Reformvertrag EU: Achtung Hochverrat! Von Anne-Marie Le Pourhiet 08.12.2007 19:33
Der Entwurf des europäischen «Reformvertrags» wurde am 5. Oktober 2007 veröffentlicht. Bei der Lektüre dieses Textes wird bald verständlich, weshalb seine Verfasser auf die Ausdrücke «Minivertrag» oder «vereinfachter Vertrag» verzichtet haben, da er mit seinen 12 Protokollen und seinen 25 unterschiedlichen Erklärungen nicht weniger als 256 Seiten umfasst und man in Sachen redaktioneller Komplexität kaum Schlimmeres anrichten können hätte
In dem Ausmass, in dem sich der Text in Wirklichkeit nur darauf
beschränkt, Dreiviertel der Bestimmungen des Vertrags über eine Verfassung für
Europa (VVE) in einer anderen Form abzuschreiben, wäre es bestimmt einfacher
gewesen, den ursprünglichen Text zu übernehmen und daraus einzig die nun
weggelassenen staatstypischen Symbole zu streichen. Man versteht jedoch, dass
diese Möglichkeit ausgeschlossen wurde, denn sie hätte auf allzu schreiende Art
und Weise zum Ausdruck gebracht, dass man sich offen über den Willen des
französischen und niederländischen Volkes hinwegsetzt. Die Verfasser
haben es somit vorgezogen, einen komplizierten Text zusammenzumixen, der
einerseits den Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag, Vertrag von
Maastricht, 1992) und andererseits den Vertrag über die Gründung der
Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag, Vertrag von Rom, 1957) abändert, Dieser
wird in Zukunft «Vertrag über das Funktionieren der Union» heissen.
Erdrückende Mehrheit der Europäer will ein Referendum «In Spanien, in Deutschland, in Grossbritannien, in Italien
und in Frankreich scheint man sich dieses Referendum über den neuen Vertrag
herbeizusehnen. Tatsächlich offenbart eine Umfrage von Harris Interactive, die
von der ‹Financial Times› veröffentlicht wurde und die von den französischen
Medien äusserst zurückhaltend behandelt wurde, dass 76 % der Deutschen, 75 %
der Briten, 72 % der Italiener, 65 % der Spanier und 63 % der Franzosen über
den Vertrag, der die europäische Verfassung ersetzen soll, ein Referendum wünschen.»
Der Betrug wird durch die Grundrechtscharta, die nicht mehr in den Verträgen
eingeschlossen ist, deutlich. Diese erscheint in Artikel 6 des Textes wie folgt:
«Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze aus der Charta der
Grundrechte vom 7. Dezember 2000 an, die denselben juristischen Wert wie die
Verträge hat». Ein Vertrag behauptet also, dass eine Charta, die nicht Teil von
ihm ist, denselben juristischen Wert hat wie die Verträge, die er verändert.
Man ist noch nie einem so verdrehten juristischen Vorgehen begegnet, nicht
einmal in den kürzlich erfolgten Überarbeitungen der französischen Verfassung,
die auf höchster normativer Ebene das Eindringen des «schlechten Rechts» (le
«maldroit») in unser Land offenbaren. Das Protokoll
Nr. 7, das jedoch vorsieht, dass die Charta weder dem Europäischen Gerichtshof
noch der britischen und polnischen Rechtsprechung erlaubt, diejenige Anwendung
von nationalem Recht dieser beiden Länder, die als unvereinbar mit jener Charta
beurteilt wurde, auszuschliessen, ruft ein Herzstechen hervor. Alles verläuft
so, wie wenn das «Nein» der Franzosen zwar anderen dienen würde, aber nicht
ihnen. Welche Demütigung!
EU-Verfassung durch die Hintertür Hier finden Sie eine Auswahl von Äusserungen von hohen
politischen Verantwortlichen aus verschiedenen Ländern Europas, die meist
freudig bestätigen, dass die von den Franzosen und Niederländern abgelehnte
europäische Verfassung mit dem «Reformvertrag», der Mitte Oktober in Lissabon
verabschiedet wurde, «gerettet» wurde. Deutschland: «Die Substanz der
Verfassung wurde erhalten. Das ist eine Tatsache», so Angela Merkel,
Bundeskanzlerin der BRD [The Daily Telegraph vom 29. Juni 2007]. Irland: «90 % [der Verfassung] sind noch da. […]
Diese Änderungen haben nichts Spektakuläres am Vertrag von 2004 verändert», so Bertie
Ahern, Premierminister der Republik Irland [Irish Independent vom 24. Juni 2007].
