Afghanistan: Die Politik der deutschen Regierung ist nicht besser als die der US-Regierung, nur noch viel verlogener - Von Karl Müller, Deutschland

Die Welt der uns täglich vorgesetzten »schönen« Tagespressebilder spiegelt der in Zeit-Fragen Nr. 22 vom 4.6.2007 erschienene Artikel wider, den wir hier leicht gekürzt veröffentlichen:

"Die deutsche Bundesregierung tut alles für einen Frieden in Afghanistan"   - fast könnte man das glauben, wenn man Schlagzeilen wie die folgenden liest: «Jung ruft Nato-Truppen zur Mässigung auf» (Spiegel Online vom 14. 5. 07) oder: «Bundesregierung mahnt US-Armee» (Frankfurter Rundschau vom 24. Mai). Am liebsten malt die deutsche Regierung das folgende Bild: Es war einmal ein von bösen Taliban geplagtes Land. Diese Taliban waren besonders böse, weil sie nicht nur das afghanische Volk, sondern vor allem die Frauen unterdrückten und zweitens ganz gefährlichen Terroristen Unterschlupf gewährten. Aber dann wurden alle Afghanen befreit. Unter den Befreiern gab es leider auch ein paar Cowboys aus Amerika, die noch nichts von der guten deutschen Politik gehört hatten und deshalb einiges falsch machten. Bis die deutsche Kanzlerin Angela Merkel einschritt und bei der Nato-Tagung in Riga im Herbst letzten Jahres einen neuen Plan für alle durchsetzte, nämlich den deutschen. Seitdem braucht man zwar Soldaten im Land, aber im Grunde genommen sind das alles mutige Entwicklungshelfer, die nichts anderes im Sinne haben, als allen Afghanen zu helfen, und die deshalb auch bei allen Afghanen sehr beliebt sind. Bei fast allen. Denn noch immer gibt es ein paar wenige Taliban, die aus finsteren Höhlen des Auslands kommen und nur Böses im Schilde führen. Selbstverständlich muss und darf man sich dagegen auch, da man ja nur Gutes tut, «absichern», und nur dafür braucht man eben auch die Tornados. Deutsche Opfer wie die vom Mai sind absolut unschuldige Opfer ganz gemeiner terroristischer Verbrechen. Wenn man aber aus Afghanistan abziehen würde, würden die Terroristen die ganze Welt wieder in Angst und Schrecken versetzen. Soweit das Märchen.
 
Tatsächlich findet in Afghanistan ein grausamer Krieg statt. Ein Krieg, der Tag für Tag brutaler wird und das ganze Land mehr und mehr in Mitleidenschaft zieht. Ein Krieg, der immer weitere Kreise zieht, weil der Widerstand im ganzen Land gegen eine Besetzung wächst, die dem Land keinen Fortschritt gebracht hat, den Menschen im Land aber, Menschen, für die Freiheit und Unabhängigkeit alles bedeuten, nur Erniedrigung und noch mehr Not und Tod. Und die deutschen Besatzungstruppen machen bei allem vollumfänglich mit.
 
