Offener Brief an Bundesrätin Karin Keller-Sutter - Warum all die Unwahrheiten? - Von Ulrich Schlüer 28.06.2020 21:16
Frau Karin Keller-Sutter rief zur Medienkonferenz. Um öffentlich eine wahre
Kanonade fragwürdiger »Argumente« auf die Begrenzungs-Initiative abschiessen zu können. Sie, Frau Bundesrätin, liessen sich von Verbandssekretären, die Sie den Journalisten als »die Wirtschaft der Schweiz« vorzustellen beliebten, flankieren. Eine nicht ganz unerhebliche Auskunft zu Ihren »Assistenten« unterblieb freilich, wohl kaum aus Versehen. Denn die Sie assistierenden Verbandshengste vertraten Körperschaften: Den Arbeitgeberverband, den
Gewerkschaftsbund, den Gewerbeverband, die alljährlich hohe dreistellige
Millionenbeiträge von Ihnen, also aus der Bundeskasse, beziehen: Als
Entschädigung für die Aufsichts-Wahrnehmung über die Einhaltung der
Flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit durch alle Betriebe in der
Schweiz. Diese Verbände befürchten offensichtlich markante Einbussen der ihnen
vom Bund zufliessenden Millionenbeträge, wenn die Begrenzungs-Initiative
angenommen würde…
Nähme man beim Bund
Transparenz als Erfordernis so ernst, wie Bundesbern Transparenz von allen
Firmen verlangt, dann hätten Sie die Öffentlichkeit über die massive
finanzielle Abhängigkeit ihrer Assistenten von der Bundeskasse wohl ins Bild
setzen müssen. Sie aber zogen es vor, den Mantel des Schweigens über solche
Tatsachen, die das Pulver in Ihren Kanonen nass werden lassen können hätten, zu
legen.
Drohpotential
Dafür haben Sie mit allem
Nachdruck aufgefahren, was Ihnen als Drohpotential gegen die von Ihnen gehasste
Begrenzungs-Initiative irgendwie in den Sinn kam, weil Sie - selbst nach durch Corona erzwungener
Grenzschliessung - unkontrollierte
Einwanderung offenbar noch immer als grossartige Errungenschaft zu sehen
belieben. Dafür wollen Sie die Hoheit über die Einwanderung an Brüssel
abtreten. Auf dass Grenzschliessungen aus eigener Überzeugung – zum Beispiel angesichts einer
Pandemiedrohung – nicht mehr möglich
wären. Auf dass der Schweiz jegliche Beschränkung der Masseneinwanderung
verboten würde, genau das, was der Schweizer Souverän am 9. Februar 2014 an der
Urne gegen die Masseneinwanderung ausdrücklich verfügt hatte. Der Ausverkauf
von Hoheitsrechten an Brüssel lockt sie offenbar mehr als das Einstehen für
Willensbekundungen der Schweizer Stimmbürger.
Klar und krass
wahrheitswidrig behaupten Sie, die SVP-Initiative führe zur automatischen
Kündigung des Abkommens über die Personenfreizügigkeit mit der EU – und damit
zur Liquidierung aller bilateralen Verträge. Eine schlimme Wahrheitsverdrehung!
In Wahrheit räumt die
Begrenzungs-Initiative dem Bundesrat ein Jahr Zeit ein, die Personenfreizügigkeit
mit Brüssel so neu auszuhandeln, dass das letzte Wort über die Landesgrenze,
also die Entscheidung, wer die Schweiz betreten darf und wer nicht, bei der
Schweiz bleibt. Nur dann, wenn Sie, Frau Bundesrätin, sich als zu schwach
erachten, diesen Schweizer Standpunkt in Brüssel mit Rückgrat zu vertreten, nur
dann käme es zur Kündigung des Abkommens. Aber allein des
Abkommens über die Personenfreizügigkeit. Zu nichts anderem.
Österreich, Ungarn und Polen
Ist Ihnen entgangen, Frau
Bundesrätin, dass Österreich, Ungarn und Polen – alle drei sind
EU-Mitgliedstaaten – derzeit die in der Substanz genau gleiche Forderung an
Brüssel richten, wie sie in der Begrenzungs-Initiative enthalten ist?
Und Österreich, Ungarn und
Polen nehmen das, was Sie von Brüssel fordern, bereits vorweg. Sie zeigen
täglich, dass sie das letzte Wort zu den eigenen Landesgrenzen sich selbst
vorbehalten. Und sie entscheiden, wie es ihnen die Interessen der eigenen
Länder vorgeben.