Frankreich: «Ein letzter Trick besteht darin, einen Teil der Innovationen des
Verfassungsvertrages beibehalten zu wollen und diese zu tarnen, indem man sie
in mehrere Texte aufsplittert. Die innovativsten Bestimmungen würden so zu
einfachen Ergänzungen zu den Verträgen von Maastricht und Nizza. Die
technischen Verbesserungen würden in einem farblos und schmerzlos gewordenen
Vertrag neu zusammengestellt. Die Gesamtheit dieser Texte würde den Parlamenten
überwiesen, die sich in getrennten Abstimmungen dazu äussern könnten. Auf diese
Weise würde die öffentliche Meinung, ohne es zu wissen, dazu gebracht, die
neuen Bestimmungen anzunehmen, die man nicht wagt, ihr ‹direkt› vorzulegen», so
Valéry Giscard d’Estaing [Le Monde vom 14. Juni 2007 und
Sunday Telegraph vom 1. Juli 2007] Italien: «Sie haben beschlossen, dass das
Dokument unlesbar sein soll. Wenn es unlesbar ist, ist es nicht verfassungsgemäss,
das war die Idee dahinter… Wenn es Ihnen gelingt, den Text von Anfang an zu
verstehen, dann gibt er auch etwas für ein Referendum her, da dies bedeuten
würde, dass es etwas Neues darin gibt», so Giuliano Amato, ehemaliger Präsident
des Italienischen Parlaments; Versammlung des Center for European Reform am 12.
Juli 2007
Der «Reformvertrag» modifiziert zwar den Verfassungsvertrag,
der 2005 abgelehnt wurde, da er eine Reihe expliziter Bestimmungen daraus
entfernt und Polen und Grossbritannien die Einhaltung gewisser Verpflichtungen
erlässt. Es ist aber eine Veränderung durch einfache Reduktion, so dass
nun geplant ist, dem französischen Parlament einen Teilvertrag anstelle des
ursprünglichen vollständigen Vertrages zur Ratifizierung vorzulegen. Damit
stellt sich eine grundsätzliche Frage: Wie kann der französische Präsident für
sich alleine beschliessen, den grösseren Teil der Bestimmungen des
ursprünglichen Vertrags auf parlamentarischem Weg ratifizieren zu lassen, mit
der Begründung, dass diese Bestimmungen «nicht auf Widerspruch gestossen seien», obwohl das französische Volk - juristisch
gesehen - den Vertrag als Ganzes abgelehnt hat? Während der Abstimmungskampagne
konnte jedermann feststellen, dass alle Bestimmungen der Kritik unterlagen:
Die einen konzentrierten sich mehr auf die Grundrechtscharta und die Politik
der Gemeinschaft, die anderen auf die Kompetenzübertragungen, den Übergang von
der Einstimmigkeit zum Mehrheitsvotum sowie das Demokratiedefizit, wieder
andere störten sich an den staatstypischen Prinzipien und Symbolen. Man konnte
vielleicht auch feststellen, dass das «Nein» von links eher eine Gefährdung des
Wohlfahrtsstaates befürchtete und das «Nein» von rechts den Verlust des mit
königlichen Rechten ausgestatteten Staates. Sicher ist es unmöglich und unvorstellbar, das
Gehirn jedes einzelnen Franzosen zu durchleuchten und zu behaupten, man könne
dort Bestimmungen finden, die er abgelehnt, und andere, denen er zustimmt habe.
Das Vorgehen des Präsidenten jedoch, der behauptet, er alleine könne den Willen
des französischen Volkes erkennen, ist völlig willkürlich und grenzt an
Diktatur. Wenn man weiss, dass die Verfassung Kaliforniens vorsieht, dass eine
durch Referendum angenommene Norm nur durch eine neue Volksabstimmung
abgeschafft oder verändert werden kann und dass der italienische
Verfassungsgerichtshof dasselbe Prinzip anwendet, so kann man über den
Staatsstreich, der in Frankreich stattfindet, nur tief erschüttert sein. Wenn
der Präsident der Überzeugung ist, dass die im Reformvertrag verbleibenden
Bestimmungen Gegenstand einer impliziten Zustimmung der Franzosen waren, so
muss er sich dessen versichern, indem er eine neue Volksabstimmung organisiert,
um deren explizite Zustimmung zu erreichen.
