»Topas« - Ein Spion wird 70 26.09.2015 11:47
Er war Anfang der 1990er Jahre der meistgesuchte Mann; der damalige Bundesanwalt
sprach von der ›größten
Suchaktion der Dienste in der Nachkriegszeit‹. Rainer
Rupp, der unter dem Decknamen ›Topas‹ hochbrisante Informationen
aus dem Hauptquartier der NATO in Brüssel an die HVA, die ›Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für
Staatssicherheit, der Auslandsnachrichtendienst der DDR, lieferte, wurde 1993
verhaftet und vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu 12 Jahren Haft verurteilt; er
kam im Jahr 2000 frei. Mit dem Superspion, heute einer der Redaktoren der
jungen Welt, der am 22. September 70 Jahre alt wurde, sprach Karlen Vesper.
Herr Rupp,
drohte 1983 wirklich ein Dritter Weltkrieg? Und waren es tatsächlich Sie, der
ihn verhinderte?
Das habe ich nie gesagt, und werde das auch nie behaupten. So vermessen
bin ich nicht. Ich kann dazu nur andere zitieren. Milton Bearden, ehemaliger
Chef der CIA-Abteilung für die Sowjetunion und Osteuropa, ist davon überzeugt
und äußerte dies auch öffentlich, so auf der Internationalen Spionagekonferenz
am 7. Mai 2004 in Berlin. Auch Benjamin Fisher, langjähriger Mitarbeiter und
Chefhistoriker des CIA, ist dieser Ansicht. Ebenso würdigte Vojtech Mastny,
Professor für Strategie an der Kriegsakademie der US-Marine, in seiner Schrift
»Did East German Spies Prevent a Nuclear War?« meine Rolle in der Krise 1983.
Ähnliches kann man in Publikationen des »Parallel History Project on
Cooperative Security« nachlesen, einem in Zürich ansässigen internationalen
Forschungsprogramm zu Sicherheitsfragen, nicht nur während des Kalten Krieges.
Und auch Wladimir Krjutschkow, der KGB-Chef in jener kritischen Zeit, hat 2005
in einem Interview mit einem deutschen Fernsehsender speziell meinen Beitrag
herausgestellt, daß der
Konflikt 1983 nicht eskalierte und explodierte. Last but not least bejahte eine
preisgekrönte deutsche Fernseh-Dokumentation die Frage des Sprechers aus dem
Off: »Hat Rainer Rupp womöglich den Dritten Weltkrieg verhindert?«
Wie kam es
dazu, daß im November 1983 die Welt, wie bei der Kuba-Krise 1962, wieder am
Rand eines Nuklearkriegs stand? Und was konkret war Ihr Beitrag, ihn zu
verhindern?
Vom 7. bis 11. November 1983 gab es eine europaweite NATO- Kommandostabsübung,
die einen Atomkrieg simulierte: ›Able Archer‹, was ›tüchtiger
Bogenschütze‹ heißt. Ich saß damals im
Nervenzentrum der NATO, war Leiter der laufenden nachrichtendienstlichen
Gruppe, der Current Intelligence Group. Hier kamen die Informationen über die
Lage des Feindes und der eigenen zusammen. Sie wurden täglich frühmorgens unter
rotierendem Vorsitz ausgewertet und auf Probleme verdichtet, die dann wiederum
an die NATO-Kommandostellen, die Regierungen und die Geheimdienste der
NATO-Staaten geschickt wurden. In Krisenzeiten
- beziehungsweise zur Zeit von Stabsmanövern - in denen wir den nuklearen Erstschlag planten……
»Wir« - aus
Ihrem Munde?
