Gaza - »Untersuchen und nicht vorverurteilen«

d.a. Dies der Titel der nachstehenden Erklärung von Seiten des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten,

die in der Folge eine Entgegnung von Dr. Izzedin Musa zeitigte, die wir daran anschliessend ebenfalls veröffentlichen.  
 
»Der Arbeitskreis jüdischer SozialdemokratInnen ist über die Gewalt im Mittelmeer bestürzt. Wir rufen die israelische Regierung auf, die Umstände der Erstürmung eines der Schiffe des sogenannten Gaza-Hilfskonvois umfassend zu untersuchen und die Ergebnisse der  Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Insbesondere bleibt die Frage nach der Erforderlichkeit und Professionalität dieses Einsatzes zu klären. Zugleich warnen wir vor voreiligen Schuldzuweisungen und Schlußfolgerungen seitens internationaler und deutscher politischer Akteure und Parteien. Wir halten fest, daß die humanitäre Situation in Gaza Anlaß für Sorge bleibt und politisches Handeln auf allen Seiten erfordert. Diese Frage hat aber nichts mit dem konkreten Vorfall zu tun. Die Frage der Verhältnismäßigkeit der Erstürmung bleibt davon unberührt und muß getrennt beantwortet werden. Nicht zu vergessen ist hierbei auch, daß der Aktion des israelischen Militärs eine unmißverständliche Warnung an die Organisatoren der sogenannten Hilfsflotte vorausging. Die Entscheidung der Initiatoren, das Angebot der israelischen und der ägyptischen Regierungen auszuschlagen, die Hilfsgüter an die Bedürftigen über die Landwege zu verteilen, wirft die Frage nach den eigentlichen Motiven der Beteiligten auf. In diesem Zusammenhang traf auch die türkische Regierung, unter deren Flagge das betreffende Schiff unterwegs war, eine besondere Verantwortung, auf die Initiatoren deeskalierend zu wirken. Inwiefern die Regierung von Recep Erdogan dieser Verantwortung gerecht wurde, bleibt ebenfalls zu untersuchen. Wir bleiben dem Frieden und Erhaltung von Menschenleben verpflichtet! Menschenleben sind zu kostbar, um zu propagandistischen Zwecken mißbraucht zu werden. Daran sollten sich alle Seiten in diesem Konflikt erinnern. Auch gilt es gerade in Deutschland mit aller Kraft zu verhindern, daß die tragischen Ereignisse im Mittelmeer zu einem Vorwand für die Verbreitung von antisemitischer und israelfeindlicher Haltung mißbraucht werden.«
 
Liebe jüdische Genossinnen und Genossen,
mit Interesse und Aufmerksamkeit las ich eure Stellungnahme zum Militäreinsatz israelischer Soldaten, zur Erstürmung  der Friedens-Hilfsflotte für Gaza. Der erste Absatz insgesamt ist korrekt, und ich stimme damit überein. Eure berechtigte Forderung nach einer Klärung der Erstürmung wird von Israel verhemmt abgelehnt. Auch der Bundestag fordert ein Ende der Gaza-Blockade und verlangt eine Aufklärung des israelischen Angriffs auf die Hilfsflotte. Israel hat eine internationale unabhängige Untersuchungskommission abgelehnt. Inzwischen bietet Israel eine eigene Untersuchungskommission an, an der auch andere, nicht israelische Personen, teilnehmen dürften. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen lassen zu Recht  Zweifel an der Neutralität zu. Was bei einer solchen Untersuchung herauskommt, ist bekannt: gar nichts. Es ist so, als sollte ein Mörder seinen eigenen Mord »unabhängig« untersuchen. Bei der weiteren Stellungnahme habe ich in einigen Punkten Übereinstimmung entdeckt, jedoch sind einige Punkte darin zu bemängeln und bedürften einer Erklärung.
 
