»Israel muß boykottiert werden« Bedingungslose Unterstützung der Besatzungspolitik soll ihren Preis haben. - ein Gespräch mit Ilan Pappe

In Ihrem neuen Buch »The Ethnic Cleansing of Palestine« erklären Sie, der Staat Israel sei auf der Grundlage »ethnischer Säuberung« gegründet worden. Worauf stützen Sie diese Behauptung? Die Idee, daß ein existenzfähiger jüdischer Staat nur dann gegründet werden kann, wenn die Juden die absolute Mehrheit im Land haben, war schon bei den zionistischen Führern im frühen 20. Jahrhundert anerkannt. Seit 1936 wurde es zum strategischen Ziel erklärt, den jüdischen Staat auf so viel palästinensischem Boden wie möglich zu gründen, mit so wenig Palästinensern wie möglich. Das ist eindeutig eine Ideologie der »ethnischen Säuberung«. Im März 1948, als die britische Mandatszeit zu Ende ging und die Welt die Gründung eines solchen Staates legitimierte, wurde die ehemalige Strategie zur politischen Richtlinie. In nur wenigen Monaten war die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung entwurzelt worden, die Hälfte ihrer Dörfer und Städte zerstört, und 80 % ihres Landes gehörte nun zu Israel.

Sie schreiben in Ihrem Buch: Die »Nakba« - die massenhafte Vertreibung der Palästinenser 1948 - ist eine der wenigen Katastrophen der Moderne, deren Ausmaß lange Zeit erfolgreich vor der Öffentlichkeit bestritten werden konnte.
Die Nakba wird geleugnet, in erster Linie, weil Europa ein Problem damit hat, die Verantwortung für die Katastrophe zuzugestehen. Europa war froh, den Juden für den Holocaust eine Kompensation geben zu können - auf Kosten der Palästinenser. Und es war nur allzu bequem, nicht über die Verbrechen, die 1948 begangen wurden, sprechen zu müssen. Ein ähnlicher Schuldkomplex leitete die amerikanische Politik und führte dazu, daß, zusammen mit weiteren Überlegungen, Israel der Frontstützpunkt des amerikanischen Imperialismus im Nahen Osten wurde. Was Israel als Gegengabe von den Amerikanern dafür verlangte, war, die Nakba nicht mit dem Friedensprozeß oder mit der Palästinafrage in Verbindung zu bringen.
 
Israel scheint sein Territorium um jeden Preis ausweiten zu wollen. Welche Motivation steckt dahinter?
Israel ist geradezu besessen von dem Gedanken der Erweiterung seines Territoriums, das  ausschließlich Juden vorbehalten ist. Das ist fester Bestandteil des Zionismus - als einer Bewegung, die einen »sicheren Hafen« für diejenigen Juden schaffen will, die in Europa verfolgt wurden. Darüber hinaus will sie die jüdische Religion als Nation neu definieren. Die Gründungsväter des Zionismus entschieden, daß das damals schon bewohnte Land Palästina der beste Ort für die Einrichtung eines solchen »sicheren Hafens« wie auch eines Nationalstaates sei. Sie glaubten, daß die »Säuberung« des Ortes genauso wichtig sei wie der Ort selbst. Das ist auch heute noch die »ideologische Infrastruktur« Israels.
 
Sie sind einer der wenigen in Israel, der den internationalen Boykott israelischer Universitäten und Akademiker engagiert befürwortet. Welche Boykottaktivitäten wurden ins Leben gerufen, und was ist bisher erreicht worden?
Der Anstoß für die Boykottinitiative kam aus der palästinensischen Zivilgesellschaft unter der Besatzung. Die Palästinenser fühlten sich umso mehr getroffen, als sie sahen, wie israelische Akademiker, die im allgemeinen die Besatzung unterstützen, als Repräsentanten eines zivilisierten und aufgeklärten Staates international Anerkennung finden und noch dazu alle Welt über Themen wie Menschen- und Bürgerrechte beraten. Daher plädierten die Palästinenser für einen institutionellen Boykott. Die britischen Akademiker waren die ersten, die diesem Aufruf folgten, wurden aber schon früh von der zionistischen Lobby in London gestoppt. Dennoch ist man in vielen europäischen Universitäten und auch in einigen amerikanischen mittlerweile vorsichtiger geworden, wenn Wissenschaftler aus Israel eingeladen werden sollen oder wenn es darum geht, universitäre Bande mit Israel zu knüpfen. Es gibt eindeutig den Wunsch nach Kontakten mit mehr bewußten und gewissenhaften Akademikern, und das ist meines Erachtens eine klare Botschaft an die israelische intellektuelle Elite. Dadurch wird gezeigt, daß die bedingungslose Unterstützung der Besatzungspolitik ihren Preis fordert. Und mit der Zeit werden das auch die Politiker des Landes erkennen müssen. Wir werden jedoch erst wissen, was eine solche Boykottinitiative zu erreichen vermag, wenn sich auch die Gesellschaften im Westen daran beteiligen und das gleiche Engagement zeigen wie gegen die Apartheid in Südafrika.
 
Im Fall Israels kam es bis dato nie zu einem wirksamen Druck auf die Regierung. Woran liegt das?
Tatsächlich sind Boykott, Sanktionen und Isolierung, neben der standhaften Weigerung der Palästinenser, ihr Land zu verlassen, die einzigen Methoden, die funktionieren. Eine starke Boykottbewegung gegen Israel kam nie auf, aus den gleichen Gründen, die ich auch schon für die Leugnung der Nakba erwähnt habe. Der weit verbreitete Schuldkomplex erlaubt Israel den Vorwurf des Antisemitismus als Schutzschild einzusetzen, insbesondere immer dann, wenn gegen die Verbrechen, die es in den besetzten Gebieten verübt, Kritik geäußert wird. Nach dem 11. September 2001 kam in den USA noch die »Islamphobie« hinzu, durch die alle Palästinenser zu mutmaßlichen Terroristen gemacht werden.
 
Sehen Sie eine realistische Chance für Frieden und Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern?
Der Weg zum Frieden führt meines Erachtens nur über die folgenden drei Stichwörter. Zugeständnis: Israel muß die »ethnischen Säuberungen« von 1948 und seine Politik der Vertreibung eingestehen. Verantwortlichkeit: Israel muß für die Katastrophe von 1948 Verantwortung übernehmen. Der am besten geeignete Weg dazu ist, den Flüchtlingen die Rückkehr in ihr Heimatland zu erlauben. Akzeptanz: Im Gegenzug wird die arabische Welt die israelische Politik akzeptieren und einen binationalen oder säkularen Staat als legitim und zur Realität gehörend anerkennen.
 
Ilan Pappe lehrt Geschichte an der Universität Haifa in Israel. Er gehört zur Gruppe der »Neuen Historiker«; Interview: Andrea Bistrich
Quelle: Junge Welt vom 27. 11. 2006
http://www.jungewelt.de/2006/11-27/011.php
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