Recht auf Nachverhandlungen
Warum verschweigen Sie die Tatsache, dass im
Personenfreizügigkeits-Vertrag, den die Schweiz mit der EU abgeschlossen hat,
ausdrücklich das Recht jedes Vertragspartners aufgeführt ist (Artikel 14,
Artikel 18), die Gegenseite zu Nach- oder Neuverhandlungen einzuladen, wenn
sich die Einwanderungsverhältnisse seit dem Zeitpunkt, da der ursprüngliche
Vertrag ausgehandelt worden ist, massiv verändert haben? Verfünffachung,
Versechsfachung, Verachtfachung, Verzehnfachung der Einwanderung in die
Schweiz: Das dürfte selbst Brüssel als massive Veränderung gegenüber den
ursprünglichen Erwartungen akzeptieren – falls der Bundesrat nur bereit wäre,
die Interessen der Schweiz in Brüssel mit Nachdruck in die Waagschale zu
werfen.
Brüssel will Geld
Auch die Volkswirtschaften der EU-Länder sind von
der mit Corona begründeten Stilllegung umfassender wirtschaftlicher Aktivität
schwer getroffen worden. Brüssel macht deutlich, dass die EU auch von der
Schweiz Zahlungen zur Wiederankurbelung der Wirtschaft erwartet. Durchaus
möglich, dass es Bereiche gibt, an deren raschem Wiedererstarken die Schweiz
interessiert ist.
Wenn Brüssel heute Geld von der Schweiz fordert,
dann ist das nichts anderes als eine wunderbare Steilvorlage an Bern: Warum
scheut sich Bern, klarzustellen, dass Verhandlungsbereitschaft über
Wiederaufbauhilfe ganz davon abhängig ist, dass der Schweiz – Nichtmitglied der
EU – die Hoheit über die eigene Landesgrenze belassen wird? Wer das ABC des
Verhandelns hinreichend beherrscht, würde diese Steilvorlage nutzen. Warum
schweigt Ihr für die Einwanderungsfragen zuständiges Departement dazu, Frau
Bundesrätin Karin Keller-Sutter?
Wirtschaftsverbände im
Alarmismus-Stadium
Die Hechte der von Ihnen
jährlich mit dreistelligen Millionenbeträgen genährten Wirtschaftsverbände
machen derweil auf Alarmismus und faseln vom Zusammenbruch sämtlicher
Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Neu sind solche Horrorszenarien
nicht. Sie wurden, so wirkungslos wie frei erfunden, schon vor der EWR-Abstimmung
aufgefahren. Was sind die wahren Interessen z.B. des Wirtschafts-«Dachverbands»
Economiesuisse, wo die Manager der Grosskonzerne fast das alleinige Sagen
haben? Sie verlangen nach billigen Arbeitskräften. Sie wollen damit
insbesondere die älteren Schweizer, so tüchtig diese Arbeitskräfte sich für das
Gedeihen ihres Konzerns in den letzten Jahren auch eingesetzt haben, loswerden und
durch billigere aus dem Ausland ersetzen.
Mit enormem Einsatz haben
diese Wirtschaftsverbände in Bern mit relativ knapper Mehrheit soeben die
Entlassungsrente durchgesetzt. Damit haben sie freie Bahn, die 58-Jährigen schnöde
in die Arbeitslosigkeit zu verjagen. Zwei Jahre bezahlt ihnen darauf die
Arbeitslosenkasse eine Rente. Und danach erhalten sie – Dank der neuen
Entlassungsrente – noch fünf Jahre lang die gleiche Entschädigung aus der
Bundeskasse. Was die beiden Renten unterscheidet, fällt für die Manager der
Grosskonzerne markant ins Gewicht. An die Arbeitslosenversicherung haben die
Konzerne nämlich den hälftigen Anteil zu bezahlen, was Managerboni
beeinträchtigen kann. Die finanziellen Mittel für die neue Entlassungsrente
aber sind allein von den Steuerzahlern aufzubringen.
Skrupelloseren Egoismus,
als er von Seiten dieser keineswegs knapp gehaltenen Manager ausgeht, hat man
wahrhaftig selten erlebt. Bundesbern gibt ihm nach – keineswegs im Interesse
der Schweiz.
Quelle; https://schweizerzeit.ch/warum-all-die-unwahrheiten/
26. Juni 2020 Ulrich Schlüer ist Verlagsleiter
der ›Schweizerzeit‹
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