischen Legislativrates sind zur Zeit im Gefängnis und können somit ihre Funktion nicht ausüben. Die Mitglieder des Legislativrates sind zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland aufgeteilt. Im Gazastreifen finden regelmässig Sitzungen des Gremiums statt, an denen ich auch teilnehme. Im Westjordanland hingegen finden keine Sitzungen statt. Diese Situation ist für das Land, wie Sie sich denken können, unerträglich. Daher ist die Wiederherstellung der nationalen Einheit die dringlichste Aufgabe. »Alle Palästinenser leiden unter der Okkupation, gleich, welcher politischen Fraktion sie angehören. Mein Ziel ist es, dass wir diese Fraktionen wieder an einen Tisch bekommen.«
 
Die Blockadepolitik der israelischen Regierung gegen den Gazastreifen, die der Bevölkerung den Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten immer schwerer macht, trifft auch schon Ungeborene und neugeborene Säuglinge, sagt Mohammed Omer aus Gaza-Stadt 3. »Viele Kinder kommen bereits mit einer Anämie auf die Welt«, so Dr. Salah Al-Rantisi, Leiter der Abteilung für Frauengesundheit im palästinensischen Gesundheitsministerium von Gaza. Die Frauen litten unter Anämie, da sie sich während der Schwangerschaft nicht ausreichend ernähren könnten. Verantwortlich dafür sei die israelische Blockade. Al-Rantisi leitet auch die Frauenklinik des Nasser-Hospitals, in der täglich 30 bis 40 Kinder geboren werden, von denen die meisten Symptome von Anämien aufweisen. »Frühgeborene mit lebensgefährlichem Untergewicht gehören zum Alltag der Hospitäler von Gaza«, fügt der Frauenarzt hinzu. Nach einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (UNRWA) des Jahres 2002 litten damals 19 % der Bevölkerung von Gaza an Anämien. Heute liegt die Zahl der Erkrankten laut UNRWA bei 77,5 %. Die Bevölkerung des Gazastreifens ist ärmer und deshalb stärker von diesen Problemen betroffen als die der Westbank. Aber auch von dort wird über Frauen berichtet, die ihre Kinder an den Grenzübergängen zur Welt bringen, weil sie von den israelischen Posten an der Weiterreise gehindert werden. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums werden im Gazastreifen pro Monat neun- bis zehntausend Kinder geboren. Auf tausend Geburten kommen 28 Totgeburten wegen Unterernährung, Anämie oder anderer Ursachen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Armut stehen. Wie Dr. Al-Rantisi weiter darlegt, gibt es »viele schwangere Frauen, die dringend Medikamente benötigten, die es aber in Gaza nicht gibt.« Und selbst wenn sie besorgt werden könnten, sei es den Familien meist nicht möglich, sie zu bezahlen, heisst es ferner. Die Weltbank gab im Monat April 2008 die Armutsquote für Gaza mit 67 % an, das Wirtschaftswachstum 2007 mit null. Währenddessen beabsichtigt Israel ungeachtet internationaler Appelle mit dem Siedlungsbau fortzufahren. In der Siedlung Betar Ilit im besetzten Westjordanland will Israel 280 neue Wohnungen bauen lassen. Betar Ilit ist mit 32.000 Menschen die drittgrösste israelische Kolonie in den Palästinensergebieten. Neue Siedlungsprojekte im Westjordanland hatten im übrigen den Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern in den vergangenen Monaten immer wieder ins Stocken gebracht. 
 
Anmerkung politonline d.a. Nun hat die EU-Rekordhilfe für Palästinenser laut einem Bericht der Basler Zeitung vom 19. 11. 07 die Milliardengrenze erreicht. Wegen eines Stopps der direkten Finanzhilfen an die Palästinenserregierung wurde ein grosser Teil der Hilfsgelder entweder direkt über Nichtregierungsorganisationen oder über die Weltbank ausgezahlt. Die Palästinenser wollen die internationale Gemeinschaft nun für die Jahre von 2008 bis 2010 um 5,5 Milliarden $ an Hilfe bitten. Rund 70 % der Summe sollen nach Angaben des palästinensischen Planungsministers Samir Abdullah in den Haushalt fliessen, 30 % für Entwicklungsprojekte verwendet werden. Abdullah betonte, das Geld werde nicht nur im Westjordanland ausgegeben, sondern auch im von der Hamas kontrollierten Gazastreifen. Abdullah erklärte, Geberländer hätten den Entwurf bereits begutachtet und sich positiv geäussert. Angesichts der laut UNO »grauenvollen und elenden« Lage der Menschen im Gazastreifen fragt man sich notgedrungen, auf welche Weise die Gelder verteilt wurden resp. werden, ob hier eine Kontrolle von Seiten der EU ausgeübt wird, und ob sie überhaupt dorthin fliessen, wo sie am dringendsten benötigt werden. Wie wir bereits des öfteren vermerkten, hat es sich mittlerweile zu einer eingeschliffenen Gangart entwickelt, die nirgendwo mehr Anstoss erregt, der Internationalen Gemeinschaft, den Steuerzahlern dieses Globus, die Rolle des nimmermüden Gebers zuzuschieben. Immerhin sind die Summen, die im Lauf der Jahre von der EU nach Palästina gingen, recht substantiell gewesen und sollten eigentlich verhindert haben, dass eine derartige Verschärfung der Lage eintreten konnte. Wie George W. Bush kürzlich vor der Knesset ankündigte - wobei er die Unterstützung Israels durch die USA bekräftigte - soll in sechzig (!) Jahren Frieden im Mittleren Osten herrschen.« Die Palästinenser hätten dann die Heimat, von der sie lange geträumt hätten. Man muss nicht unbedingt ein Zyniker sein, um sich zu fragen, wie gross diese sein soll und ob es zu diesem Zeitpunkt - sollten sich die Verhältnisse auf die aufgezeigte Art und Weise fortsetzen - überhaupt noch Palästinenser geben wird!   
 
http://www.jungewelt.de/2008/05-16/061.php 16.5.08
Kein Grund zum Feiern Von Rüdiger Göbel; Hervorhebungen durch politonine
1 http://www.jungewelt.de/2008/05-14/044.php
Die einen feiern, die anderen hungern - Am 60. Gründungstag erreicht die Armut in Israel einen neuen Spitzenwert Von Rosso Vincenzo
2 http://www.jungewelt.de/2008/05-22/057.php
»Die nationale Einheit ist vorrangig« - Im Gazastreifen wird die Lage für die Bevölkerung immer unerträglicher. Gesundheits- und Bildungswesen sind ruiniert. Ein Gespräch mit Gamal el Khoudary - Interview: Werner Pirker
3 http://www.jungewelt.de/2008/05-20/027.php
Krank auf die Welt Gaza: Die katastrophalen Folgen der israelischen Blockade für Säuglinge, Schwangere und Ungeborene. Die Armutsquote liegt bei 67 % Von Mohammed Omer, Gaza-Stadt
Siehe auch
http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=701
Zum Gedenken an Al-Nakba;
http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=902   
Das offene Schreiben von Margalit ist auf http://alsharq.blogspot.com/2008/03/dr-meir-margalit-zu-merkels-israel.html vom 26. März 2008 einsehbar; Dr. Margalit ist Historiker und Aktivist der israelischen Friedensbewegung und ehemaliges Stadtratsmitglied von Jerusalem; aus dem Hebräischen übersetzt von Benjamin Rosendahl
http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=832
Landnahme im grossen Stil - Von Pierre Heumann