Offenes Schreiben an Bundesrätin Calmy-Rey

Sehr geehrte Frau Bundesrätin, ich habe Ihren Beitrag in der Sonntagsausgabe der Berner Zeitung »Keiner schickt die beste Milchkuh gleich zum Metzger« mit Interesse gelesen und kann vieles unterschreiben. Allerdings habe ich da noch einige Fragen zu Ihren Ausführungen.

1. Sie sagen, wie wir von der Personenfreizügigkeit in wirtschaftlicher Hinsicht profitiert  hätten, weil EU-Bürger nun ohne Formalitäten bei uns arbeiten könnten, und dass wir auf ausländische Fachkräfte angewiesen seien. Das stimmt. Aber was hat das mit dem Schengenvertrag zu tun? Als souveränes Land können wir doch ohne Schengenvertrag so viele Leute bei uns arbeiten und wohnen lassen, wie wir wollen. Der Vertrag wäre allenfalls für Schweizer wichtig, die im EU-Raum arbeiten wollten. Es geht ja nicht um Fachkräfte, sondern um schlecht oder gar nicht ausgebildete Leute, die hier ihr Heil suchen, weil sie glauben, dass hier Milch und Honig fliessen.
 
2. Ich verstehe nicht, wer die beste Milchkuh ist. Ich sehe einfach nicht, wie wir die EU melken. Mir kommt es eher so vor, als wäre die Schweiz die Milchkuh. Wäre es nicht viel billiger, wenn wir unsere Landesgrenze richtig überwachten, statt unsere Leute auf  unsere Kosten an die EU-Aussengrenze zu schicken. Die eigenen Grenzen müssen wir ja trotzdem im Auge behalten. Wozu bräuchten wir denn sonst eine Schleierfahndung.
 
3. Das Roma-Problem habe nichts mit der Freizügigkeit zu tun. Sie glauben doch selbst nicht, dass die Romas sich brav ein Visum für die Schweiz beschaffen, wenn doch keine Personenkontrolle mehr stattfindet. Sie wollen ja meist auch gar nicht 3 Monate hier bleiben, sondern nur schnell einen Einbruch verüben, und hauen dann wieder ab über die Grenze. Das ist doch die Realität.
 
4. Die Guillotine-Klausel können Sie jetzt auch nicht als Vorwand  bringen. Wie man einen solchen Vertrag mit so einer Klausel aushandeln kann, ist mir schleierhaft. Ein Grossteil des Personals beim Bund und die meisten Räte sind doch Juristen. Was haben denn diese beim Aushandeln des ersten Vertrages gedacht? Wenn Sie auch noch behaupten, das Volk hätte die Personenfreizügigkeit zweimal einer harten Prüfung unterzogen, verstehe ich darunter eher, dass es einfach dem Bundesrat in blindem Vertrauen zugestimmt hat. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, vom Bundesrat je Einsicht in diese Verträge bekommen zu haben. Soviel ich von Parlamentariern weiss, haben selbst diese meist in blindem Vertrauen zugestimmt. 
 
5. »Der bilaterale Weg ist das Qualitätslabel typisch schweizerischer Interessenpolitik in Europa.« Ich habe hier nur wenige Punkte herausgepickt und stelle fest, dass ich die EU gut verstehe, wenn sie immer dreistere Forderungen stellt, wenn Sie diese Verträge selbst als »Qualitätslabel« darstellen.
 
6. Wenn doch  der bilaterale Weg -  wie Sie selbst sagen -   typisch für die Schweiz sei, möchte ich gerne von Ihnen wissen, was denn unter diesen Umständen  das »eingefrorene Beitrittsgesuch« zur EU in Brüssel noch soll. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der bilaterale Weg von Ihnen bzw. Ihren Kollegen als langsamer Vollbeitritt missbraucht wird. Plötzlich ist das Falltor zu und die Volksabstimmungen dienen nur noch der schweizerischen Folklore.
 
Sehr geehrte Frau Bundesrätin, ich zähle darauf, dass Sie mir alle obigen Punkte stichhaltig erklären werden. 
Diesen Brief können Sie übrigens auch unter www.haidvogls-sperberauge.ch bzw. unter www.politonline.ch nachlesen.
 
Mit freundlichen Grüssen Johanna Haidvogl, Gelterkinden, den 3. Juni 2008