Entsprechend meiner damaligen Identität im NATO-Hauptquartier. Als Chef
der Current Intelligence Group mußte ich auch dem Obersten Verteidigungs-Planungsrat
vortragen. Ich hatte alle Top-Secret-Informationen ›at my
fingertips‹, wie man so sagt. Ich
konnte sie alle - lacht - auch sichern, nicht nur die Informationen,
die ich während meiner Dienstzeit zu sehen bekam, sondern auch jene, die davor
eingegangen waren. Die Sowjets waren fest davon überzeugt, daß ›Able Archer‹ nur der
Deckmantel für einen echten Nuklearschlag sei. Sie glaubten, aus diesem Manöver
heraus sollte ein Enthauptungsschlag gegen Kommando-, Kontroll- und
Kommunikationszentren der sowjetischen Armee, des Staatsapparats und des
Parteiapparats erfolgen, und zwar mit Hilfe der neuen supermodernen und
punktgenau treffenden taktischen Atomraketen, Pershing II und Cruise Missiles,
bei denen man eine Vorwarnzeit von nur 5 bis maximal 8 Minuten hatte. Mit
diesen Raketen hoffte die Verbrecherbande im Pentagon die Sowjetarmee zu
enthaupten, so daß sie, ein
Zitat, das ich selbst vernommen habe, ›wie ein
Huhn mit abgeschlagenem Kopf über den Bauernhof laufen würde.‹
Die sowjetische Befürchtung schien angesichts des damaligen Tiefstands
in den Beziehungen zwischen Ost und West begründet. Im März 1983 nannte
US-Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion ein ›Reich des
Bösen‹ und verkündete den Beginn
des Raketenabwehrprogramms SDI. Ich stellte nun aber als Chef der Current
Intelligence Group fest, daß die Furcht vor einem Nuklearschlag unbegründet war.
Nichts in meinen Unterlagen deutete darauf hin. Das machte die NATO nicht friedfertiger, war aber in dieser
konkreten Situation wichtig zu wissen. Um die Sorgen der Sowjets zu zerstreuen,
lichtete ich alle Dokumente ab - egal ob
unwichtig oder nicht - und schickte sie in
die DDR. Da alle Dokumente offiziell nummeriert waren, war für die Genossen in
der HVA und in Moskau klar zu erkennen, daß nichts fehlte, nichts
Wichtiges übersehen worden war. Auf dem Höhepunkt der Krise wurde dies durch
tägliche Meldungen nach Ostberlin ergänzt. Und da man schon ein entsprechendes
Vertrauen in die Quelle hatte, ließ Moskau schließlich die Option eines
zuvorkommenden Gegenschlages fallen.
Droht im
Hinblick auf die vielen neuen, nicht enden wollenden Kriege in Nahost und der
sich weiter zuspitzenden Konfrontation zwischen der USA und Rußland jetzt ein
Dritter Weltkrieg? Was, wenn sich Russen und Amerikaner in Syrien beschießen?
Und die Franzosen und Engländer, wie sie jüngst bekundeten, auch in Syrien
bombardieren wollen?
Ich glaube nicht, daß jetzt ein Dritter Weltkrieg unmittelbar
droht. Der syrische Funke kann aber ganz schnell auf die Ukraine überspringen.
In US-amerikanischen Medien und Talkrunden wurde vor Jahresfrist ganz offen und
gehässig an die Moskauer Adresse geäußert: »Die Krise in der Ukraine ist die
Retourkutsche für Syrien.« Weil Wladimir Putin und sein Außenminister Sergej
Lawrow vor zwei Jahren den Krieg der US-Neokonservativen gegen Assad vereitelten.
Das war im Kontext der angeblich von Damaskus befohlene Giftgasangriff, was
gefakt war. Man hatte diesen Baschar al-Assad in die Schuhe geschoben, um Obama
in den Krieg zu drängen. Putin und Lawrow haben das verhindert, als sie sagten:
›Die chemischen Waffen kriegen wir aus Syrien
raus, ohne daß ihr Krieg
führt.‹
Der Krieg
in Syrien ist eigentlich kein Bürgerkrieg…….