• Die deutsche Regierung hat geplant, sich auf viele Jahre in Afghanistan mit Besatzungstruppen festzusetzen. Die grossen Militärlager im Norden sind auf Dauer angelegt. Forderungen, über Rückzugstermine nachzudenken, werden vom Tisch gefegt, selbst nur zaghafte Ansätze aus den eigenen Reihen.
• Deutschlands Einsatzgebiet ist bei weitem nicht nur der Norden des Landes. Die deutsche Regierung nimmt zum Beispiel genauso wie die US-Regierung massiv auf die pakistanische Regierung Einfluss. Pakistanische und afghanische Offiziere werden in Deutschland für die sogenannte Grenzsicherung geschult. Deutsche Waffenlieferungen an Pakistan verzeichnen extreme Wachstumsraten. So stieg deren Marktpreis - das Wort «Wert» wäre hier eine Verdrehung der Tatsachen - beispielsweise von 32,7 Millionen Euro im Jahr 2004 auf 99,7 Millionen Euro im Jahr 2005.
• Es gibt keinerlei Pläne, die massiven Bombardierungen einzustellen. Im Gegenteil: US-Präsident Bush und Nato-Generalsekretär De Hopp Scheffer haben einmal mehr alle Nato-Mitglieder zu verstärkten Kriegsanstrengungen aufgerufen. An den hohen Zahlen von zivilen Opfern seien, so die schamlose Aussage Bushs, allein die Taliban und deren Kampftaktik schuld.
• Man rechnet mit vielen weiteren Toten - auf beiden Seiten. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk vom 21. Mai antwortete eine sogenannte Afghanistan-Expertin der regierungsnahen Strategiefabrik »Stiftung Wissenschaft und Politik« auf die Frage, ob die Toten sein müssen: «Es ist leider immer ein Preis damit verbunden, wenn man versucht, in einem Land […] zerrüttete Strukturen wiederaufzubauen.» Eine doppelte Lüge, denn die Zerrüttung des Landes wird von Tag zu Tag immer noch schlimmer. Funktionärspolitiker wie der deutsche Verteidigungsminister Jung von der CDU oder der Fraktionsvorsitzende Struck von der SPD äussern sich mit realitätsvergessenen Durchhalteparolen bis zum «Endsieg». Erfahrene Politiker, die vor einem weiteren deutschen Engagement warnen und die Dinge beim Namen nennen, werden von Regierungspolitikern als «charakterlos» attackiert oder sogar mit «Luzifer» verglichen. So passiert es Oskar Lafontaine. Marionetten aus der afghanischen Regierungsmannschaft dürfen hingegen das Lied von den guten Deutschen singen, auf die man auf keinen Fall verzichten will.
• Über die Meinung der Bevölkerung, auch der deutschen, wird weiterhin hinweggegangen. Mehr als 80 % waren gegen den Tornado-Einsatz. Die neueste Emnid-Umfrage, immerhin die eines renommierten Instituts, sagt, dass weniger als 30 % der Befragten den deutschen Afghanistan-Einsatz überhaupt für richtig halten. Aber noch schert dies die deutschen Kriegspolitiker nicht viel! Solange es nur bei Umfrageergebnissen bleibt und es noch keinen entschiedenen Protest und Druck gibt.
• Für die toten deutschen Soldaten wird alles aufgeboten. Jetzt, nachdem sie tot sind. Die Musik spielt wunderschön, schöner als im I. und II. Weltkrieg. Für die verletzten Afghanen tat man zuerst einmal gar nichts. «Sie vegetieren in einem maroden Hospital dem Tod entgegen», schrieb Spiegel Online am 24. Mai. «Wir sind für euch Menschen zweiter Klasse!» So wird ein Afghane zitiert, der alles mitbekommt. Auch der Arzt im Hospital wird zitiert: Schon ein bisschen Unterstützung der Deutschen, sagt er, hätte seine Arbeit sehr erleichtert. Ein paar Medikamente, frische Binden und desinfiziertes Besteck. «Viele hätten nicht zu sterben brauchen und würden nicht sterben», sagt er. Doch gesehen hat er die Deutschen seit dem Anschlag nicht mehr.
• Wie ernst muss man einen afghanischen Exilpolitiker nehmen, der äussert, dass der Anschlag in Kundus eine direkte Antwort auf den deutschen Tornado-Einsatz war? Sehr wahrscheinlich sehr ernst. Die Ortungsergebnisse der Tornados landen bei den westlichen Kampftruppen und führen - unmittelbar oder zeitverzögert - zu «zielgenauen Angriffen». Und obwohl nicht unterscheidbar ist, ob das Tornado-Suchsystem Zivilpersonen oder Widerstandskämpfer erfasst hat, wird dann wahllos bombardiert. Faktisch «sind die Tornados Leitzentralen einer Angriffstrategie, die dem US-Vorbild in Vietnam entspricht: «Search and destroy» schrieb German-Foreign-Policy.com am 20. Mai. Kein Wunder, dass der afghanische Exilpolitiker sagt: «Der Hass auf die US-Politik ist wesentlich stärker, als er gegenüber den Russen je gewesen ist.» Und: «In der Wahrnehmung vor Ort handelt es sich bei den Bundeswehreinheiten um Unterstützungskommandos für die USA.» Und dann heisst es weiter: «Das deutsche Militär werde mit hohen Opfern zahlen, prophezeit der Afghanistan-Kenner.»
• Die Debatte über die Unterscheidung zwischen «guter» Nato-Isaf und «böser» US-OEF ist eine Scheindebatte. «Bereits vor zwei Jahren hat mir der politische Vertreter der Nato für Afghanistan, Hikmet Cetin, im Auswärtigen Ausschuss dargelegt, dass Isaf und OEF aufs engste zusammenarbeiten. Heute gilt das noch mehr als damals. Inzwischen werden beide Einsätze von demselben US-amerikanischen Oberbefehlshaber geleitet. […] Es steht ausser Frage: Beides sind Kriegseinsätze, an beiden sind deutsche Truppen beteiligt. Wer weiter anderes behauptet, verkauft die Bevölkerung vorsätzlich für dumm.» Das sagt der Abgeordnete im Europäischen Parlament, Tobias Pflüger.
• «Der Krieg in Afghanistan ist nicht zu gewinnen.» Das sagen Experten wie Peter Scholl-Latour, aber auch der ehemalige Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium, Walter Stützle. Aber darum geht es offensichtlich auch gar nicht. Sonst würde die CIA nicht tatenlos zusehen, wie in Pakistan unter ihren Augen Tausende neuer Taliban rekrutiert werden. Das berichtet der Afghanistan-Experte Christoph Hörstel in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 21. Mai. Hörstel hat es mit eigenen Augen gesehen. Also: «The war must go on!» Die Opfer werden in Kauf genommen.
• Das, was man gemeinhin al-Kaida nennt, hat sich längst von Afghanistan gelöst und seine Lager in anderen Regionen der Welt aufgeschlagen. Und diese Lager werden um so grösser werden, je länger der «Krieg gegen den Terrorismus», der in Wahrheit ein Weltherrschafts- und Weltausbeutungskrieg ist, fortgesetzt wird.
• Für wen muss der Krieg weitergehen? Für die kranken Ideologen des permanenten Krieges. Aber auch für deutsche Konzerne. In Afghanistan wie im Irak. Die deutsche Regierung wirbt deutsche Unternehmen für Tätigkeiten in den Kriegsgebieten geradezu an. Das berichtet German-Foreign-Policy.com am 30. Mai. «Todes- und Entführungsopfer nehmen deutsche Unternehmen mit gewinnbringenden Aktivitäten hin», heisst es dort. Und über ein Unternehmen, stellvertretend für andere: «Trotz der zahlreichen Todesfälle will Ecolog, nach eigener Einschätzung ‹Marktführer in einem expandierenden Umfeld›, die Firmentätigkeit weiter ausbauen.» Die deutsche Regierung setzt auch im Krieg auf «Privatisierung». Zu den Privatunternehmen, die regelmässig Aufgaben an den Einsatzorten der deutschen Armee übernehmen, gehören auch bekannte Rüstungsbetriebe. Zum Beispiel Rheinmetall, der Konzern, der schon bei der Entwicklung von Uran-Waffen eine finstere Rolle gespielt hat. Die Geschäftsaussichten des Konzerns werden als bestens beurteilt, denn: «Die Bundeswehr konzentriert sich immer stärker auf ihre rein militärischen Aufgaben sowie Auslandeinsätze.»
 
