Der Westen gegen den »Rest« 18.09.2022 19:36
Die EU strebt im Machtkampf gegen Russland und China eine umfassende Ausdehnung des westlichen Blocks an und wird im Innern gegen »trojanische Pferde« auswärtiger Mächte vorgehen. Dies geht aus der »State of the Union-Rede« von Ursula von der Leyen vom 14. September hervor. Während die EU die Blockbildung vorantreibt, entstehen im nichtwestlichen »Rest« der Welt - es handelt sich um drei Viertel sämtlicher Staaten - neue Bündnisse, die eine multipolare Ordnung anstreben. Beteiligt sind neben Russland und China auch Indien, Brasilien und Südafrika. Die Mitgliedschaft in den Bündnissen BRICS oder SCO, Shanghai Cooperation Organisation, streben so unterschiedliche Staaten wie Argentinien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Indonesien an.
und wird im Innern gegen »trojanische Pferde« auswärtiger Mächte vorgehen. Dies geht aus der »State of the Union-Rede« von Ursula von der Leyen vom 14. September hervor. Während die EU die Blockbildung vorantreibt, entstehen im nichtwestlichen »Rest« der Welt - es handelt sich um drei Viertel sämtlicher Staaten - neue Bündnisse, die eine multipolare Ordnung anstreben. Beteiligt sind neben Russland und China auch Indien, Brasilien und Südafrika. Die Mitgliedschaft in den Bündnissen BRICS oder SCO, Shanghai Cooperation Organisation, streben so unterschiedliche Staaten wie Argentinien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Indonesien an.
Es sei jetzt an der Zeit, »unsere Aussenpolitik-Agenda
neu zu durchdenken«, erklärte die Kommissionspräsidentin; dabei gelte es,
gezielt »in die Macht der Demokratien zu investieren«. Wie aus ihren nicht
immer präzisen Zuordnungen hervorzugehen scheint, ist der »Kern« dabei offenbar
das transatlantische Bündnis, wohl zuzüglich der Staaten Australien, Neuseeland,
Japan und Südkorea. Von diesem »Kern« ausgehend behauptete von der Leyen, die
teils recht erheblichen Differenzen innerhalb des Westens ignorierend, die
westlichen Demokratien seien Freunde, die »die Welt mit denselben Augen« sähen.
Freunde seien neben den G7- und den NATO-Staaten auch die Ukraine, Moldawien,
Georgien sowie die Opposition in Belarus, die es in einem ersten Schritt enger
an den »Kern der Demokratien« heranzuführen gelte. Die betonte Aufwertung der
eigenen Verbündeten [Demokratien] sowie
die dezidierte Abwertung von Rivalen und Feinden, tatsächliche oder angebliche »Autokratien«,
lag im Dezember 2021 bereits dem Washingtoner
Demokratiegipfel von US-Präsident Joe Biden zugrunde. Wie von der Leyen weiter
erklärte, hänge unsere Zukunft allerdings auch von unserer Fähigkeit ab, »über
den Kern unserer demokratischen Partner hinaus« mit anderen Staaten zu kooperieren.
Sie nahm dabei ausdrücklich die Staaten
Afrikas in den Blick. Diese wolle man unter anderem mit einem »Global Gateway«,
einem gross dimensionierten und zweimal grossspurig
verkündeten Investitionsprogramm, das allerdings bisher noch keine echten
Erfolge zeitigt, gewinnen. Von der Leyen zufolge soll dieser Ansatz nun auch in Lateinamerika verfolgt
werden; dabei greift die EU-Propaganda in ihrer Selbstdarstellung nach aussen
gern auf den Ausdruck »Team Europe« zurück. Die Absicht, für den eigenen Block zahlreiche Verbündete in aller Welt zu
gewinnen, geht mit ihrer Ankündigung einher, man werde es nicht zulassen, dass ausländische
Autokraten und ausländische Organisationen innerhalb der EU dazu beitrügen, »unsere
Werte zu unterminieren«. So werde man dagegen vorgehen, dass »trojanische Pferde« irgendeiner Autokratie
unsere Demokratien von innen angreifen. Ausländischer Einfluss in der Union
werde in Zukunft mit einem »Defence of Democracy«-Paket offengelegt. Während
die EU also im Innern auf Abschottung und nach aussen auf Blockbildung und
Expansion setzt, erhalten nichtwestliche Bündnisse, die auf eine
multipolare Ordnung zielen und an einer Spaltung der Welt in zwei
Blöcke kein Interesse haben, Zulauf.
