MIT-Bericht widerlegt Obamas Behauptungen über syrischen Giftgasangriff 09.02.2014 18:56
Eine neue Analyse von Professor Theodore Postol vom MIT, dem Massachusetts Institute of Technology,
sowie des früheren UNO-Waffeninspekteurs Richard Lloyd vom 14. Januar widerspricht der Behauptung westlicher Regierungen, für den Chemiewaffenangriff im syrischen Ghuta am 21. August 2013 könne aus waffentechnischen Gründen nur die syrische Regierung verantwortlich sein. Aus Untersuchungen der Trümmer der bei dem Angriff verwendeten Raketen kommen Postol und Lloyd zu dem Schluss, dass die Raketen nicht aus einer Entfernung von 9 - 10 km auf ihr Ziel abgeschossen worden sein konnten, wie dies US- Außenminister John Kerry behauptet hatte. Die Reichweite der Raketen könne kaum mehr als 2 km betragen haben, damit liege der mögliche Startplatz weit ausserhalb der Gebiete, die nach Angaben der Regierung Obama von der syrischen Regierung kontrolliert wurden. »Diese falsche Einschätzung hätte zu einer ungerechtfertigtenamerikanischen
Militäraktion auf der Grundlage einer falscher Nachrichtendienst-Beurteilung führen
können«, schreiben die beiden Experten. Dem MIT-Bericht zufolge
handelte es sich um eine Artillerierakete russischer Bauart vom Typ BM-21, der weltweit
verbreitet ist. Theoretisch hat sie eine Reichweite von etwa 21 km, aber die in
Ghuta benutzte Rakete war umgebaut worden, mit einer Art Konservendose voller
chemischen Kampfstoffs an der Spitze, weshalb ihre Reichweite aus
aerodynamischen und strukturellen Gründen deutlich geringer gewesen sein muss.
Die Autoren weisen darauf hin, dass Syrien bei der Organisation für das Verbot
chemischer Waffen keine BM-21-Raketen als Teil ihrer Chemiewaffenbestände
angemeldet hat, was die Behauptung der Regierung Obama noch fragwürdiger macht.
»Als
ich diese Untersuchung begann, war meine Ansicht, dass nur die syrische
Regierung dahinter stecken konnte. Aber jetzt kann ich gar nichts sicher sagen.
Die Darstellung der [US-] Regierung kam nicht einmal in die Nähe der Realität.
Unsere Geheimdienst-Informationen können unmöglich stimmen«, sagte Postol gegenüber der
›McClatchy News‹. »Die syrischen Rebellen sind definitiv in der Lage, diese
Waffen herzustellen«, fuhr er fort. »Ich denke sogar, dass sie dazu
besser in der Lage sind als die syrische Regierung.« Postol und Lloyd betonen: »Was immer die Gründe für
diese ungeheuerlichen Fehler bei der nachrichtendienstlichen Einschätzung sein
mögen, diese Gründe müssen aufgeklärt werden.« Sonst »wird auch die Verfahrensweise,
die zu diesem nachrichtendienstlichen Versagen führte, nicht korrigiert werden,
und dann wird die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen politischen Katastrophe
mit Sicherheit steigen.«
[1]
Der bekannte investigative US-Journalist und Autor
Seymour Hersh hat die diesbezüglichen Vorgänge in seinem nachfolgend von uns
veröffentlichten Artikel einer genauen Sichtung unterzogen.
Wessen Sarin? - Von
Seymour M. Hersh Barack Obama erzählte
diesen Herbst nicht die ganze Geschichte, als er versuchte, Gründe dafür zu
liefern, dass Bashar al-Assad für die Chemiewaffenangriffe vom 21. August in
der Nähe von Damaskus verantwortlich sei. In einigen Fällen liess er wichtige
Geheimdienstinformationen weg, und in anderen präsentierte er Vermutungen als
Tatsachen. Und das Wichtigste: Er gab nicht zu, was den US-Geheimdiensten
bekannt war: Dass die syrische Armee nicht die einzige Partei im syrischen
Bürgerkrieg ist, die Zugang zu Sarin hat, dem Nervengas, dessen Verwendung bei
einem Raketenangriff durch eine UNO-Studie festgestellt wurde, ohne dabei
jedoch die Frage der Verantwortlichkeit zu beurteilen. In den Monaten vor dem
Angriff erstellten die amerikanischen Geheimdienste eine Reihe streng geheimer
Berichte, die in einem formellen Einsatzauftrag gipfelten – einem Dokument, in
dem die Durchführung eines Einsatzes geplant wird, dem eine Invasion mit
Bodentruppen vorausgeht, und das Belege dafür anführt, dass sich die
dschihadistische al-Nusra-Front, die mit
al-Kaida verbunden ist, die Herstellungsweise von Sarin-Gas zu eigen gemacht
hatte und in der Lage war, es in grösseren Mengen herzustellen. Als der Angriff
stattfand, hätte al-Nusra zu den Verdächtigen gehören müssen, aber die US-Administration
nutzte die Geheimdienstinformationen sehr wählerisch, um einen Schlag gegen Assad
zu rechtfertigen.