Es ist kein Bürgerkrieg. Ein amerikanischer Offizier und Dozent an einer
US-Kriegsschule sagte treffend: »Das ist ein von außen hereingetragener Krieg.«
Der auf
weitere Nachbarländer und auch auf Europa übergreifen könnte? Droht real ein
Flächenbrand?
Dieser drohte schon vor zwei Jahren, als amerikanische und russische
Kriegsschiffe vor der syrischen Küste auf Sichtweite aneinander vorbei kreuzten
und die Amerikaner, Briten und Franzosen einen Bombenkrieg gegen Syrien
vorbereiteten. Ein russisches Kriegsschiff hätte einen über syrischen
Hoheitsgewässern befindlichen Bomber abschießen oder zumindest dessen
Flugkoordinaten an die syrischen Flugabwehrgeschütze weiterleiten können. Man
kann davon ausgehen, daß die Russen und die Syrier ihre Systeme längst
koordiniert haben. Und das hätte uns alle natürlich in die Bredouille
gebracht. Es bestand also schon einmal eine hochgefährliche Situation.
Retourkutschen nach dem Motto: ›Wenn ihr
uns ärgert, zünden wir mal wieder ein Feuerchen vor eurer Haustür an‹ sind tückisch. Deshalb hat Lawrow jetzt US- Außenminister John Kerry erneut gemahnt, er
möge doch einmal den wirklichen Experten beiderseits, den russischen und
amerikanischen Militärs, die Möglichkeit geben, miteinander zu reden, wenn er
Zusammenstöße vermeiden will. Das sind Professionelle. Aber Washington
sabotiert seit Jahren die Treffen der Spitzenmilitärs von beiden Seiten.
Ist es
nicht auch eine Retourkutsche, wenn Putin einen zweiten Marinestützpunkt an der
syrischen Küste aufmachen will?
Das ist seine einzige Option, wenn er verhindern will, daß in Syrien
ein Szenario wie in Libyen abläuft. Bis jetzt haben die Amerikaner IS gar nicht
richtig bombardiert. Das ist selbst den amerikanischen Medien aufgefallen. Da
gab es Anfragen ans Weiße Haus und ans Pentagon, warum das fast einjährige
Engagement überhaupt nichts bewirkt hat. Die faule Antwort lautete: Es sei
extrem schwierig, die IS-Truppen und Stützpunkte zu identifizieren. Und
zweitens sei man darauf bedacht, daß keine Zivilisten zu Schaden kommen. Da kann ich nur
staunen: Als ob die USA in all ihren Kriegen je Rücksicht auf Zivilisten
genommen hätten!
Siehe auch
die US-Drohnenangriffe auf Afghanistan und Pakistan.
Absolut richtig. Der eigentliche Grund für das vom Westen im Verein mit
der Türkei, Saudi-Arabien und Katar in Syrien veranstaltete Blutbad hat weder
etwas mit Demokratie, noch mit religiösen Fanatikern oder mit Menschenrechten
zu tun. Ein Blick in Fachzeitschriften der Öl- und Gasindustrie hätte schon vor
Jahren über die tatsächlichen Hintergründe des vom Westen und den
Golf-Monarchien angezettelten Konflikts in Syrien aufgeklärt. Aber
in Europa haben Politiker und Mainstream-Medien diese Informationen sofort im
Gedächtnisloch entsorgt. Denn wenn die Wahrheit bekannt würde, würde
die angebliche humanitäre und demokratische Sorge des Westens um Syrien sofort
als höchst kriminelle und mörderische Operation entlarvt. In der USA dagegen
scheut man sich nicht, offener über die eigentlichen Kriegsgründe in Syrien zu
reden. Im ›US-Armed Forces Journal‹ war am 21. März 2014 ein Artikel unter der
Überschrift ›Wenn man nicht von Erdgas
spricht, kann man den Konflikt nicht verstehen‹ zu lesen;
in diesem heißt es gleich im ersten Absatz: ›Ein
Großteil der Berichterstattung in den Medien legt nahe, daß es sich bei dem Konflikt in
Syrien um einen Bürgerkrieg handelt, in dem das alewitische (schiitische) Bashar
al-Assad-Regime sich gegen sunnitische Rebellengruppen verteidigt, wobei beide
Seiten auch Greueltaten begehen. Die wirkliche Erklärung ist einfacher: Es geht
um Geld.« Autor ist Major Rob Taylor, seines Zeichens Dozent am renommierten
Kommando- und Generalstabs-College, Ft. Leavenworth. Im zweiten Absatz ist zu
lesen: ›Im Jahr 2009 hat Katar
vorgeschlagen, eine Erdgaspipeline durch Syrien und die Türkei nach Europa zu
bauen. Stattdessen hat Assad einen Vertrag mit dem Iran und dem Irak unterzeichnet,
wodurch den von Schiiten dominierten Ländern der Zugang zum europäischen
Erdgasmarkt ermöglicht würde, während er Saudi-Arabien und Katar abblitzen ließ.
