Sofern sie noch leben ?

Als Ergänzung zu dem Bericht "Wer ist "Sam", der deutsche Foltergesandte?" bringen wir hier einen ergänzenden Artikel

Bremen/Guantánamo/Damaskus/Kabul/Berlin - (Eigener Bericht) - In Zusammenarbeit mit US-Behörden haben deutsche Stellen den verschleppten Bremer Murat Kurnaz im US-Lager Guantánamo verhört und ihn anschließend seinen Folterern überlassen. Dies ergeben Recherchen von german-foreign-policy.com. Der 23jährige befindet sich seit vier Jahren in den Händen der US-Behörden. Er ist ohne Rechtsbeistand der Bundesrepublik, aber wurde von deutschen Stellen in dem Folterlager Guantánamo Vernehmungen ausgesetzt. Murat Kurnaz hat bestätigt, "dass er von Deutschen vernommen worden ist", berichtet sein Rechtsanwalt Bernhard Docke im Gespräch mit dieser Redaktion. Auch die Bundesbürger Khaled el-Masri (aus Ulm) und Haydar Zammar (aus Hamburg) wurden an den Orten ihrer Folterhaft von Deutschen ausgefragt. Damit vervollständigt sich das Bild einer systematischen Kooperation deutscher Sicherheits- und Geheimdienstkreise mit dem CIA-Netzwerk, das wegen Menschenraub und Folterverbrechen unter internationaler Anklage steht. Die Zusammenarbeit reicht von der Bereitstellung von Infrastruktur für Gefangenentransporte bis zu geheimdienstlichem Informationsaustausch. Dabei werden auch unter Folter erpresste Aussagen verwertet. Verantwortlich sind mehrere Minister der vorigen sowie der gegenwärtigen Bundesregierung, gegen die Anzeigen wegen Beihilfe und schwerem Verfassungsbruch anhängig sind.
 
Murat Kurnaz wurde im Dezember 2001 im Alter von 19 Jahren auf einer Auslandsreise festgenommen und rechtswidrig auf die US-Basis Guantánamo verschleppt. Dort ist er mehrfach gefoltert worden; bis heute ist seine Freilassung nicht in Sicht, obwohl eine US-Bundesrichterin seine Unschuld bescheinigt. Der ehemalige Außenminister Fischer hat es abgelehnt, sich für die Befreiung des in Deutschland geborenen Folteropfers diplomatisch einzusetzen  -  weil der Gefolterte nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitze und Washington deshalb Verhandlungen mit Berlin ablehne. "Wenn (...) man Menschenrechtsverletzungen nur dann ansprechen darf, wenn der Staat, gegenüber dem man das vorträgt, seine Einwilligung dazu gibt, dann dürfte man auch nicht Menschenrechtsverletzungen irgendwo in Afrika, in China oder sonstwo kritisieren", sagt Bernhard Docke, Kurnaz' Rechtsanwalt, im Gespräch mit german-foreign-policy.com.
 
Infrastruktur, Informationsaustausch...
Berlin lehnt nicht nur Verhandlungen zur Freilassung des Folteropfers ab, sondern kooperiert auf mehreren Stufen mit den Folterern. Ob der Gefangenenflug, mit dem Kurnaz nach Guantánamo verschleppt wurde, deutschen Luftraum durchquerte, ist nicht bekannt; dass zahlreiche Flüge mit anderen Opfern dies taten, gilt inzwischen als sicher. Auch der Informationsaustausch deutscher Sicherheits- und Geheimdienstbehörden mit ihren US-Partnerorganisationen (darunter die CIA) wird inzwischen weithin zugegeben. Wie Rechtsanwalt Docke bestätigt, hat es die Bremer Staatsanwaltschaft zwar offiziell abgelehnt, den US-Behörden Einsicht in Ermittlungsakten über Murat Kurnaz zu gewähren: "Trotzdem gibt es Dinge, die eigentlich nur exklusiv der Bremer Akte vorbehalten sind, auch in der amerikanischen Akte". Über identische Erfahrungen berichtet ein anderes deutsches Entführungsopfer.[1]
 