In seiner landesweit im
Fernsehen übertragenen Rede zu Syrien vom 10. September 13 schob Obama die
Schuld für den Nervengasanschlag auf die von Rebellen gehaltene Vorstadt von
Ost-Ghouta dezidiert auf die Regierung Assad und machte klar, dass er bereit
sei, seine früheren öffentlichen Warnungen zu bestätigen, wonach mit jedem
Einsatz chemischer Waffen eine rote Linie überschritten würde: »Assads Regierung vergaste
mehr als tausend Menschen«, erklärte er. »Wir wissen, dass das
Assad-Regime verantwortlich war ….. Und deshalb habe ich nach reiflicher
Überlegung entschieden, dass es im nationalen Sicherheitsinteresse der
Vereinigten Staaten ist, auf den Einsatz chemischer Waffen durch das
Assad-Regime mit einem gezielten Militärschlag zu reagieren.« Obama zog in den Krieg, um
eine öffentliche Drohung zu bekräftigen, aber er tat dies, ohne sicher zu
wissen, wer am frühen Morgen des 21. August was tat. Er zitierte eine Liste
dessen, was scheinbar hart erkämpfte Beweise für Assads Verschulden waren: »Wir wissen, dass sich das
mit Chemiewaffen befasste Personal Assads in den Tagen vor dem 21. August auf
einen Angriff nahe eines Areals, wo sie Sarin-Gas mischen, vorbereitete. Sie
verteilten ihren Truppen Gasmasken. Dann feuerten sie von einem durch das
Regime kontrollierten Gebiet Raketen in elf benachbarte Stadtteile, welche das
Regime von Oppositionskräften zu säubern versucht hatte.« Obamas Gewissheit wurde
von seinem Stabschef Denis McDonough wiederholt, welcher der ›New
York Times‹ sagte: »Niemand, mit dem ich gesprochen habe,
zweifelt Geheimdienstinformationen an, die Assad und sein Regime direkt mit den
Sarin-Angriffen in Verbindung bringen.«
In kürzlich mit
Geheimdienst- und Militärbeamten sowie mit ehemaligen und derzeitigen Beratern geführten
Interviews stellte ich jedoch eine hochgradige Sorge und gelegentlich auch
Ärger über das fest, was diesbezüglich immer wieder als bewusste Manipulation
von Geheimdienst-Informationen gesehen wurde. In einem e-Mail an einen Kollegen
bezeichnete es ein hochrangiger Geheimdienstoffizier als einen ›Trick‹, wenn die Administration
versichere, Assad sei verantwortlich. Der Anschlag »resultierte nicht aus dem
gegenwärtigen Regime«, schrieb er. Ein ehemaliger höherer Beamter des
Geheimdienstes berichtete mir, dass die Regierung Obama die verfügbaren
Informationen verändert habe, dies in Bezug auf die Zeit und den Ablauf,
um dem Präsidenten und seinen Beratern die Möglichkeit zu geben,
Geheimdienstinformationen, die erst Tage nach dem Anschlag abgerufen wurden, so
erscheinen zu lassen, also ob diese während des Anschlags in Echtzeit aufgefangen
und analysiert worden seien. Die Verfälschung, sagte er, erinnere ihn
an den Zwischenfall im Golf von Tonkin im Jahre 1964, als die Regierung Johnson
von der National Security Agency [NSA] abgefangene Informationen abänderte, um
eine der frühen Bombardierungen Nordvietnams zu rechtfertigen. Derselbe Beamte
sagte, es herrsche innerhalb der militärischen und geheimdienstlichen
Bürokratie eine immense Frustration: »Die Kumpel verwerfen die
Hände und sagen: ›Wie können wir diesem Kerl – Obama – helfen, wenn
er und seine Kumpane im Weissen Haus im Zuge ihres Vorgehens die Geheimdienstinformation
frisieren?‹«
Die Regierung wusste nicht
mehr als die Öffentlichkeit Die Klagen konzentrieren
sich auf das, was Washington fehlte: Irgendeine Vorwarnung von der vermuteten
Quelle des Anschlags. Seit Jahren erstellten die militärischen Geheimdienste
für den Verteidigungsminister und den Vorsitzenden der Vereinigten
Generalstabschefs eine hochgeheime, frühmorgendliche, geheimdienstliche
Kurzdarstellung, die als ›Morning Report‹ bekannt ist; eine Kopie davon geht an den Nationalen Sicherheitsberater
und an den Direktor des Inlandgeheimdienstes. Der ›Morning Report‹
enthält keine politische oder wirtschaftliche Information, sondern liefert eine
Zusammenfassung wichtiger militärischer Ereignisse rund um die Welt, mit allen hierzu
zur Verfügung stehenden Geheimdienstinformationen. Ein ranghoher Berater des
Geheimdienstes sagte mir, dass er einige Zeit nach dem Anschlag die Berichte
vom 20. bis zum 23. August überprüft hätte. An zwei Tagen: am 20. und am 21.
August, wurde Syrien nicht erwähnt. Am 22. August befasste sich das Hauptthema
des ›Morning Reports‹ mit Ägypten; ein späterer
Punkt erörterte einen internen Wechsel in der Kommandostruktur einer der
Rebellengruppen in Syrien. Über den Einsatz von Nervengas in Damaskus war an
diesem Tag nichts vermerkt. Erst am 23. August wurde der Einsatz von Sarin zu
einem dominierenden Thema, mit Hunderten von Fotografien und Videos des
Massakers, die sich innerhalb von Stunden wie ein Lauffeuer auf YouTube,
Facebook und anderen Webseiten sozialer Medien verbreiteten. Zu jenem Zeitpunkt
wusste die Regierung nicht mehr als die Öffentlichkeit. Obama verliess Washington
am 21. August frühzeitig, um eine hektische Zweitagestour mit Reden in New York
und Pennsylvania anzutreten; gemäss Pressebüro des Weissen Hauses war er noch
am selben Tag über den Anschlag und den zunehmenden Aufruhr in der Öffentlichkeit
und in den Medien unterrichtet worden. Der Mangel an unmittelbaren
Geheimdienstinformationen aus dem Landesinneren wurde am 22. August klar, als
Jen Psaki, ein Sprecher des Aussenministeriums, den Reportern erklärte: »Wir sind nicht in der Lage,
den Einsatz (chemischer Waffen) eindeutig festzustellen. Aber seit diesen
Geschehnissen konzentrieren wir uns jeden Tag und jede Minute darauf ..… um alles,
was in unserer Macht steht, zu tun, um die Fakten festzunageln.« Der Ton der Administration
verhärtete sich am 27. August, als Jay Carney, Obamas Pressesekretär, den Reportern
sagte, jede Vorstellung, die syrische Regierung sei nicht verantwortlich, sei »so absurd wie die
Vorstellung, dass der Anschlag selber nicht stattfand« - dies jedoch ohne dazu
irgendwelche konkreten Informationen zu liefern. »Vor dem Anschlag lagen
keine geheimdienstlichen Informationen über syrische Absichten vor.«
Dass es keinen sofortigen
Alarm innerhalb der amerikanischen Geheimdienste gab, zeigt, dass in den Tagen
vor dem Anschlag keine geheimdienstlichen Informationen über syrische Absichten
vorlagen. Und es gibt mindestens zwei Wege, auf denen die USA davon im voraus
Kenntnis erhalten können hätte: beide wurden in einem der geheimsten
US-Geheimdienstdokumente erwähnt, die in den letzten Monaten von Edward
Snowden, dem ehemaligen Auftragnehmer der NSA, öffentlich gemacht worden sind.