Wie es scheint, versuchen nun Letztere, Assad zu entfernen, so daß sie Syrien
kontrollieren und ihre eigene Pipeline durch die Türkei nach Europa führen
können.‹ Die beiden kurzen
Paragraphen werfen, obwohl auch sie ziemlich an der Oberfläche bleiben,
plötzlich einen ganz anderen Blick auf den Konflikt. Der Grund für das ganze
Fiasko ist offensichtlich, daß die USA ein weiteres menschenverachtendes imperialistisches
Abenteuer begonnen hat, das, wenn es aufgeht, die globalen Machtverhältnisse
verschieben wird.
Und wegen
dieses Abenteuers haben wir, besser gesagt: die Menschen im Irak und in Syrien,
jetzt den mörderischen IS am Hals?
Der sogenannte Islamische Staat ist zwar nicht unbedingt von den
US-Geheimdiensten aufgestellt worden, aber dennoch ein nützlicher Feind, den
man gewähren läßt und den
man natürlich nicht öffentlich unterstützt, sondern unter der Hand. Vor zwei
Monaten wurde in Großbritannien ein Gerichtsprozeß eröffnet, aber rasch wieder
eingestellt. Angeklagt war ein ehemaliger IS-Kämpfer, ein Schwede, der
ausgestiegen ist und sich in London niederlassen wollte. Er sollte belangt
werden, weil er für den IS gekämpft hatte. Wie der ›Guardian‹ und auch andere Blätter berichteten und mit Zitaten
belegten, hat die Verteidigung die Staatsanwaltschaft gewarnt: ›Wenn unser Mandant nicht freigelassen wird, weisen wir
nach, daß MI6 seine
Gruppe mit schweren Waffen aller Art ausgerüstet und im Umgang damit
unterrichtet hat.‹ Wenn schon die
Briten das machen, kann man absolut sicher sein, daß die Amis das auch machen.
Die Briten machen so etwas nicht im Alleingang. Es gibt sehr viele Hinweise auf
Ausbildungscamps in Jordanien, wo alle möglichen Kämpfer – al-Nusra-, al-Quaida-
und sogar IS-Leute –von amerikanischen Ausbildern an amerikanischen Waffen trainiert
werden. Man darf sich auch nicht vormachen, al-Nusra oder al-Quaida würden
isoliert und gegen den IS kämpfen. Die laufen mit den Waffen, mit dem Know-how
und fliegenden Fahnen zum IS über. Das wird nicht kontrolliert. Absichtlich
nicht.
Beweise haben
Sie dafür nicht?
Indizien gibt es genug, aber handfeste Beweise kann ich - noch nicht - vorlegen. Am nächsten hierzu kommt ein
Bericht der Defense Intelligence Agency, des Nachrichtendienstes des Pentagons.