... Informationsgewinnung
Rechtsanwalt Docke vermutet, die Weitergabe von Daten über Murat Kurnaz könnte ein Gastgeschenk der BRD-Seite an die US-Täter sein  -  als Gegenleistung für "den Besuch von Deutschen in Guantánamo". Gemeint sind nicht Ärzte oder Rechtsbeistände, die den gefolterten Bremer unterstützt hätten, sondern deutsche Ermittler. Kurnaz hat bestätigt, "dass er von Deutschen vernommen worden ist", berichtet Docke. Der Rechtsanwalt verweist auf Pressemeldungen aus dem Jahr 2003, nach denen sich Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Verfassungsschutzes (VS) in Guantánamo aufgehalten haben, um das deutsche Folteropfer zu befragen. Die offenkundige Übereinstimmung beider Hinweise runde "die Vermutung (ab), dass Deutsche in Guantánamo gewesen sind", sagte Docke am gestrigen Dienstag dieser Redaktion.
 
Rücksprache mit Deutschland
Damit weist der "Fall Kurnaz" frappierende Ähnlichkeiten mit dem "Fall Zammar" auf.[2] Berichte, denen zufolge Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes (BKA), des BND und des VS in einem syrischen Foltergefängnis den deutschen Staatsbürger Haydar Zammar verhört haben, werden inzwischen nicht mehr ernsthaft dementiert. Das Opfer gilt trotz mehrtägiger Verhöre durch die deutschen Beamten bis heute als "verschollen". Haydar Zammar wurde seinen Folterern überlassen. Die Übereinstimmungen zwischen dem "Fall Kurnaz" und dem "Fall Zammar" wiederholen sich auch im "Fall el-Masri". Der nach Afghanistan verschleppte Deutsche Khaled el-Masri wurde in seiner Kabuler Folterhaft gleichfalls von einem Deutschen vernommen, der die Frage nicht beantworten wollte, ob er Mitarbeiter einer deutschen Behörde sei. "Einmal sagte er, er müsse Rücksprache mit Deutschland halten", berichtet el-Masris Anwalt über den ominösen Deutschen ("Sam") in der Presse.[3]
 
Doppelspiel
Die deutschen Verhöre in Foltergefängnissen bilden den Schlussstein einer offenkundigen Beteiligung deutscher Sicherheitsbehörden an dem US-geführten Globalsystem von Verschleppungen und Misshandlungen tatsächlicher oder angeblicher "feindlicher Kämpfer". Nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen geht die deutsche Seite dabei doppelgleisig vor: Sie bestreitet ihre rechtliche oder faktische Möglichkeit, die Gefolterten zu befreien, aber nutzt das Foltermartyrium, um in den Verliesen der Verschleppten geheime Befragungen durchzuführen. Diese Tätigkeit stimmt sie mit den Folterern ab und macht sich dabei der offenkundigen Beihilfe zu schweren Verbrechen schuldig. Gleichzeitig schützt Berlin gegenüber den Angehörigen und den Anwälten der Gefolterten Nichtwissen vor.
Eine unmittelbare Folge dieses Doppelspiels ist die anhaltende und totale Entrechtung des Bremers Murat Kurnaz, der mit Wissen der Bundesregierung das fünfte Jahr seiner Torturen in Guantánamo beginnt. Auch das fortdauernde Folterschicksal von Haydar Zammar, des deutschen Staatsbürgers aus Hamburg, der zuletzt in einer Zelle in Damaskus gesehen wurde, ist eine Konsequenz der Berliner Politik. Verantwortlich sind u.a. die Minister Steinmeier, Fischer, Schily und Zypries [4]; sie haben die Gefolterten ihrem Schicksal überlassen und es bis heute nicht für nötig befunden, zur sofortigen Freilassung der Opfer öffentlich aufzurufen.[5]
 
Während im Berliner Reichstag Rechtfertigungen ausgetauscht werden, warten Kurnaz und Zammar auf Hilfe - sofern sie noch leben.
 
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/56155 vom 14. 12. 2005
 
Lesen Sie auch das Interview mit Rechtsanwalt Bernhard Docke.
[1] s. dazu Wer ist "Sam", der deutsche Foltergesandte?
[2] s. dazu Wo ist Haydar Zammar?
[3] Wer ist "Sam"?; Schwäbische Zeitung 12.12.2005
[4] s. dazu Nach Recht und Gesetz
[5] Eine völlig andere Zuwendung erfährt Susanne Osthoff, eine dem Auswärtigen Amt nahestehende Deutsche, die in Afghanistan entführt wurde. S. dazu Kein Fall für Berlin und Rückzugsgebiet sowie Das Leben der Geisel
s. auch Berlin schweigt und Bloßgestellt