Der erste Satz des zweiten Absatzes wird eigentlich im allgemeinen herbeigeredet. Jedoch nicht in diesem Zusammenhang, da er den Eindruck vermitteln könnte, man schiebe die Schuld stets zuerst auf Israel. Dem ist wohl nicht so.  Gehen wir zum zweiten Satz, den man nur als zutreffend bezeichnen kann. Aber der Anschlußsatz, wenn ihr behauptet, dass die Frage der Erstürmung nichts damit zu tun hat, kann man so nicht im Raume stehen lassen. Denn, hätte die Blockade nicht bestanden, hätten die Menschen, die die unmenschliche Lage in Gaza nicht mehr ertragen konnten, nicht versucht, diese Blockade zu durchbrechen. Worauf Israel mit einem unverhältnismäßigen Militäreinsatz auf hoher See, der gegen internationales Recht verstößt, geantwortet hat. Die Frage der Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes, ob sie im Zusammenhang oder getrennt beantwortet wird, tut nichts zur Sache, da die Erstürmung in ihrer Gesamtheit nicht berechtigt war, weder von humanitärer noch von rechtlicher Seite. Gar unpassend ist der dritte Satz: »Nicht zu vergessen ist hierbei auch, daß der Aktion des israelischen Militärs eine unmißverständliche Warnung an die Organisatoren der sogenannten Hilfsflotte vorausging.«, den man als ein verstecktes Verständnis eurerseits für diese  Vorwarnung verstehen kann. Andererseits vermittelt er eine implizite Drohung! Heißt das etwa, daß die Menschen nicht versuchen sollten,  diese  unmenschliche Blockade zu durchbrechen? Wollt ihr in Kauf nehmen, daß diese Blockade ewig dauern sollte, damit es den Menschen dort, insbesondere den Kindern, an allem fehlt? Die 1,5 Millionen Menschen leben seit dem Ende des Überfalls auf Gaza, Sommer wie Winter, in Zelten. Sie haben nichts zu essen, sie haben keine Lernmaterialien. Es gibt keinen Strom. Ganz besonderes fehlt es an sauberem Trinkwasser, was ihnen nach internationalem Recht nicht verweigert werden darf. Mit anderen Worten, es fehlt diesen Menschen wirklich an allem, ohne nun im Detail alles aufzuzählen. Israel will die Menschen bestrafen, nur weil sie ihr elementares, international anerkanntes und verbrieftes Selbstbestimmungsrecht fordern, das ihnen, die sogenannte einzige Demokratie im Nahen Osten, Israel, seit seiner Gründung verweigert. Das ist das gleiche Israel, dessen Knessetmitglied, Gründer und Vorsitzender der ultrarechten Partei Israel Beiteinu, Avigdor Lieberman, ein ehemaliger Türsteher in einem Nachclub in Baku, gegen ihn läuft in Israel seit Jahren ein Verfahren wegen Bestechung und Geldwäsche, öffentlich in der Knesset forderte, arabische Knessetabgeordnete zu liquidieren. Nun ist dieser Ultrarassist und gefährlichste Politiker Israels Außenminister. Ein absolutes Armutszeugnis für Israel und seiner radikal-fanatischen Regierung. Man möge sich vorstellen, irgendein Mensch hier, abgesehen von Ministern, Abgeordneten oder irgendwelchen Politikern, fordert so etwas hier. Nicht auszudenken. Das kann ein Demokrat nie gut heißen und akzeptieren, geschweige denn ein Sozialdemokrat. Ich möchte hier zu der unmissverständlichen Warnung anmerken, daß Israel israelischen Tageszeitungen zufolge von Anfang an einen blutigen Angriff geplant hat, um alle weiteren Hilfskonvois abzuschrecken. Also eine Abschreckungsmaßnahme, die im nachhinein den helfenden Menschen nur noch mehr  Entschiedenheit und Entschlossenheit verliehen hat. Daß Israel allerdings so weit gehen würde, damit hat keiner der begleitenden Personen, Bundestagsabgeordnete, Knessetabgeordnete, Künstler, Schriftsteller, u.a. international renommierte Persönlichkeiten, die mit an Bord waren, gerechnet; sie waren daher auf diesen brutalen Angriff nicht vorbereitet. Für alle war das ein Überraschungsangriff aus heiterem Himmel.
In demselben Satz kommt übrigens der Bergriff sogenannte Hilfsflotte vor. Bedeutet das etwa, daß ihr an dem humanitären Zweck der Flotte zweifelt? Was unterstellt ihr den mutigen Menschen, die sehr große Opfer gebracht haben, um das Leid der Hungernden in Gaza ein wenig zu lindern? Wenn es so wäre, wäre das meines Erachtens infam.
 