Der warnte bereits 2012, als der IS noch nicht existierte, vor einem
islamischen Emirat. Und der vor zwei, drei Monaten herausgekommene DIA-Bericht
konstatiert, daß die Leute,
die man in Jordanien und anderswo ausbildet, keine moderaten Partner sind,
sondern Extremisten, die, sobald sie in Syrien sind, zum IS überlaufen. In dem
Bericht steht der Satz: ›Leider ist
das auf politischer Ebene von der USA, dem Westen, Saudi-Arabien und Katar
gewollt.‹ Es gibt Gründe, warum der
nützliche Feind IS gehätschelt wird. Und warum die US-Luftwaffe, die am syrischen
Himmel operiert, so ineffizient ist. Da fragt man sich natürlich auch, wozu die
vielen Aufklärungsflüge über Syrien. Der eigentliche Feind heißt nach wie vor
Assad, nicht IS.
Das
widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Schon mit den Taliban hat man
erleben müssen, daß man die Geister, die man rief, nicht mehr los wird.
Mit dem normalem Menschenverstand versteht man das alles nicht; erst
wenn man das Öl, die Pipelines und die darauf fokussierten geostrategischen
Verschiebungen mitbedenkt, bekommt das Ganze auf einmal eine ganz andere
Gewichtung. Es geht nicht um irgendeine Terrorgruppe in einem kleinen
mittelöstlichen Land, es geht auch nicht um Demokratie oder sonst etwas. Es
geht darum, Rußlands Einfluß auf Europa langfristig zurückzudrängen und Europa an
den amerikanischen Nabel zu binden.
Wo wird
Deutschland stehen, wenn sich die USA und Rußland auf syrischem Boden
bekriegen? Außenminister Frank-Walter Steinmeier erklärte dieser Tage, man
sollte Assad stützen. Das sind ganz neue Töne.
Das sind ganz neue Töne, genau. Vor dem Hintergrund der Katar-Pipeline
würde Deutschland zwar vom billigen Gas aus Katar profitieren, aber die
deutsche Industrie ist zu einem guten Teil auch von Aufträgen aus Rußland
abhängig. Katar kauft vergleichsweise wenig von Deutschland. Deutschland wäre
womöglich der Verlierer, wenn Assad stürzt. Zumindest würde Deutschland nicht
viel gewinnen. Deutschlands Interessen liegen also hier etwas anders als die
der Franzosen und Engländer, die mit ihren großen Gas- und Ölkonzernen schon
immer im Mittleren Osten präsent waren, wie auch die Amerikaner.
War die
strategische Partnerschaft der NATO mit Rußland vielleicht gar nicht gewollt?
Die war von Anfang an unehrlich. Man braucht sich nur die Agenden
anzuschauen. Worüber hat man sich auf diesen NATO-Treffen unterhalten?
Lächerlich – z.B. über Pensionszahlungen für Soldaten und wie die berechnet
werden. Da war keinerlei ernsthaftes Bemühen, sich besser kennenzulernen oder
einen gemeinsamen Nenner in der Einschätzung der geostrategischen Lagen zu
finden.
Die
strategische Partnerschaft mit Rußland hatte also gar keine Chance?
Die hatte nie eine Chance! Vielleicht hatte sie eine Chance in den
Köpfen von einigen Deutschen.
Egon Bahr
zum Beispiel.
Ja. Vielleicht sogar von einigen deutschen Militärs.
Ist die
strategische Partnerschaft beerdigt oder könnte sie wiederbelebt werden?
Sie hat nie existiert. Vielleicht hat man das in den Jahren russischer
Unterwürfigkeit geglaubt, als Boris Jelzin am Ruder war und - wie mir Leute aus
dem Apparat versicherten – Vertreter des Westens sich selbst in den russischen
Geheimdienstbüros frei bewegen und den Kollegen bei der Arbeit über die
Schulter blicken konnten. Das fand mit der Wahl Putins ein abruptes Ende.
Deshalb ist Putin der große Feind, egal, was er macht.
Und weil er
die unter Jelzin verlodderte und demoralisierte russische Armee wieder in einen
›ordentlichen‹ Zustand
gebracht hat. Gibt es ein militärisches Gleichgewicht zwischen der USA und Rußland?