 
Da fallen für den Rest des Krieges Milliarden für die Konzerne ab. Auch für deutsche Privatarmeen. Der Artikel spricht von einem «signifikanten Wachstum der privaten Sicherheitsindustrie». Und auch hier von Milliarden-Umsätzen. In Europa steht Deutschland schon an zweiter Stelle hinter Grossbritannien. In Lübeck gibt es eine «Bodyguard Academy». Ein Teilnehmer, dem schon bei der Bundeswehr «der Orts- und Häuserkampf am meisten Spass gemacht hat», wird nach einem Kurs in Lübeck mit den Worten zitiert: «Endlich hatte ich ein Bild von den Taktiken, die von den Amerikanern in ihren Einsätzen angewendet werden. […] Es war eine klasse Ausbildung.» Wenn also alles, was offiziell gesagt und geschrieben wird, einer Überprüfung nicht standhält - warum ist dann die deutsche Regierung so versessen darauf, mit einigen tausend Soldaten in Afghanistan zu sein, weit weg vom eigenen Land? Geht es «nur» um Afghanistan und die Kontrolle über das Land? Geht es «nur» darum, den militärisch-industriellen Komplex der Kriegspartei zu bedienen? Geht es «nur» um eine Pipeline in Afghanistan und die Rohstoffe des Landes? Oder ist das Land doch auch ein Aufmarschgebiet für weitere geplante Kriege? Vielleicht für einen grossen Krieg, einen Weltkrieg, einen Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen Russland … und China?
1938 schrieb das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, das überall in der Welt vertreten war und die Situationen vor Ort beurteilen musste, es rieche nach einem Weltkrieg. Riecht es nicht auch heute danach, wenn man einmal genauer überlegt und alle Tatsachen zusammendenkt? Die Zeichen stehen auf Sturm: Grosse Verwerfungen einer durch und durch ungerechten Weltwirtschaft, die skrupellose Missachtung des internationalen Rechts durch die US-Politik und die Politik ihrer Verbündeten, die massive Aufrüstung in der ganzen Welt, und und und … Die gegenwärtigen Rüstungsausgaben der USA sind höher als während des Höhepunktes des kalten Krieges. Mehr als die Hälfte der weltweiten Rüstungsausgaben verschwendet die US-Regierung. Wozu? Alles nur, um al-Kaida zu bekämpfen? Wohl kaum! Das angestrebte Ziel ist die  Weltherrschaft. Man kann das nachlesen. Das sind nicht nur Worte. Und wehe dem, der sich  entgegenstellt. Im Machtwahn die ganze Welt zerstören? Der Wahn ist riesengross, und der Schlaf der Vernunft - und der Menschlichkeit - gebiert die schlimmsten Ungeheuer. Will Deutschland, will Europa dabei mitmachen? Was fast genauso schlimm ist: Noch zu viele Menschen in den wohlhabenden Industrieländern leben so weiter, als wenn sich die Welt nicht verändert hätte. Die politische Klasse, PR-Agenturen und zahlreiche Massenmedien beschäftigen die Menschen tagtäglich mit Nebensächlichkeiten und Absurditäten, fördern den Materialismus, den Egoismus und die Gleichgültigkeit. Derzeit jedenfalls hat das Anliegen «Frieden auf der Welt» noch zu wenige entschlossene Fürsprecher.