Ein Zusammenschluss, der sich derzeit im Aufwind befindet,
ist das BRICS-Bündnis: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.
Ursprünglich gegründet, um die spezifischen Interessen der fünf aufstrebenden
Schwellenländer zu vertreten, gewinnt die Kooperation inzwischen auch für
weitere Staaten, die entweder vom Westen ausgegrenzt und mit Sanktionen bekämpft
werden, oder die für sich in einer vom Westen dominierten Welt aus anderen
Gründen wenig Chancen sehen, an Attraktivität. Dezidiert BRICS- Mitglied werden
wollen Iran und Argentinien. An einem Treffen im »BRICS Plus«-Format im Mai, das auf eine engere Kooperation
abzielt, nahmen ausserdem Indonesien und Thailand, Kasachstan, Saudi-Arabien
und die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Nigeria sowie Senegal teil. Beim
jüngsten BRICS-Gipfel Ende Juni erklärte Chinas Präsident
Xi Jinping, es gehe den Mitgliedern des Bündnisses nicht darum, einen
antiwestlichen Block zu schmieden, sondern darum, jede Kaltekriegsmentalität
und Blockkonfrontation zurückzuweisen.
Ebenfalls
Zulauf erhält die Shanghai Cooperation Organisation [SCO],
die am 15. 9. im usbekischen Samarkand ihr
jüngstes Gipfeltreffen abhielt; der Beschluss einer Aufnahme Irans stand auf
der Tagesordnung. Die SCO wurde im Jahr 2001 von China, Russland und vier
Staaten Zentralasiens, Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan und Tadschikistan gegründet;
im Jahr 2017 traten ihr Indien und Pakistan bei. Die Kooperation im SCO-Format
ist breit angelegt. Sie umfasst eine Vielzahl an Bereichen: Von Wirtschaft bis
hin zu Kultur, von der Bekämpfung von Terrorismus und organisierter
Kriminalität bis hin zu militärischen Aktivitäten. Im Westen wurde die SCO oft
unter- oder überschätzt, als wenig handlungsfähiger Koloss belächelt oder
fälschlich als antiwestliches Militärbündnis, »Anti-NATO«,
beschrieben. In Wirklichkeit gestattet es die SCO ihren Mitgliedern, ein gewisses
Mass an Kooperation, insbesondere auf den Feldern der Wirtschaft und der Abwehr
terroristischer Aktivitäten, zu pflegen. Zu ihren Schwächen zählen ernste
Spannungen zwischen einigen Mitgliedern; die Beziehungen zwischen Indien und
Pakistan gelten seit jeher als miserabel und Indien betrachtet China als grossen
asiatischen Rivalen. Dennoch befindet sich die SCO aktuell im Aufwind; den
Status eines Dialogpartners besitzen bereits die Türkei, Sri Lanka und Nepal,
Kambodscha, Armenien und Aserbaidschan.