Mit dem Angriff auf die Schiffe in internationalen Gewässern hat Israel ohne jeden Zweifel das Seerecht grob verletzt. Israel sollte sich demnächst hüten, wieder Hilfsschiffe zu kapern. Es isoliert sich zusehends und macht sich langsam für die ganze Welt unerträglich. Auch der folgende Satz: »Die Entscheidung der Initiatoren, das Angebot der israelischen und der ägyptischen Regierungen auszuschlagen, die Hilfsgüter an die Bedürftigen über die Landwege zu verteilen, wirft die Frage nach den eigentlichen Motiven der Beteiligten auf«, kann so nicht unkommentiert im Raume stehenbleiben. Zu Recht haben die beteiligten Personen dies ausgeschlagen, da Ägypten die Hälfte der Güter des Free Palestine Hilfskonvois von George Galloway konfisziert hatte und Israel genauso handeln würde. Es beschlagnahmt nämlich alle Materialen für den Wiederaufbau, aber auch viele andere Hilfsgüter dürfen nicht die Grenze nach Gaza passieren und werden deshalb beschlagnahmt. Das hat  Israel mit seinem letzten Überfall auf den Hilfskonvoi bewiesen. Durch den international wachsenden Druck gab Israel alle Gefangenen frei und wollte dann nach der Beschlagnahme aller wichtiger Materialien für den Wiederaufbau die Hilfsgüter an Gaza weiter ausliefern. Die dortige Regierung  hat dies zu Recht abgelehnt und forderte Israel auf, entweder alle Hilfsgüter oder gar nichts freizugeben. Ägyptens Präsident Mubarak handelt nur auf amerikanischen Befehl nach den Wünschen Israels. Diesem Politiker kann man also nicht trauen, zumal er mit Beschlagnahmen vertraut ist. Bis heute läßt er keine Hilfssendungen, die ägyptische Parlamentarier organisieren, nach Gaza durch
 
Liebe Genossinnen und Genossen, es wäre sehr zu begrüßen, wenn ihr euch an der von friedensliebenden deutschen Juden, nämlich den Juden für gerechten Frieden in Nahost initiierten, geplanten und durchzuführenden nächsten humanitären Schiffssendung, beteiligen würdet. Ihr schreibt: »In diesem Zusammenhang traf auch die türkische Regierung, unter deren Flagge das betreffende Schiff unterwegs war, eine besondere Verantwortung, um auf die Initiatoren deeskalierend zu wirken. Inwiefern die Regierung von Recep Erdogan dieser Verantwortung gerecht wurde, bleibt ebenfalls zu untersuchen.« Ich muß betonen, daß ich persönlich stets für Deeskalation bin, ich jedoch dennoch frage muß, wie Initiatoren deeskalierend wirken können, wenn sie mit dieser überraschenden Gewalt überhaupt nicht gerechnet haben? Fest steht: die israelische Armee hat die Schiffe außerhalb ihrer Hoheitsgewässer angegriffen, dort, wo das Seerecht die Freiheit der Meere grundsätzlich garantiert und verbrieft. Augenzeugenberichten zufolge fingen israelische Soldaten etwa zehn Minuten vor dem Überfall an, auf die Schiffe zu schießen. Die israelischen Soldaten haben mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Alle Toten haben die Schusswunden am Kopf oder in der Brust. Das kann nur mit Absicht geschehen sein. In diesem Fall ist die Rede von einer kaltblütigen Hinrichtung nicht abwegig.  
  
