Offener Brief an Bundesrätin Karin Keller-Sutter - Warum all die Unwahrheiten? - Von Ulrich Schlüer

Frau Karin Keller-Sutter rief zur Medienkonferenz. Um öffentlich eine wahre

Kanonade fragwürdiger »Argumente« auf die Begrenzungs-Initiative abschiessen zu können. Sie, Frau Bundesrätin, liessen sich von Verbandssekretären, die Sie den Journalisten als »die Wirtschaft der Schweiz« vorzustellen beliebten, flankieren. Eine nicht ganz unerhebliche Auskunft zu Ihren »Assistenten« unterblieb freilich, wohl kaum aus Versehen. Denn die Sie assistierenden Verbandshengste vertraten Körperschaften: Den Arbeitgeberverband, den Gewerkschaftsbund, den Gewerbeverband, die alljährlich hohe dreistellige Millionenbeiträge von Ihnen, also aus der Bundeskasse, beziehen: Als Entschädigung für die Aufsichts-Wahrnehmung über die Einhaltung der Flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit durch alle Betriebe in der Schweiz. Diese Verbände befürchten offensichtlich markante Einbussen der ihnen vom Bund zufliessenden Millionenbeträge, wenn die Begrenzungs-Initiative angenommen würde…

Nähme man beim Bund Transparenz als Erfordernis so ernst, wie Bundesbern Transparenz von allen Firmen verlangt, dann hätten Sie die Öffentlichkeit über die massive finanzielle Abhängigkeit ihrer Assistenten von der Bundeskasse wohl ins Bild setzen müssen. Sie aber zogen es vor, den Mantel des Schweigens über solche Tatsachen, die das Pulver in Ihren Kanonen nass werden lassen können hätten, zu legen.

Drohpotential 

Dafür haben Sie mit allem Nachdruck aufgefahren, was Ihnen als Drohpotential gegen die von Ihnen gehasste Begrenzungs-Initiative irgendwie in den Sinn kam, weil Sie  - selbst nach durch Corona erzwungener Grenzschliessung -  unkontrollierte Einwanderung offenbar noch immer als grossartige Errungenschaft zu sehen belieben. Dafür wollen Sie die Hoheit über die Einwanderung an Brüssel abtreten. Auf dass Grenzschliessungen aus eigener Überzeugung  – zum Beispiel angesichts einer Pandemiedrohung –  nicht mehr möglich wären. Auf dass der Schweiz jegliche Beschränkung der Masseneinwanderung verboten würde, genau das, was der Schweizer Souverän am 9. Februar 2014 an der Urne gegen die Masseneinwanderung ausdrücklich verfügt hatte. Der Ausverkauf von Hoheitsrechten an Brüssel lockt sie offenbar mehr als das Einstehen für Willensbekundungen der Schweizer Stimmbürger.

Klar und krass wahrheitswidrig behaupten Sie, die SVP-Initiative führe zur automatischen Kündigung des Abkommens über die Personenfreizügigkeit mit der EU – und damit zur Liquidierung aller bilateralen Verträge. Eine schlimme Wahrheitsverdrehung!

In Wahrheit räumt die Begrenzungs-Initiative dem Bundesrat ein Jahr Zeit ein, die Personenfreizügigkeit mit Brüssel so neu auszuhandeln, dass das letzte Wort über die Landesgrenze, also die Entscheidung, wer die Schweiz betreten darf und wer nicht, bei der Schweiz bleibt. Nur dann, wenn Sie, Frau Bundesrätin, sich als zu schwach erachten, diesen Schweizer Standpunkt in Brüssel mit Rückgrat zu vertreten, nur dann käme es zur Kündigung des Abkommens. Aber allein des Abkommens über die Personenfreizügigkeit. Zu nichts anderem.

Österreich, Ungarn und Polen

Ist Ihnen entgangen, Frau Bundesrätin, dass Österreich, Ungarn und Polen – alle drei sind EU-Mitgliedstaaten – derzeit die in der Substanz genau gleiche Forderung an Brüssel richten, wie sie in der Begrenzungs-Initiative enthalten ist?

Und Österreich, Ungarn und Polen nehmen das, was Sie von Brüssel fordern, bereits vorweg. Sie zeigen täglich, dass sie das letzte Wort zu den eigenen Landesgrenzen sich selbst vorbehalten. Und sie entscheiden, wie es ihnen die Interessen der eigenen Länder vorgeben.