Oh nein, auf globaler Ebene auf gar keinen Fall. Aber im Falle einer
ernsten Auseinandersetzung mit Rußland, meinetwegen um die Ukraine oder entlang der
russischen Westgrenze, sehen sich die Amerikaner selbst auf dem schwächeren
Ast, in verlierender Position. Wegen der Logistik. Mit der Luftwaffe kann man
nicht alles machen. Und die Luftwaffe der Russen ist auch nicht mehr so
schlecht; selbst wenn russische Piloten nicht die Kampferfahrung der
amerikanischen haben. Außerdem: Die NATO
und speziell die amerikanischen Piloten hatten schon immer Angst vor den
russischen Luftabwehrraketen. Sie bekamen es immer schmerzlich zu spüren, wenn
sie diese unterschätzt haben, ob über Korea oder Vietnam. Sogar die Israelis
beknien die Russen, dem Iran und Syrien nicht die S300 oder gar die S400 zu
liefern. Denn das würde ihrer Lufthoheit ein Ende bereiten.
Apropos:
Was für eine geostrategische Bedeutung hat der Streit um einige Riffs im
Südchinesischen Meer?
Man hat bei Probebohrungen im Südchinesischen Meer sehr große Gas- und
Öllager entdeckt und vermutet, daß es noch viel gigantischere gibt. Trotz der
gegenwärtigen Krise kann man China nicht mehr zurück in die Flasche drängen. In
drei, vier oder fünf Jahren wird die Krise vorbei und China die zweitgrößte
Wirtschaftsmacht der Welt sein und hinsichtlich des Produktionsausstoßes die
größte bleiben. Dafür braucht man Energie. Den größten Teil seiner Energie muß China
importieren. Das sind gigantische Mengen, das kostet gigantisch viel Geld.
Warum soll man nicht das Öl und Gas vor der eigenen Haustür ausbeuten - die
Lagerstätten beim sogenannten Continental Shelf, einem Seeterritorium – was ein
Oxymoron, ein Widerspruch in sich ist. China hat dieses Gebiet schon immer
beansprucht, und das ist von den Anrainern bis zurück ins Mittelalter auch respektiert
worden, wovon Verträge oder Landkarten aus dem 15./16. Jahrhundert
zeugen. Man stellt Chinas Besitzanspruch heute infrage, weil Japan nach dem
Zweiten Weltkrieg zum amerikanischen Orbit stieß und die USA als ›Pazifische Macht‹ die ganze
Region gegen das kommunistische China neu ›geordnet‹ hat. Die Chinesen pochen aber darauf: ›Diese Öl- und Gasfelder sind unsere. Wir beteiligen
andere gerne, auch die Anrainer, aber das ist unser.‹ Und um das
zu unterstreichen, haben sie jetzt einige Riffe aufgebaut, immens viel Sand und
Steine dorthin verschifft, eine Airbase und andere Basen errichtet. Sie sind,
so scheint es zumindest, bereit, diese Öl- und Gasfelder notfalls militärisch
zu verteidigen. Sie haben ein amerikanisches Spionageflugzeug, in dem sogar
eine CNN-Television-Crew saß, abgedrängt. Unter der Drohung, es von den eigenen
Flugzeugen nach China geleiten zu lassen und dort zur Landung zu zwingen, haben
sie erreicht, daß das
Flugzeug abdrehte. Was natürlich die amerikanische Arroganz enorm kränkte. In
diesen Kontext gehört auch die japanische Aufrüstung. Unter Shinzo Abe wurde
trotz großen Protestes des japanischen Volkes die Verfassung geändert. Japan
darf nunmehr nicht nur das eigene Territorium, sondern auch eigene Interessen
außerhalb verteidigen - ähnlich wie in der 1999 neu definierten strategischen
Doktrin der NATO
Mit den
berüchtigten Out of Area-Einsätzen.