Und hierzu noch etwas bei dieser Gelegenheit: Es reicht, daß die Palästinenser um  des Friedens willen auf 78 % ihres historischen Lands zu Israels Gunsten verzichtet haben. Aber nein, Israel will alles, außer ein paar Fleckchen, auf denen die Palästinenser ihre Ghettos errichten sollten. Ausnahmsweise hatte der palästinensische Präsident Abbas neulich anerkannt und erklärt, daß es nichts mehr gibt, worauf die Palästinenser ihren Staat errichten können. Wiederum gebe ich ihm ausnahmsweise Recht. Abraham Melzer, der Herausgeber von Der Semit, hat es passend formuliert: Während die Palästinenser mit Israel über den Frieden in Palästina verhandeln, was er mit einer Pizza verglich, ißt Israel die Pizza auf und am Ende gibt es nichts mehr, worüber man verhandeln könnte.
  
Ich hätte gerne eure Aussage aus dem letzten Absatz: »Wir bleiben dem Frieden und Erhaltung von Menschenleben verpflichtet! Menschenleben sind zu kostbar, um zu propagandistischen Zwecken mißbraucht zu werden. Daran sollten sich alle Seiten in diesem Konflikt erinnern«, als Schlußwort genommen: nur muß sich Israel daran erinnern, daß es das Völkerrecht, das Menschenleben und die Menschenrechte der Palästinenser nicht immer  mit Füßen treten soll. Wir erinnern uns an den letzten Überfall auf Gaza, Ende 2008/ Anfang 2009, der in allen Einzelheiten dokumentiert ist. Die Bilder sind noch vor unseren Augen; Israel hat dort international geächtete und verbotene Waffen gegen Kinder, Frauen und Greise eingesetzt. Das bleibt haften. Israel hält das Land der Palästinenser seit über 43 Jahren  immer noch besetzt. Es enteignet, nimmt das Wasser weg, schikaniert, demütigt, entwürdigt, zerstört lebenswichtige Plantagen, exekutiert außergerichtlich, bestraft kollektiv, mordet,  baut eine Apartheidmauer, sperrt die Palästinenser in Ghettos ein, würgt die Wirtschaft ab, usw. Die Liste der Unmenschlichkeiten kann beliebig weitergeführt werden.
 
Nun euer allerletzte Satz: »Auch gilt es gerade in Deutschland mit aller Kraft zu verhindern, daß die tragischen Ereignisse im Mittelmeer zu einem Vorwand für die Verbreitung einer antisemitischen und israelfeindlichen Haltung mißbraucht wird.« Den hätte man sich wirklich sparen können. Müssen wir in der Tat stets mit der Antisemitismuskeule à la Henryk M. Broder um uns schlagen, um jede Kritik an der menschenverachtenden Politik Israels mundtot zu machen? Israel muß menschlicher werden, sich in die Weltgemeinschaft einfügen und den Palästinensern ihr Selbstbestimmungsrecht, was ihnen von der Staatengemeinschaft garantiert ist, zugestehen. Damit kann jeder Antihaltung gegen Juden oder gegen Israel von vornherein ein Riegel vorgeschoben werden. So einfach ist das.
 
Liebe Genossinnen und Genossen, es stünde jedem von euch gut zu Gesicht, wenn er öffentlich, laut  und in aller Deutlichkeit ein »Unrecht als Unrecht« bezeichnen würde. Von aufrechten SozialdemokratenInnen möchte ich das als eine Selbstverständlichkeit erwarten. Auf dieser Basis kann eine fruchtbare Diskussion, die zum Wohle Israels und Palästinas ist, geführt werden.
 
Mit solidarischen Grüßen
Dr. Izzeddin Musa, Wachtberg bei Bonn
Ein echter Semit, in Haifa geboren
 
Hervorhebungen durch politonline[1] http://www.hagalil.com/archiv/2010/06/03/j-sozis/ Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zur neuen Gaza-Krise