Am 29. August publizierte
die ›Washington Post‹ aus dem von Snowden
gelieferten Material Auszüge aus dem jährlichen Budget für alle staatlichen
Geheimdienst-Programme für jeden einzelnen Dienst. In Absprache mit der
Regierung Obama veröffentlichte die Zeitung nur einen geringen Teil des
178seitigen Dokuments, dessen Klassifikation mehr als streng geheim ist; was
sie aber zusammenfasste und publizierte, war ein Ausschnitt, der sich mit
Problembereichen befasst. Einer der Problembereiche betraf die mangelnde
Beobachtung und Berichterstattung zu Assads Büro. Laut Dokument waren die
weltweiten elektronischen Abhöranlagen der NSA »imstande gewesen, zu Beginn
des dortigen Bürgerkriegs unverschlüsselte Kommunikationen unter höheren
Militärbeamten zu überwachen.« Aber es war »eine Schwachstelle, dass
die Streitkräfte von Präsident Bashar al-Assad das später offensichtlich
erkannten.« Mit anderen Worten: Die NSA hatte nicht länger Zugang zu den Gesprächen
der höchsten militärischen Führung in Syrien, zu denen auch entscheidende
Mitteilungen Assads, wie Befehle für einen Nervengas-Angriff, gehört hätten. [In
ihren öffentlichen Stellungnahmen seit dem 21. August hat die Regierung Obama
indessen nie behauptet, über konkrete Informationen zu verfügen, die Assad
selbst in Verbindung mit dem Anschlag brachten]
Die Sensoren des NRO bei
allen bekannten Standorten von chemischen Waffen in Syrien implantiert Der Bericht der ›Washington
Post‹ lieferte auch den ersten Hinweis auf ein geheimes
Sensor-System innerhalb Syriens, das darauf angelegt war, bei jeder
Zustandsveränderung des Chemiewaffen-Arsenals des Regimes Frühwarnungen zu
übermitteln. Die Sensoren werden vom ›National Reconnaissance
Office‹ NRO [Nationaler Aufklärungsdienst] überwacht; das
NRO ist die Behörde, die alle in Umlauf befindlichen US-Geheimdienstsatelliten
kontrolliert. Laut Kurzdarstellung der ›Washington Post‹
ist das NRO auch beauftragt, »Daten von in Syrien vor Ort plazierten Sensoren
zu gewinnen.« Der ehemalige hochrangige Geheimdienstbeamte, der direkte Einsicht in
das Programm hatte, sagte mir, dass die Sensoren des NRO bei allen bekannten
Standorten von chemischen Waffen in Syrien eingesetzt worden seien. Sie sind so
konstruiert, dass sie die Bewegung chemischer Gefechtsköpfe, die das Militär
lagert, ständig überwachen. In punkto Frühwarnung aber sehr viel wichtiger ist
die Fähigkeit der Sensoren, US- und israelische Geheimdienste zu warnen, wenn die
Gefechtsköpfe mit Sarin bestückt werden. [Als Nachbarland ist Israel was
Veränderungen im syrischen Chemiewaffenarsenal betrifft, immer in
Alarmbereitschaft gewesen, und es
arbeitet im Bereich der Frühwarnung eng mit den US-Geheimdiensten zusammen] Ist
ein chemischer Gefechtskopf einmal mit Sarin geladen, hat er eine
Lagerfähigkeit von ein paar Tagen oder weniger, da das Nervengas die Rakete
praktisch sofort zu zerfressen beginnt: Es ist ein Massenkiller, der nach dem
Prinzip ›use-it-or-lose-it‹ funktioniert. »Die syrische Armee hat
keine drei Tage, um einen Angriff mit Chemiewaffen vorzubereiten«, erklärte mir der Beamte. »Wir entwickelten das
Sensor-System zwecks Sofort-Reaktion, so wie einen Fliegeralarm oder einen
Feueralarm. Eine Warnung, die drei Tage dauert, nützt nichts, weil alle
Beteiligten tot wären. Sie erfolgt entweder sofort, oder es ist gewesen…. Man
verbringt nicht drei Tage, um sich für das Abfeuern von Nervengas
bereitzumachen.« In den Monaten und Tagen vor dem 21. August entdeckten die Sensoren
keine Bewegung, sagte der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter. Es ist natürlich
möglich, dass die syrische Armee auf andere Weise mit Sarin versorgt worden
war, aber die fehlende Warnung bedeutete, dass Washington nicht in der Lage
war, die Ereignisse im östlichen Ghouta zu überwachen, während sie sich
entwickelten. Die Sensoren funktionierten
in der Vergangenheit, dessen war sich die syrische Führung nur allzu bewusst.
Im Dezember 2012 hatte das Sensor-System Zeichen aufgenommen, die auf eine
Sarin-Produktion in einem Chemiewaffenlager hinzuweisen schienen. Es war aber
nicht sofort klar, ob die syrische Armee die Sarin-Produktion als Teil einer
Übung simulierte - alle Heere führen
ständig solche Übungen durch - oder ob
sie tatsächlich einen Angriff vorbereitete. Damals warnte Obama Syrien, ein Einsatz von Sarin-Gas wäre ›vollkommen
inakzeptabel‹; eine dementsprechend lautende Botschaft wurde
auch auf diplomatischem Weg übermittelt. Später stellte man fest, dass das
Ereignis Teil einer Reihe von Übungen war, so derselbe Beamte. »Wenn nun das, was die
Sensoren letzten Dezember registrierten, so wichtig war, dass der Präsident
anrufen musste, um zu sagen: ›Hört auf damit!‹,
warum hat der Präsident nicht drei Tage vor dem Gasangriff im August dieselbe Warnung
ausgesprochen?«
Kritischer Berichterstatter
war nicht eingeladen Die NSA würde Assads Büro
natürlich rund um die Uhr überwachen -
wenn sie könnte! So der Beamte ferner. Andere Kommunikationen - von den verschiedenen Armee-Einheiten in
ganz Syrien, seien viel weniger wichtig und würden daher nicht in Echtzeit
analysiert. »In Syrien werden von den Einheiten im Feld buchstäblich Tausende von
taktischen Funkfrequenzen für die alltäglichen Routine-Kommunikationen benutzt,
so dass eine enorm grosse Zahl
von Verschlüsselungstechnikern der NSA notwendig wäre, um alles abzuhören – und
der Nutzen wäre gleich null.« Die Gespräche werden aber routinemässig
auf Computern aufgezeichnet. Nachdem das Ausmass der Ereignisse vom 21. August
einmal feststand, unternahm die NSA umfassende Anstrengungen, um nach allen
etwaigen Verbindungen zu dem Anschlag zu suchen, indem sie das komplette Archiv
gespeicherter Kommunikationen durchsah. Dazu würde man ein oder zwei
Schlüsselwörter wählen und einen Filter verwenden, um einschlägige
Unterhaltungen zu finden. »Was hier geschah, ist, dass die
Geheimdienst-Weicheier der NSA mit einem Ereignis begannen – dem Einsatz von
Sarin – und versuchten, Gespräche zu finden, die damit zusammenhängen könnten«, so mein Informant weiter.