Angestrebt wird ein solcher derzeit von Saudi-Arabien, Ägypten und Qatar. Sollte
die SCO den arabischen Golfstaaten den Status eines Dialogpartners gewähren, so
wäre das ein weiterer Schritt Riads und Abu Dhabis weg von ihrer exklusiven Bindung
an die USA bzw. an westliche Mächte und hin zu einer Kooperation mit mehreren
Machtpolen, ein Schritt in Richtung multipolare Welt. Mit deren Herausbildung
käme die bisherige globale Dominanz des Westens an ihr Ende. [1]
Was nun Aserbaidschan,
von der Leyen zufolge ein vertrauenswürdiger Partner der EU, angeht, so droht das
Land mit Angriffen auf den Nachbarstaat Armenien einen neuen Krieg im Südkaukasus
zu entfesseln. Bei den Angriffen in der Nacht zum 13. September kamen fast 50
Armenier ums Leben. Die Kämpfe flauten am Vormittag des 13. 9. zunächst wieder
ab. Aserbaidschan wird in Deutschland und der EU als wichtiger Erdgaslieferant
betrachtet, der mit neuen Exporten dazu beitragen soll, die Union von
russischem Erdgas unabhängig zu machen. Die EU-Kommissionspräsidentin hatte das
Land am 18. Juli beim Abschluss einer Liefervereinbarung explizit als verlässlich
und vertrauenswürdig eingestuft. Für die EU und die Bundesrepublik sind die
neuen aserbaidschanischen Angriffe auf Armenien auch deshalb unangenehm, weil
es ihnen trotz jahrzehntelanger Anstrengungen nicht gelungen ist, sich im
Südkaukasus als Ordnungsmacht zu positionieren. Diese Position haben seit 2020
Russland und die Türkei inne. Auf deren Intervention ging auch die Einstellung
der Kampfhandlungen am 13. 9. zurück.
Armenien und Aserbaidschan beschuldigen sich gegenseitig, für die Eskalation verantwortlich
zu sein; freilich wird die Version Armeniens dadurch gestützt, dass mehrere
armenische Städte in einiger Entfernung von der Konfliktlinie an der
gemeinsamen Grenze offenbar gezielt von aserbaidschanischen Truppen beschossen wurden.
Die Zahl der Todesopfer auf aserbaidschanischer Seite wird mit ebenfalls rund
50 angegeben. Der Waffengang, der heftigste seit dem Krieg zwischen Armenien
und Aserbaidschan im Herbst 2020, ist nun zumindest eingedämmt worden, wenngleich
die armenische Seite im Laufe des 13. 9. weiterhin einen sporadischen Beschuss
an einigen Frontabschnitten vermeldete. Sollten die Kämpfe eskalieren, droht neben
dem Ukraine-Krieg ein zweiter vollumfassender Krieg auf dem Territorium der
ehemaligen Sowjetunion.
Erdgas
für Europa
Aserbaidschan
ist eines der Länder, deren Erdgasreserven Deutschland und die EU nutzen
wollen, um Gas aus Russland zu ersetzen. Bereits in der ersten Jahreshälfte 2022
sind darüber intensive Verhandlungen
geführt worden. Am 29. März etwa traf Aussenministerin Baerbock mit ihrem
aserbaidschanischen Amtskollegen Dschejhun Bajramow zusammen, um unter anderem
über den Bezug von Erdgas zu verhandeln. Am 18. Juli unterzeichnete dann EU-Kommissionspräsidentin
von der Leyen in Baku eine Vereinbarung, der zufolge die EU ihren Erdgasimport
aus Aserbaidschan von 8,1 Milliarden Kubikmetern im Jahr 2021 auf 20 Milliarden
Kubikmeter im Jahr 2027 steigern wird. Bereits im kommenden Jahr soll die
Einfuhr demnach auf rund 12 Milliarden Kubikmeter ausgeweitet werden. Die EU
habe entschieden, «sich verlässlicheren, vertrauenswürdigeren Partnern
zuzuwenden», erklärte von der Leyen anlässlich der Unterzeichnung der
Vereinbarung im Beisein von Präsident Ilham Alijew: «Ich freue mich,
Aserbaidschan zu ihnen zählen zu können».
Experten
gaben sich bezüglich der Erfolgsaussichten bereits vor dem Abschluss des Deals
eher skeptisch. So hiess es etwa, um seine Lieferungen nach Europa
aufzustocken, müsse Aserbaidschan zumindest die Förderung im Erdgasfeld
Absheron im Kaspischen Meer um mehrere Milliarden Kubikmeter jährlich erhöhen.