Zum Beispiel. Explizit genannt sind als Interessen der Zugang zu Märkten
und Rohstoffen, die Sicherheit der Transportwege, also der Straße von Malakka
im Golf von Aden, wo mittlerweile ja auch die NATO steht und deutsche
Kriegsschiffe kreuzen, sowie – und das ist wichtig für die aktuelle Situation!
- militärisches Eingreifen fern der Heimat, um ungewollte Flüchtlingsströme zu stoppen.
Solches in Syrien mit der Bundeswehr zu tun, hat gerade Wolfgang Ischinger,
ehemaliger Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Botschafter in Washington, im ›Merkur‹ gefordert.
Diese Forderungen haben aber auch schon andere Politiker aufgestellt. Hier
greift man unausgesprochen auf das neue strategische Konzept der NATO von 1999
zurück.
Sie haben
als ›Topas‹ etliche
brisante Materialien der höchsten Geheimstufe aus Brüssel nach Ostberlin
geschickt. Der absolute Clou war wohl das 500seitige Dokument MC 161. Seither ist viel
Zeit vergangen: Können Sie uns jetzt nicht offenbaren, wem Sie diesen
spektakulären Erfolg verdanken, aus wessen Händen Sie das Konvolut erhielten?
Erst wenn ich definitiv weiß, daß die Personen, die mir da unbewußt geholfen
haben, nicht mehr leben, werde ich das vielleicht enthüllen.
Nun gut. Im
Januar 1990 hörten Sie über Kopfhörer ›Alle meine
Entchen‹ und wußten dadurch, daß es Aus ist, daß Sie nicht weiter spionieren sollten. Wer hat sich dieses Kinderlied als
Code einfallen lassen?
Die Zeile, die ich hörte, lautete: »Köpfchen in die Höh'«. Ich weiß
nicht, wer den Einfall hatte. Ich muß bei Gelegenheit mal nachfragen.
Und dann
haben Sie also aufgeräumt?
Ja, dann wurde aufgeräumt - alles, alles mußte weg. Die Codes, Kameras,
Radios, alles. Aber ich hatte sowieso nur wenig wirklich verfängliche Sachen
bei mir zu Hause. Das war die Maßgabe der HVA: So wenig wie möglich
Spionagematerial in der eigenen Wohnung. Natürlich brauchte man das kleine
Codebuch, aber das war nicht größer als ein Daumen und nicht dicker als zwei
Fingernägel. Ich hatte auch eine Aktentasche mit doppelter Rückwand. Sie war so
geschickt genäht, daß ich, wäre das Versteck - ohne Inhalt freilich - entdeckt
worden, sagen können hätte: ›Oh, das
habe ich gar nicht gesehen, das ist wohl ein Produktionsfehler.‹ Also kein Agentenkoffer. Ich hatte einen Schirm und
einen Tennisschläger mit Versteck für Filme und Kameras im Griff. Das war alles
sehr solide gearbeitet. Aber das mußte auch weg.
Oh je, all
das, was man aus kitschigen Agenten-Thrillern kennt?! Und nun haben Sie noch
nicht einmal mehr einen Füllhalter mit Minikamera?
Nee. Ich habe mir neulich so einen Füller aus China gekauft. Aber die
Kamera funktionierte nicht richtig. Ich habe das Ding schon wieder weggeworfen
- lacht.
Lebten Sie
seit jenem Januartag 1990, als Sie abgeschaltet wurden, in stetiger Angst vor
der Verhaftung? Zumal in diesem Monat ein Oberst, der Ihren Decknamen kannte,
von der Abteilung VII der HVA die Seiten wechselte.