»Dies führt allerdings nicht
zu einer sehr zuverlässigen Einschätzung, es sei denn, man ginge mit grosser Zuversicht
davon aus, dass Assad den Einsatz befahl und würde dann anfangen, nach allem zu
suchen, was diesen Glauben stützt.« Die Rosinenpickerei glich dem Vorgehen, dessen man
sich zur Rechtfertigung des Irak-Krieges bedient hatte. Das Weisse Haus brauchte
neun Tage, um seine Argumentation gegen die syrische Regierung
zusammenzutragen. Am 30. August lud es eine ausgewählte Gruppe von Journalisten
aus Washington ein [mindestens ein kritischer Berichterstatter, Jonathan
Landay, Korrespondent für nationale Sicherheit für die Zeitungen des
Medienkonzerns McClatchy war nicht eingladen], und überreichte ihnen ein Dokument,
das wohlüberlegt als ›Einschätzung der Regierung‹
und nicht als Einschätzung der Geheimdienste gekennzeichnet war. Die
Darlegungen des Dokuments bildeten im wesentlichen eine politische
Argumentation, um die Vorwürfe der Administration gegen die Regierung Assad zu
bestärken; es war aber dennoch konkreter, als Obama später in seiner Rede vom
10. September sein würde: Es besagte, dass amerikanische Geheimdienste wussten,
dass Syrien drei Tage vor dem Anschlag damit begonnen hätte, ›chemische
Waffen bereitzustellen‹. In einer aggressiven Rede
noch am selben Tag lieferte John Kerry weitere Details. Er sagte, Syriens »Chemiewaffen-Personal war
in dem Gebiet vor Ort und traf bis zum 18. August Vorbereitungen.« »Wir wussten, dass den Einheiten des syrischen
Regimes gesagt wurde, sie sollten sich auf den Anschlag vorbreiten, indem sie
Gasmasken anziehen und Vorsichtsmassnahmen in Zusammenhang mit chemischen
Waffen treffen sollten.« Die Regierungsbegutachtung und Kerrys Kommentare
erweckten den Anschein, als ob die Administration den Sarin-Gasangriff so
nachvollzogen hätte, wie er sich ereignet hatte. Es ist diese Version der Ereignisse
– unwahr,
aber nicht hinterfragt, die zu der Zeit
weitherum berichtet wurde.
Die Zahl der Toten geht
weit auseinander Eine unerwartete Reaktion
erfolgte in Form von Beschwerden seitens der Führung der Freien Syrischen Armee
und anderer, die sich über den Mangel an Warnung beklagten. »Es ist unfassbar, dass sie
nichts taten, um die Leute zu warnen, oder versuchten, das Regime vor dem
Verbrechen zu stoppen«, sagte Razan Zaitouneh, ein Mitglied der
Opposition, der in einer der von Sarin betroffenen Ortschaften wohnte,
gegenüber Foreign Policy. Die ›Daily Mail‹
war unverblümter: »Laut Geheimdienstberichten wussten US-Beamte von dem Nervengasangriff in
Syrien drei Tage bevor dieser 1400 Menschen
tötete, darunter mehr als 400 Kinder.« Die Zahlen der Toten, die
dem Anschlag zuzuschreiben sind, gingen weit auseinander, von mindestens 1429,
wie die Regierung Obama anfänglich behauptete, zu sehr viel weniger. Eine
syrische Menschenrechtsgruppe meldete 502 Tote; Ärzte ohne Grenzen schätzte 355
und ein französischer Bericht verzeichnete 281 bekannte Opfer. Später
berichtete das ›Wall Street Journal‹, die erstaunlich präzise
US-Gesamtzahl habe nicht auf tatsächlichen Opferzahlen beruht, sondern stellte
eine Extrapolation von CIA-Analysten dar, die über hundert YouTube-Videos aus
Ost-Ghouta in ein Computersystem scannten und nach Bildern der Toten
durchsuchten. Mit anderen Worten: Es handelte sich um kaum mehr als eine
Schätzung. Fünf Tage später reagierte
ein Sprecher des Büros des Direktors des Zusammenschlusses der US-Geheimdienste
auf die Klagen. Eine Stellungnahme gegenüber Associated Press besagte, dass die
Geheimdienstinformationen, auf die sich die früheren Regierungsaussagen
stützten, zur Zeit des Anschlages nicht bekannt gewesen seien, sondern erst in
der Folge gewonnen wurden: »Um es deutlich zu sagen: Die Vereinigten Staaten
haben nicht in Echtzeit überwacht, als dieser schreckliche Anschlag stattfand.
Die Geheimdienste waren in der Lage, nachträglich Informationen zu sammeln und
zu analysieren und zu ermitteln, dass Einheiten des Assad-Regimes tatsächlich
vorbereitende Schritte unternommen hatten, die einem Einsatz chemischer Waffen
vorausgehen.« Aber da das amerikanische Pressecorps seine Story hatte, schenkte man
dem Widerruf wenig Aufmerksamkeit. Am 31. August hatte die ›Washington
Post‹, auf die Einschätzung der Regierung gestützt, auf
ihrer Titelseite anschaulich berichtet, dass amerikanische Geheimdienste in der
Lage waren, »jeden Schritt« des Angriffes der syrischen Armee in Echtzeit zu
registrieren, »von den umfangreichen Vorbereitungen, über das Abschiessen der
Raketen bis zur anschliessenden Einschätzung durch syrische Beamte.« Sie
publizierte das Korrektiv der Associated Press nicht, und das Weisse Haus
behielt die Kontrolle über die Darstellung.
Obama gelangt zu einem
vorschnellen Urteil Als Obama also am 10.