Der Bau der dazu nötigen Anlagen werde mindestens 4 Jahre dauern; sogar bei
einem Baubeginn 2023 könne die Förderung wohl kaum vor 2027
aufgenommen werden. Hinzu komme, dass die Transportinfrastruktur unzulänglich
sei. So könnten durch den Südlichen Erdgaskorridor aus Aserbaidschan über
Georgien bis in die Türkei bislang 16 Milliarden Kubikmeter jährlich
transportiert werden; von dort aus stehe allerdings derzeit nur die
Trans-Adriatic Pipeline (TAP) zur Verfügung, die aktuell ein
Durchleitungsvolumen von gut 10 Milliarden Kubikmetern jährlich habe.
Grundsätzlich könne sie auf ein Volumen von bis zu 20 Milliarden Kubikmetern
ausgebaut werden; auch dies benötige freilich Zeit, und zusätzlich müsse der
Südliche Erdgaskorridor erweitert werden, da über ihn auch die Türkei beliefert
werde. Erreichbar sei damit eine Aufstockung für die EU um bloss zwölf
Milliarden Kubikmeter – im Vergleich zu den 155 Milliarden Kubikmetern,
die die Union 2021 aus Russland erhielt, nicht viel.
Zusätzlich zu der
Peinlichkeit, dass ein verlässlicher, vertrauenswürdiger Partner der EU am
Dienstag, den 13. September, erneut einen Nachbarstaat angegriffen hat, ist die
Situation für Berlin und Brüssel auch aussenpolitisch höchst unangenehm. In den
kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan, die
bereits Anfang der 1990er Jahre tobten, hatten sich die westlichen Mächte massgeblichen
Einfluss zu sichern versucht, und zwar über die Minsk Group, ein
Verhandlungsformat im Rahmen der OSZE, das von Frankreich und den Vereinigten Staaten
gemeinsam mit Russland geführt wird; der Minsk Group gehört auch die
Bundesrepublik an; sie erzielte freilich in den beinahe drei Jahrzehnten ihrer
Existenz keinen echten Verhandlungserfolg. Ein Durchbruch gelang erst nach dem
Krieg des Jahres 2020, der durch einen von Russland vermittelten
Waffenstillstand beendet wurde. Aserbaidschan wurde dabei massiv von der Türkei
unterstützt. Die Minsk Group ist seitdem, wie es vor einem Jahr im US-Fachblatt
Foreign Policy hiess, praktisch bedeutungslos. Als tatsächliche Ordnungsmächte
in der Region haben sich mit der Durchsetzung des Waffenstillstands 2020
Russland und die Türkei etabliert.
Laut tönend, aber
wirkungslos
Im
Bestreben, den Einflussverlust des Westens im Südkaukasus wettzumachen, hat sich
die EU bemüht, ein neues Verhandlungsformat zu etablieren: Gespräche zwischen
EU-Ratspräsident Charles Michel sowie den Präsidenten Armeniens und
Aserbaidschans. Dabei standen neben humanitären Fragen unter anderem die Arbeit
an einem Friedensvertrag sowie der Ausbau der Transportinfrastruktur im
Südkaukasus auf dem Programm. Das bisher letzte Treffen in diesem Format fand
am 31. August statt, also keine zwei Wochen vor dem erneuten Aufflammen der
Kämpfe, die, wie bereits vermerkt, am Dienstagmorgen des 13. 9. nicht etwa durch
die EU, sondern durch eine politische Intervention Russlands sowie der Türkei
eingedämmt wurde. Der EU-Ratspräsident selbst meldete sich erst verspätet mit
laut tönenden, aber wirkungslosen Mahnungen, jegliche weitere Eskalation zu unterlassen,
zu Wort. Brüssel setzt die Versuche, auf den Konflikt Einfluss zu nehmen,
dennoch hartnäckig fort und hat angekündigt, einen Sonderbeauftragten in die
Region zu entsenden.
Damit dauert der
Einflusskampf der westlichen Mächte gegen Moskau im Südkaukasus an. [2]
[1] https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9024 15. 9. 22 The
West against the Rest (II)
[2] https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9023
14. 9. 22 »Ein vertrauenswürdiger Partner«
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