Überstürzte Ratifizierung vor Weihnachten «Fest entschlossen, jegliche Diskussion über grundsätzliche
Fragen und im speziellen über die Frage des Referendums zu vermeiden,
überstürzt Nicolas Sarkozy andauernd den Kalender für die Wiederbelebung des
institutionellen europäischen Prozesses und hat angekündigt, dass Frankreich
das ‹erste Land› sein werde, das schon vor Weihnachten, unmittelbar nach der
definitiven Unterzeichnung am 13. Dezember den Vertrag ratifizieren werde. Man
wird zuvor das französische Parlament als Kongress einberufen müssen, um die
französische Verfassung, die zurzeit mit dem Lissabonner Vertrag unvereinbar
ist, zu revidieren. Zehn Tage also nur, um die gesamte Prozedur durchzuführen, bei
der auch das Parlament weder die Zeit (noch scheinbar die Lust) hat, darüber zu
debattieren.» Wie soll man einen solchen Staatsstreich bezeichnen und
sanktionieren? Der Text der sehr populären Verfassung von 1793 ging nicht
zimperlich vor, als diese im Artikel 27 verfügte: «Jedes Individuum, das sich die
Souveränität anmassen will, soll sogleich durch die freien Männer zum Tode
verurteilt werden.» Da die Todesstrafe durch die französische Verfassung nun
geächtet ist, muss man sich daran halten und eher den Artikel 35 des Textes von
1793 heranziehen, welcher feierlich festhält: «Wenn die Regierung die Rechte
des Volkes verletzt, ist für das Volk und jeden Teil des Volkes der Aufstand
das heiligste seiner Rechte und die unerlässlichste seiner Pflichten.» Die
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, die in die Präambel der
heutigen Verfassung einging, ordnet auch den Widerstand gegen Unterdrückung
unter die natürlichen und unverjährbaren Rechte des Menschen ein.
71 % der Franzosen wollen ein Referendum Eine repräsentative Umfrage, die das IFOP für ‹Paris Match› durchgeführt hat, kommt zu dem Schluss,
dass 71 % der befragten Personen eine Volksabstimmung über den Lissabonner
Vertrag, der die 2005 abgelehnte europäische Verfassung erneuert, befürworten;
28 % wünschen dies nicht. Von dieser erdrückenden Mehrheit, die ein Referendum
will, sind 76 % Anhänger der Linken und 66 % Anhänger der Rechten. Unser
Verfassungstext hält ausserdem fest, dass das Prinzip der Republik die «Regierung
durch das Volk und für das Volk» ist. Deshalb wird der Präsident durch eine
allgemeine, direkte Volkswahl bestimmt und hat den Auftrag, über die Achtung
der Verfassung zu wachen, das ordnungsgemässe Funktionieren der Staatsorgane
und des Staates zu sichern und die nationale Unabhängigkeit zu garantieren. Der
Begriff, der einem als erstes in den Sinn kommt, um die Missachtung des
Volkswillens durch den Präsidenten zu charakterisieren, ist «Hochverrat».
Leider hat im Februar 2007 eine Revision der Bestimmungen über die
strafrechtliche Verantwortung des Staatsoberhauptes den antiken und
aussagekräftigen Begriff «Hochverrat» durch den faden Ausdruck «Versäumnisse
gegenüber seinen Pflichten, die mit der Ausübung seines Mandats offensichtlich
unvereinbar sind» ersetzt. Da fehlen offensichtlich Schwung und Kraft, aber man
wird sich damit abfinden müssen. Den Parlamentariern jedoch schlagen wir vor,
sie sollten - anstatt eine Pflichtverletzung zu begehen, indem sie den Vertrag
ratifizieren, den ihre Wählerinnen und Wähler abgelehnt haben - sich als Hoher
Gerichtshof zusammenfinden, um den Schuldigen zu bestrafen.
Anne-Marie Le Pourhiet ist Professorin für öffentliches
Recht an der Universität Rennes in
Frankreich. Quelle: www.observatoiredeleurope.com
vom 19. Oktober 2007, auszugsweise wiedergegeben; in Zeit-Fragen Nr. 45 vom 12. 11. 2007 veröffentlicht. Siehe auch auch EU Verfassung vom 10.02.2007 und darin ‚Ein Plädoyer für ein
bürgernahes Europa’ von Roman Herzog und Lüder Gerken auf politonline
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