September sagte, seine Administration hätte gewusst, dass das
Chemiewaffen-Personal Assads den Anschlag im voraus vorbereitet habe, stützte
er diese Stellungnahme nicht auf Mitschnitte, die zum Zeitpunkt des Geschehens
aufgenommen wurden, sondern auf Kommunikationen, die Tage nach dem 21. August
analysiert wurden. Wie der Geheimdienstbeamte hierzu erklärte, ging die
Jagd nach einem aufschlussreichen Gerede auf die im Dezember 2012 entdeckte Übung zurück, während
der, wie Obama später der Öffentlichkeit sagte, die syrische Armee ihr Personal
für Chemiewaffen mobilisierte und Gasmasken an ihre Truppen verteilte. Die
Einschätzung der Regierung des Weissen Hauses und Obamas Rede gaben keine
Beschreibungen der konkreten Ereignisse, die zum Angriff vom 21. August führten,
sondern eine Darstellung des Ablaufs, den das syrische Militär für irgendeinen
Chemiewaffenangriff befolgt hätte. »Sie bauten eine Hintergrundgeschichte zusammen«, so der Beamte, »und dazu gehören viele
verschiedene Stücke und Anteile. Die Vorlage, die sie verwendeten, war die
Vorlage, die auf den Dezember 2012 zurückgeht.« Es ist natürlich möglich,
dass sich Obama nicht gewahr war, dass diese Darstellung einer Analyse der
Ablaufregeln der syrischen Armee für einen Gasangriff entnommen worden war, und
nicht unmittelbaren Hinweisen. So oder so war er zu einem vorschnellen Urteil
gelangt.
Beweismaterial verschoben
und möglicherweise manipuliert
Die Presse würde es
ihm gleichtun. Der UNO-Bericht vom 16. September, der den Einsatz von Sarin-Gas
bestätigte, vermerkte mit Sorgfalt, dass der Zugang seiner Ermittler zu den
Orten des Anschlage, der fünf Tage nach dem Gasangriff erfolgte, von
Streitkräften der Rebellen kontrolliert worden war. »So wie an anderen Orten«, warnte der Bericht, »waren
die Örtlichkeiten vor Ankunft der
Mission von anderen Personen gut besucht worden. .… Während der Zeit des
Aufenthalts an diesen Örtlichkeiten kamen Personen an, die andere verdächtige
Waffen trugen, ein Hinweis darauf, dass derartiges potentielles Beweismaterial
verschoben und möglicherweise manipuliert wird.« Trotzdem griff die ›New
York Times‹ den Bericht auf, wie dies auch amerikanische und
britische Beamte getan hatten, und behauptete, er liefere wesentliche Belege,
welche die Behauptungen der Regierung stützten. In einem Anhang des UNO-Berichtes
waren YouTube-Fotos von einigen der geborgenen Waffen abgebildet, darunter eine
Rakete, die ›andeutungsweise‹ den Besonderheiten einer 330
mm Kaliber Artillerie-Rakete ›entsprechen‹.
Die ›New York Times‹ schrieb, dass die Existenz
der Raketen im Grunde beweise, dass die syrische Regierung für den Anschlag
verantwortlich sei, »weil von den fraglichen Waffen zuvor nicht
dokumentiert oder berichtet worden ist, dass sie im Besitz der Aufständischen
sind.«
Flugbahnanalysen sind ›völliger Quatsch‹ Der eingangs bereits
erwähnte Theodore Postol, Professor für Technologie und Nationale Sicherheit am
MIT, überprüfte die Fotos mit einer Gruppe seiner Kollegen und kam zum Schluss,
dass die grosskalibrigen Raketen eine improvisierte Waffe darstellten, die sehr
wahrscheinlich lokal hergestellt worden ist. Er erklärte mir, sie sei »etwas, was man in einer
mässig kompetenten Maschinenwerkstatt herstellen könnte.« Die Rakete auf den Fotos,
ergänzte er, entspricht nicht den Spezifikationen einer ähnlichen, aber
kleineren Rakete, von der man weiss, dass sie zum syrischen Arsenal gehört.
Wiederum auf Daten aus dem UNO-Bericht gestützt, hatte die ›New
York Times‹ auch die Flugbahn von zwei der gebrauchten Raketen
analysiert, von denen man annahm, dass sie Sarin mit sich führten, und gefolgert,
dass der Gleitwinkel ›direkt darauf hinweist‹,
dass sie von einer syrischen Armeebasis, die 9 km von der Aufschlagstelle
entfernt liegt, abgefeuert worden seien.
Postol, der dem Chef der Marineoperationen im Pentagon als wissenschaftlicher
Berater gedient hatte, sagte, die Behauptungen in der ›New
York Times‹ und andernorts »beruhten nicht auf
tatsächlichen Beobachtungen.« Er gelangte, wie er in einem e-Mail schrieb, zu
der Folgerung, »dass insbesondere die Flugbahnanalysen völliger Quatsch« waren, denn
eine gründliche Untersuchung zeigte, dass es »unwahrscheinlich« ist, dass
die Reichweite der improvisierten Raketen mehr als 2 km beträgt. Postol und ein
Kollege, Richard M. Lloyd, veröffentlichten zwei Wochen nach dem 21. August
eine Analyse, in der sie korrekt bestimmten, dass die involvierten Raketen eine
weit grössere Ladung von Sarin transportierten, als man zuvor geschätzt hatte.
Die ›New York Times‹ berichtete ausführlich
über diese Analyse und beschrieb Postol und Lloyd als ›führende
Waffenexperten‹. Die spätere Studie der beiden zu den Flugbahnen
und der Reichweite der Raketen, die früheren Berichten der ›New
York Times‹ widersprachen, wurde der
Zeitung letzte Woche [9. bis 15. Dezember 2013] zugemailt, worüber bisher nicht
berichtet worden ist. Die Fehlinterpretation des Weissen Hauses bezüglich
dessen, was es über den Anschlag und den Zeitpunkt wusste, passte zu seiner
Bereitschaft, Geheimdienstinformationen, die seine Darstellung schwächen können
hätten, zu ignorieren. Solche Informationen betrafen al-Nusra, jene islamistische
Rebellenorganisation, die von der USA und der UNO als terroristische
Organisation bezeichnet wird. Al-Nusra ist dafür bekannt, eine Menge von
Selbstmordattentaten gegen Christen und andere nicht-sunnitische Konfessionen
innerhalb Syriens durchgeführt zu haben und ihren formalen Verbündeten im
Bürgerkrieg, die säkulare Freie Syrische Armee (FSA), angegriffen zu haben. Ihr
erklärtes Ziel ist es, das Assad-Regime zu stürzen und die Scharia einzuführen.
Am 25. September schloss sich al-Nusra mit verschiedenen anderen islamistischen
Rebellengruppen zusammen, um sich von der FSA und einer anderen säkularen
Fraktion, der Syrischen Nationalen Koalition, zu distanzieren.
