Schandfleck

Rolf Verleger, Vorsitzender der Gruppe »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost«, mahnt nach dem israelischen Überfall

auf die Gaza-Hilfsflotte am Montag seine Mitstreiter: »Laßt uns daran arbeiten, daß eine positive Dynamik in diese katastrophalen Verhältnisse kommt. Ein Ansteigen von Antisemitismus kann nur verhindert werden, wenn für jedermann klar wird, daß es eine jüdische Opposition gegen die Ungeheuerlichkeiten gibt, die da aus Israels Irrweg erwachsen.«
 
An Bundeskanzlerin Angela Merkel richtete das frühere Direktoriumsmitglied des Zentralrats der Juden folgendes Schreiben:
 
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,
vor knapp zwei Jahren sagte mir ein Kollege, Psychologieprofessor aus Jerusalem, er sei sein ganzes Leben lang »links« gewesen, aber nun habe er die Nase voll. Er sei zu dieser Schlußfolgerung gekommen: Wenn Israel seine Ruhe nur dadurch haben könne, daß alles Leben in einer 15-Meilen-Zone um Israels Grenzen ausgelöscht würde, dann solle Israel dies tun. Dasselbe - in etwas schlichterer Form (»Tod allen Arabern«) - mußte sich vor einem Jahr meine Tochter anhören, als sie in Tel Aviv mit israelischen Bekannten von der Disko nach Hause fuhr.
 
Frau Dr. Merkel, die israelische Regierung läßt sich offen von solchen faschistischen Grundströmungen leiten: Demokratie ist nur etwas für Juden, Menschenrechte sind nur etwas für Juden, das Privileg, Opfer zu sein, ist nur etwas für Juden - alle anderen sind fundamentalistische Schurken, die es nicht besser verdient haben. Diese nationalistische Blindheit läßt Israel nicht vor offenen Verbrechen zurückschrecken: Vor einem Jahr 1400 Einwohner Gazas umbringen - »alles Feinde Israels«; heute ein Schiff außerhalb israelischer Gewässer entern und die Besatzung massakrieren - »alles Antisemiten«. Die jüdische Heimstätte sollte einmal ein Licht der Toleranz für alle Nationen Europas werden. Was ist daraus geworden?
 
Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben in den letzten Jahren freundlich zugesehen, wie sich der aus der Heimstätte entstandene Staat zu einem Schandfleck entwickelt hat, zu einem Schandfleck für sich selbst, zu einem Schandfleck für uns Juden, zu einem Schandfleck für die ihn unterstützenden Nationen des »Westens«. Das ist entsetzlich, und Sie, als gute Freundin Israels, haben nichts dagegen getan.
 
Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel, glauben Sie wirklich, Sie würden Hitlers Verbrechen dadurch lindern, daß Sie heute zusehen, wie Israel zum faschistischen Rüpel degeneriert? Stellen Sie sich den EU-Staaten, die begriffen haben, daß eine gerechte Lösung im Nahen Osten heute nur zu erzielen ist, wenn Israel die Regeln der Völkergemeinschaft akzeptiert, nicht länger in den Weg. Beenden Sie endlich den Boykott der rechtmäßig gewählten Hamas-Administration!
 
Hochachtungsvoll
Prof. Dr. Rolf Verleger
 
Quelle: http://www.jungewelt.de/2010/06-02/038.php