Recht auf Nachverhandlungen

Warum verschweigen Sie die Tatsache, dass im Personenfreizügigkeits-Vertrag, den die Schweiz mit der EU abgeschlossen hat, ausdrücklich das Recht jedes Vertragspartners aufgeführt ist (Artikel 14, Artikel 18), die Gegenseite zu Nach- oder Neuverhandlungen einzuladen, wenn sich die Einwanderungsverhältnisse seit dem Zeitpunkt, da der ursprüngliche Vertrag ausgehandelt worden ist, massiv verändert haben? Verfünffachung, Versechsfachung, Verachtfachung, Verzehnfachung der Einwanderung in die Schweiz: Das dürfte selbst Brüssel als massive Veränderung gegenüber den ursprünglichen Erwartungen akzeptieren – falls der Bundesrat nur bereit wäre, die Interessen der Schweiz in Brüssel mit Nachdruck in die Waagschale zu werfen.

Brüssel will Geld

Auch die Volkswirtschaften der EU-Länder sind von der mit Corona begründeten Stilllegung umfassender wirtschaftlicher Aktivität schwer getroffen worden. Brüssel macht deutlich, dass die EU auch von der Schweiz Zahlungen zur Wiederankurbelung der Wirtschaft erwartet. Durchaus möglich, dass es Bereiche gibt, an deren raschem Wiedererstarken die Schweiz interessiert ist.

Wenn Brüssel heute Geld von der Schweiz fordert, dann ist das nichts anderes als eine wunderbare Steilvorlage an Bern: Warum scheut sich Bern, klarzustellen, dass Verhandlungsbereitschaft über Wiederaufbauhilfe ganz davon abhängig ist, dass der Schweiz – Nichtmitglied der EU – die Hoheit über die eigene Landesgrenze belassen wird? Wer das ABC des Verhandelns hinreichend beherrscht, würde diese Steilvorlage nutzen. Warum schweigt Ihr für die Einwanderungsfragen zuständiges Departement dazu, Frau Bundesrätin Karin Keller-Sutter?

Wirtschaftsverbände im Alarmismus-Stadium

Die Hechte der von Ihnen jährlich mit dreistelligen Millionenbeträgen genährten Wirtschaftsverbände machen derweil auf Alarmismus und faseln vom Zusammenbruch sämtlicher Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Neu sind solche Horrorszenarien nicht. Sie wurden, so wirkungslos wie frei erfunden, schon vor der EWR-Abstimmung aufgefahren. Was sind die wahren Interessen z.B. des Wirtschafts-«Dachverbands» Economiesuisse, wo die Manager der Grosskonzerne fast das alleinige Sagen haben? Sie verlangen nach billigen Arbeitskräften. Sie wollen damit insbesondere die älteren Schweizer, so tüchtig diese Arbeitskräfte sich für das Gedeihen ihres Konzerns in den letzten Jahren auch eingesetzt haben, loswerden und durch billigere aus dem Ausland ersetzen.  

Mit enormem Einsatz haben diese Wirtschaftsverbände in Bern mit relativ knapper Mehrheit soeben die Entlassungsrente durchgesetzt. Damit haben sie freie Bahn, die 58-Jährigen schnöde in die Arbeitslosigkeit zu verjagen. Zwei Jahre bezahlt ihnen darauf die Arbeitslosenkasse eine Rente. Und danach erhalten sie – Dank der neuen Entlassungsrente – noch fünf Jahre lang die gleiche Entschädigung aus der Bundeskasse. Was die beiden Renten unterscheidet, fällt für die Manager der Grosskonzerne markant ins Gewicht. An die Arbeitslosenversicherung haben die Konzerne nämlich den hälftigen Anteil zu bezahlen, was Managerboni beeinträchtigen kann. Die finanziellen Mittel für die neue Entlassungsrente aber sind allein von den Steuerzahlern aufzubringen.

Skrupelloseren Egoismus, als er von Seiten dieser keineswegs knapp gehaltenen Manager ausgeht, hat man wahrhaftig selten erlebt. Bundesbern gibt ihm nach – keineswegs im Interesse der Schweiz.

 

Quelle;
https://schweizerzeit.ch/warum-all-die-unwahrheiten/

26. Juni 2020 
Ulrich Schlüer ist Verlagsleiter der
Schweizerzeit