Die hektische Aktivität im
Zusammenhang mit dem amerikanischen Interesse an al-Nusra und Sarin hatte ihre
Ursache in einer Reihe von Angriffen mit Chemiewaffen in kleinem Massstab im
März und April; zu jenem Zeitpunkt bestanden die syrische Regierung wie die
Rebellen darauf, dass jeweils die andere Seite dafür verantwortlich sei. Die
UNO kam letztlich zum Schluss, dass vier Chemiewaffenangriffe durchgeführt
worden waren, schrieb aber niemandem die Verantwortung zu. Ein Vertreter des
Weissen Hauses erklärte Ende April der Presse gegenüber, die Geheimdienste
seien mit ›unterschiedlichem Grad an Verlässlichkeit‹
zu der Einschätzung gelangt, dass die syrische Regierung für die Angriffe
verantwortlich sei. Assad habe Obamas rote Linie überschritten. Die
Einschätzung vom April machte Schlagzeilen, aber einige wesentliche Vorbehalte
gingen bei der Übersetzung verloren. Der namentlich nicht genannte Vertreter,
der das Briefing durchführte, räumte ein, dass die Einschätzungen der
Geheimdienste »allein nicht genügen«. »Wir wollen«, sagte er, »über diese Einschätzungen
der Geheimdienste hinaus Fakten sammeln, so dass wir eine glaubwürdige und
bestätigte Reihe von Daten nachweisen können, die dann als Informationen
unserer Entscheidungsfindung zugrunde gelegt werden können.« Mit anderen Worten: das
Weisse Haus hatte keine direkten Belege für die Beteiligung der syrischen Armee
oder der syrischen Regierung, eine Tatsache, die in der Presseberichterstattung
nur gelegentlich erwähnt wurde. Obamas harte Rede spielte wacker mit der
Öffentlichkeit und dem Kongress, die Assad als skrupellosen Mörder sahen. Zwei
Monate später kündigte eine Stellungnahme des Weissen Hauses eine Veränderung
in der Einschätzung des syrischen Verschuldens an und erklärte, dass die
Geheimdienste die Regierung Assad nun mit ›hoher Zuverlässigkeit‹
für bis zu 150 Tote durch Sarin-Gasangriffe für verantwortlich hielten. Es
wurden weitere Schlagzeilen erzeugt, und die Presse erfuhr, dass Obama als
Reaktion auf die neuen Geheimdienstinformationen eine Ausweitung der
nicht-tödlichen Unterstützung der syrischen Opposition angeordnet hatte. Aber einmal
mehr gab es bedeutende Vorbehalte. Die neuen Geheimdienstinformationen
enthielten einen Bericht, wonach syrische Beamte die Angriffe geplant und
durchgeführt hätten. Man lieferte keine Einzelheiten, und diejenigen, welche
die Berichte übermittelten, wurden nicht identifiziert. Das Statement des
Weissen Hauses besagte, dass die Laboranalyse den Einsatz von Sarin bestätigt
habe, aber auch, dass ein positiver Fund von Nervengas »uns nichts darüber sagt,
wie oder wo die Personen diesem ausgesetzt waren oder wer für die Verbreitung
verantwortlich war.« Das Weisse Hause erklärte weiter: »Wir verfügen über keine
zuverlässig bestätigte Berichterstattung, die darauf hinweist, dass die
Opposition in Syrien chemische Waffen erworben oder eingesetzt hätte.« Die Stellungnahme
widersprach Hinweisen, die zu der Zeit bei den US-Geheimdiensten eingingen.
Al-Nusra und deren
Beschäftigung mit Sarin Schon Ende Mai berichtete
mir der höhere Geheimdienstberater, dass die CIA die Administration Obama
bezüglich al-Nusra und deren Beschäftigung mit Sarin in Kenntnis gesetzt und
alarmierende Berichte darüber eingesandt habe, die besagen, dass eine weitere
in Syrien aktive sunnitisch-fundamentalistische Gruppe, al-Kaida im Irak [AIQ],
die Wissenschaft zur Herstellung von Sarin ebenfalls verstehe. Damals operierte
al-Nusra in Gebieten nahe von Damaskus, auch in Ost-Ghouta. Ein
Geheimdienstdokument, das im Hochsommer ausgestellt wurde, befasste sich
ausführlich mit Ziyaad Tariq Ahmed, einem Chemiewaffenexperten, der früher der
irakischen Armee angehört hatte, und von dem es hiess, er sei nach Syrien
eingereist und betätige sich in Ost-Ghouta. Der Berater sagte mir, Tariq sei ›als
al-Nusra-Typ‹ identifiziert worden, »mit einer Erfolgs- und
Erfahrungsgeschichte bezüglich der Herstellung von Senfgas im Irak und als
jemand, der bei Herstellung und Einsatz von Saringas eine Rolle spielt.« Beim amerikanischen Militär
gilt er als prominentes Ziel. Am 20. Juni wurde David R. Shedd, dem
stellvertretenden Direktor der Defense Intelligence Agency DIA [Dachorganisation
der Nachrichtendienste von Army, Navy, Air Force und Marine Corps], eine
4seitige, streng geheime Depesche zugeleitet, die zusammenfassend wiedergab,
was man über al-Nusras Fähigkeiten bezüglich Nervengas erfahren hatte. »Worüber man Shedd in
Kenntnis setzte, war ausführlich und umfassend«, sagte der Berater. »Es war nicht eine Anhäufung
von Formulierungen mit ›wir glauben‹«. Er berichtete mir, dass die Depesche keine
Einschätzung dazu enthielt, ob die Angriffe im März und April von den Rebellen
oder von der syrischen Armee initiiert worden waren, aber sie bestätigte
frühere Berichte, wonach al-Nusra die Fähigkeit besitzt, Sarin zu erwerben und
einzusetzen. Eine Probe des Sarins, das zum Einsatz kam, war ebenfalls
sichergestellt worden – mit Hilfe eines israelischen Agenten – aber gemäss dem
Berater ist im Telegrammverkehr keine weitere Berichterstattung zu dieser Probe
aufgetaucht.