Oberst Busch kannte Decknamen und Referenznummer. Ich wußte aber damals
noch nicht von seinem Übertritt zum BND, dem er quasi als Morgengabe sein
Teilwissen über mich reichte. Davon erfuhr ich erst im Zuge der
Gerichtsverhandlung. Da wurde unter anderem davon gesprochen, daß die NATO
ein Sieb war und ich praktisch die Botschaft des Warschauer Vertrages in der
NATO gewesen sei. Botschaften bekommen normalerweise alle Papiere. Nachdem
Busch den BND informiert hatte, setzte die Bundesanwaltschaft eine
Untersuchungskommission ein. Die Staatsschutzabteilung des Bundeskriminalamtes,
der Verfassungsschutz, der Militärische Abschirmdienst, etc., wurden auf mich
angesetzt. Auch im NATO-Sicherheitsapparat wurde eine spezielle Kommission
gebildet, um ›Topas‹ zu fangen. Aber ich hatte selbst eine hervorragende
Quelle im Sicherheitsapparat. Gerichtsnotorisch wurde der Satz: ›Ohne daß wir es wußten, saß Herr Rupp bei unseren Beratungen immer mit am
Tisch.‹
Warum haben
Sie sich nicht ins Ausland abgesetzt?
Wohin denn? Das Hinterland war weggebrochen, die DDR existierte nicht
mehr, die Sowjetunion hat sogar Honecker ausgeliefert und die deutsche Justiz
hat ihn in den Knast geschickt. Mit mir würde man, das war klar, auf jeden Fall
dasselbe tun.
Aber
Hansjoachim Tiedge, der Überläufer aus dem Bundesverfassungsschutz, wurde von
Moskau nicht ausgeliefert.
Offenbar hat sich da die Bundesrepublik nicht so angestrengt. Ich weiß,
daß ich - also ›Topas‹ - zweimal auf dem
Sprechzettel der Themen stand, die Helmut Kohl mit Jelzin persönlich bereden
wollte. Er wollte wissen, wer›Topas‹ ist und wie man an ihn herankommt.
Ich weiß, daß der
damalige Chef des Bundeskanzleramts, Geheimdienstchef Schmidbauer, mindestens
sechs bis sieben Mal bei Treffen mit seinem russischen Pendant nachfragte. Aber
die Russen wußten ohnehin
nicht, wer und wo ich war. Die HVA hatte mich gut abgeschottet.
Warum
flohen Sie nicht nach Lateinamerika?
Wir wollten mit drei Kindern kein Leben als Nomaden führen. Denn wir
hätten immer weiter, immer weiter ziehen müssen. Die Bundesregierung hat Koffer
voller Geld in alle Welt geschickt. Das war wirklich wie in schlechten
Spionagefilmen. Man hat auch meinem Führungsoffizier steuerfreies Geld
angeboten, wenn er meinen Namen enthüllt. Aber der hat lieber seine Strafrente
genommen.
So ein
Rummel um einen Spion, dessen Dienst nicht mehr existierte? Man hätte Kosten
und Nerven sparen können, war doch Ihre Geschichte mit dem 3. Oktober 1990
Geschichte.
Ich war damals in der Tat der meistgesuchte Mann. Der Bundesanwalt sprach
von der ›größten Suchaktion der
Dienste in der Nachkriegszeit.‹
Wie haben
die Kinder Ihre Verhaftung aufgenommen? Die Teenager wußten nichts von Ihrem
Doppelleben.
Meine Frau und ich wurden verhaftet, als wir bei meiner Mutter zu Besuch
waren, zu ihrem 70. Geburtstag. Die Kinder waren mit einem Schlag ohne Vater
und Mutter. Ich weiß nicht, wie sie in jenem Moment reagierten. Aber sie stehen
zu uns. Und neulich sagten sie feierlich, sie seien stolz auf uns. Was will man
mehr? Die schlechten Zeiten sind dann nur noch ein böser Traum.
Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/984992.retourkutschen-sind-tueckisch.html
https://www.neues-deutschland.de/artikel/984992.retourkutschen-sind-tueckisch.html
Retourkutschen sind tückisch
- Rainer Rupp über »Able Archer«,
seine Arbeit im NATO-Headquarter, den Syrien-Krieg und den Konflikt mit Rußland
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