Unabhängig von diesen
Einschätzungen verlangten die Vereinigten Generalstabchefs auf Grund ihrer
Annahme, dass US-Truppen nach Syrien beordert werden könnten, um die
Lagerbestände an chemischen Stoffen der Regierung zu beschlagnahmen, eine
umfassende Analyse aller Quellen einer potentiellen Bedrohung. »Die Op[erations] Order
liefert die Grundlage für die Durchführung eines militärischen Einsatzes, falls
er befohlen wird«, so der ehemalige Geheimdienstbeamte. »Dazu gehört auch die
mögliche Notwendigkeit, amerikanische Soldaten an einen syrischen Standort von
Chemiewaffen zu entsenden, um diesen gegen eine Inbesitznahme durch Rebellen zu
verteidigen. Falls die dschihadistischen Rebellen sich daran machten, den
Standort zu überrennen, gilt die Annahme, dass Assad uns nicht bekämpfen würde,
weil wir die Chemiestoffe vor den Rebellen schützen. Alle Op Orders enthalten
Teile mit geheimdienstlichen Informationen zu Bedrohungen. Wir hatten
technische Analysten von der Central Intelligence Agency, der Defense
Intelligence Agency [DIA], also von Leuten, die etwas von Waffen verstanden, ebenso
Leute von der I&W [Indications and Warnings], die an dem Problem gearbeitet
haben..… Sie kamen zu dem Schluss, dass die Rebellentruppen in der Lage wären,
eine amerikanische Truppe mit Sarin anzugreifen, da sie in der Lage wären, das
tödliche Gas zu produzieren. Die Untersuchung stützte sich auf Funksprüche und
auf von Personen gesammelte Geheimdienstinformationen, aber auch auf die
formulierten Absichten und die technischen Fähigkeiten der Rebellen. …… Es gibt
Hinweise darauf, dass einige Mitglieder der Vereinigten Stabschefs während des
Sommers ob der Aussicht auf eine Bodeninvasion in Syrien besorgt waren, aber
auch über Obamas erklärten Wunsch, Teilen der Rebellen nicht-tödliche Unterstützung zu
leisten. Im Juli gab der Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs, General
Martin Dempsey, ein düstere Lagebeurteilung, als er dem Senatsausschuss für die
Streitkräfte in einer öffentlichen Anhörung sagte, dass nebst »Hunderten von Flugzeugen,
Schiffen, Unterseebooten und anderen Kapazitäten« auch »Tausende von
Spezialeinsatzkräften und anderen Bodentruppen« nötig wären, um Syriens
weit verstreutes Chemiewaffenarsenal sicherzustellen. Schätzungen des Pentagons
veranschlagten eine Zahl von 70 000 Soldaten, dies zum Teil, weil die
US-Truppen auch die syrische Raketenflotte zu bewachen hätten: Für eine
Rebellentruppe wäre es von geringem Wert, auf grosse Mengen von Chemikalien
zugreifen und Sarin erzeugen zu können, ohne die Mittel zu haben, es
auszubringen. In einem Brief an Senator Carl Levin warnte Dempsey, dass ein
Entscheid zur Einnahme des syrischen Arsenals ungewollte Folgen haben könnte: »Aus den letzten zehn Jahren
haben wir doch gelernt, dass es nicht genügt, einfach die Balance der
militärischen Gewalt zu verändern, ohne eine sorgfältige Betrachtung, was nötig
ist, um einen funktionierenden Staat zu erhalten ..… Sollten die Institutionen
des Regimes zusammenbrechen, ohne dass eine funktionsfähige Opposition da ist,
könnten wir unabsichtlich Extremisten an die Macht bringen oder genau die
Chemiewaffen freisetzen, die wir zu kontrollieren suchen.« Die CIA lehnte es ab, zu
diesem Artikel eine Stellungnahme abzugeben. Sprecher der DIA und des Büros des
Direktors der Nationalen Nachrichtendienste ODNI [Office of the Director of
National Intelligence] sagten, sie hätten den Bericht an Shedd nicht
gegenwärtig, und nachdem ihnen spezifische, das Dokument betreffende Erkennungszeichen
zur Verfügung gestellt worden waren, erklärten sie, sie könnten es nicht
finden. Shawn Turner, Direktor für öffentliche Angelegenheiten beim ODNI sagte,
nicht ein amerikanischer Geheimdienst, die DIA eingeschlossen, »hätte die
Einschätzung, dass die al-Nusra-Front es geschafft hat, die Fähigkeit zur Herstellung
von Sarin zu entwickeln.«
Die Vertreter der
Öffentlichkeitsarbeit der Administration waren über das militärische Potential
der al-Nusra-Front nicht so besorgt wie es Shedd in seinen öffentlichen
Stellungnahmen war. Am jährlichen Sicherheitsforum des Aspen-Instituts in
Colorado Ende Juli gab er eine alarmierende Beschreibung von der Stärke
al-Nusras. »Ich komme auf nicht weniger als 1200 verschiedene Gruppen in der
Opposition«, sagte Shedd gemäss einer Aufnahme seiner Präsentation. »Und innerhalb der
Opposition ist die al-Nusra-Front … am leistungsfähigsten und gewinnt an
Stärke.« Dies, sagte er weiter, »macht uns ernsthafte Sorgen. Wenn man sie
unkontrolliert lässt, fürchte ich sehr, dass die radikalsten Elemente« – er erwähnte auch al-Kaida im Irak – »die Macht übernehmen werden.« Der
Bürgerkrieg, fuhr er fort, »wird mit der Zeit nur schlimmer werden. …
Unfassbare Gewalt wird erst noch kommen.« Shedd sprach in seinem Vortrag nicht
von Chemiewaffen, aber es war ihm auch nicht erlaubt: Die Berichte, die sein
Büro erhielt, waren streng geheim. Eine Reihe geheimer Kriegsberichte aus
Syrien im Laufe des Sommers meldeten, dass sich Mitglieder der Freien Syrischen
Armee bei amerikanischen Geheimdienstagenten über wiederholte Angriffe auf ihre
Truppen durch al-Nusra- und al-Kaida-Kämpfer beklagt hatten. Laut dem leitenden
Geheimdienstberater, der sie las, lieferten diese Berichte Belege dafür, dass sich
die FSA »grössere Sorgen wegen der Verrückten als wegen Assad macht.«. Die FSA
setzt sich weitgehend aus Abtrünnigen
der syrischen Armee zusammen. Die Administration Obama, die auf das Ende des
Assad-Regimes und die Weiterführung der Unterstützung für die Rebellen
festgelegt ist, hat in ihren öffentlichen Stellungnahmen seit dem Angriff den
Einfluss der salafistischen und wahhabitischen Fraktionen herunterzuspielen
versucht. Anfang September stiess John Kerry ein Kongress-Hearing mit der
plötzlichen Behauptung vor den Kopf, al-Nusra und andere islamistische Gruppen
seien Minderheiten-Player innerhalb der syrischen Opposition. Später zog er die
Behauptung zurück. Sowohl in ihren öffentlichen wie auch in ihren privaten
Briefings nach dem 21. August missachtete die Administration die verfügbaren
Geheimdienstinformationen zu al-Nusras möglichem Zugang zu Sarin und behauptete
weiterhin, einzig die Regierung Assad sei im Besitz chemischer Waffen. Es war
diese Botschaft, die in den verschiedenen geheimen Informationsgesprächen überbracht
wurde und welche die Mitglieder des Kongresses in den Tagen nach dem Angriff
erhielten, als Obama Unterstützung für seine geplante Raketenoffensive gegen
syrische Militäreinrichtungen suchte. Ein Vertreter der Legislative mit mehr
als zwei Jahrzehnten Erfahrung in militärischen Angelegenheiten sagte mir, er
sei von einem solchen Briefing mit der Überzeugung weggegangen, dass »nur die
Regierung Assad Sarin hat und die Rebellen nicht.« In gleicher Weise erklärte
die UNO-Botschafterin der USA, Samantha Power, nach der Veröffentlichung des UNO-Berichtes
am 16. September, welcher den Einsatz von Sarin am 21. August bestätigte, an
einer Pressekonferenz: »Es ist sehr wichtig zu beachten, dass nur das
Regime [Assad, S.H.] Sarin besitzt und wir keine Hinweise dafür haben, dass die
Opposition Sarin besitzt.« Es ist nicht bekannt, ob die streng geheime
Berichterstattung über al-Nusra dem Büro von Power zur Verfügung stand, aber
ihr Kommentar war ein Spiegelbild der Haltung, die durch die Administration
fegte. »Die unmittelbare Annahme war, dass Assad das getan hatte«, sagte mir
der ehemalige Mitarbeiter des Geheimdienstes. »Der neue Direktor der CIA, John
Brennan, zog diesen Schluss voreilig; er fährt zum Weissen Haus und sagt: ›Schaut
her, was wir bekommen haben!‹« Es ging alles mit Worten;
sie winkten einfach mit dem blutigen Hemd. * Es gab eine Menge politischen Druck, um Obama dazu zu bringen, den
Rebellen zu helfen, und es herrschte das Wunschdenken, dass dies [das
Inverbindungbringen Assads mit dem Sarin-Angriff, S.H.] Obama in Zugzwang
bringen würde: ›Das ist das Zimmermann-Telegramm der syrischen
Rebellion, und nun kann Obama reagieren.‹ Wunschdenken des Samantha Power-Flügels
innerhalb der Administration. Unglücklicherweise waren einige Mitglieder der
Vereinigten Stabchefs, die darüber alarmiert waren, dass Obama im Begriff war,
anzugreifen, nicht so sicher, dass dies eine gute Sache wäre.«
»Die Verfälschung der Fakten rund
um den Sarin-Angriff durch die Administration« Der geplante Raketenangriff
auf Syrien gewann nie öffentliche Unterstützung, und Obama wandte sich schnell
der UNO und dem russischen Vorschlag zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen-Anlagen
zu. Jede Möglichkeit für eine militärische Aktion war definitiv abgewendet, als
sich die Administration Obama am 26. September 2013 Russland anschloss und einem
Resolutionsentwurf der UNO zustimmte, der die Regierung Assad aufforderte, sich
ihres Chemiewaffenarsenals zu entledigen. Obamas Rückzug brachte manchem
leitenden Militäroffizier Erleichterung. [Ein hochrangiger Berater für Special
Operations sagte mir, der schlecht durchdachte amerikanische Raketenangriff auf
syrische Militärflugplätze und Raketenstellungen, so wie er vom Weissen Haus ursprünglich
vorgesehen war, wäre so gewesen »als hätte man al-Nusra Luftnahunterstützung
gegeben.«] Die Verfälschung der Fakten rund um den Sarin-Angriff durch die
Administration wirft eine unvermeidliche Frage auf: Kennen wir die ganze
Geschichte von Obamas Bereitschaft, um von seiner Drohung mit der ›roten
Linie‹ zur Bombardierung Syriens Abstand zu nehmen? Er
hatte behauptet, dafür eine unumstössliche Begründung zu haben, aber plötzlich
willigte er ein, die Angelegenheit vor den Kongress zu bringen und später
Assads Angebot anzunehmen, seine Chemiewaffen abzutreten. Es scheint möglich,
dass er an einem gewissen Punkt direkt mit gegenteiligen Informationen
konfrontiert war: Belege, die stark genug waren, um ihn davon zu überzeugen,
seinen Angriffsplan zurückzuziehen und die Kritik auszuhalten, die von den Republikanern
mit Sicherheit kommen würde. Die UNO-Resolution, die der Sicherheitsrat am 27.
September 13 annahm, hatte indirekt mit der Vorstellung zu tun, dass auch Rebellentruppen
wie al-Nusra zur Entwaffnung verpflichtet würden: »Keine Partei in Syrien
sollte Waffen [Chemiewaffen, S.H.] benutzen, entwickeln, herstellen, erwerben,
lagern, behalten oder weiterleiten.« Die Resolution verlangt auch die sofortige Benachrichtigung
des Sicherheitsrats für den Fall, dass irgendein ›nichtstaatlicher Akteur‹
chemische Waffen beschafft. Keine Gruppe wurde namentlich erwähnt. Während das
syrische Regime den Prozess zur Beseitigung seines chemischen Arsenals
weiterführt, könnten ironischerweise al-Nusra und ihre islamistischen
Verbündeten letztendlich als einzige Fraktion innerhalb Syriens bleiben, die
nach der Zerstörung des Vorrats an Vorgängerstoffen Assads noch Zugang zu den Bestandteilen
zur Erzeugung von Sarin hat – einer strategischen Waffe, die anders
wäre als alle andern im Kriegsgebiet. Es könnte noch mehr zu verhandeln
geben. [2]
[1] Strategic Alert Jahrgang 27, Nr. 4 vom 22.
Januar 2014 [2] Quelle: http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1702 Zeit-Fragen Nr.
2/3, 28.1.2014 Wessen
Sarin? Übersetzung durch Zeit-Fragen * Anmerkung des
Übersetzers: In der Geschichte der Vereinigten Staaten bezieht sich die
Formulierung ›mit dem blutigen Hemd winken‹
auf die Praktik von Politikern, die sich auf das Blut von Märtyrern oder Helden
beziehen, um Opponenten zu kritisieren. Sie wird auch benutzt, um jemanden zu
bezeichnen, der vergangenes Unrecht oder Misshandlungen in der Geschichte
heranzieht, um eine gegenwärtige Ungerechtigkeit zu rechtfertigen oder zu
verschleiern.
http://www.lrb.co.uk/v35/n24/seymour-m-hersh/whose-sarin Whose sarin? By Seymour M. Hersh London Review of Books -
Vol. 35 No. 24 - 19 December 2013, page 9 – 12
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