Zum Ausgang der Wahlen in Brasilien - Von Wolf Gauer 02.11.2014 23:56
Die forcierte Chaotisierung in Osteuropa und im Nahen Osten mindert die Wahrnehmung
Lateinamerikas,
auch der Wahlen in Brasilien und ihrer besonderen Bedeutung für den
südamerikanischen Subkontinent.
Der
brasilianische Marxist und Soziologe Emir Sader sprach vor den Wahlen Klartext:
»Diese Wahlen (...) entscheiden, ob das Land weiterhin ein großer
Partner Lateinamerikas und des globalen Südens bleibt, oder ob es wieder in den
Status eines US-Satelliten zurückfallen wird.« Eine
Rückkehr in den Hinterhof des Imperiums bleibt Brasilien für weitere vier Jahre
erspart. Präsidentin Dilma Vana Rousseff, Kandidatin der Arbeiterpartei (PT),
wurde am 26. Oktober im zweiten Wahlgang wiedergewählt, dies mit dem knappen
Vorsprung von 3,28 % in einer bis zur letzten Minute ungewissen Stichwahl. Nach
einer bislang ungekannten Schlammkampagne von Seiten der traditionellen
Oligopole und ihrer Konzernmedien und mit denselben Desinformationstricks wie
längst in Deutschland üblich. Rousseffs Gegner war der Sozialdemokrat Aécio
Neves da Cunha, der Mann des Kapitals, der urbanen Zentren und der globalen
Interessen der USA. Der erste Wahlgang am 5. Oktober war ruhig und korrekt
verlaufen, sowohl bei uns in São Paulo, wie im fernen Amazonien. Und mit
Wahlfälschung wartet Brasilien im Gegensatz zur USA ohnehin nicht auf.
202
Millionen Menschen, mehr als die Hälfte aller Südamerikaner, leben in
Brasilien. Mit jährlich 2324 Mrd. US-$ erbringen sie gleichermaßen die Hälfte
der südamerikanischen Wirtschaftsleistung. 142 Millionen Wahlpflichtige mußten
in diesem Monat ihre Abgeordneten in den Bundes- und Länderparlamenten wählen,
auch den Präsidenten und die Gouverneure der 27 Bundesländer. Nach den Erfolgen
dreier aufeinanderfolgender Regierungsmandate der Arbeiterpartei (PT), die
rund 22 Millionen Brasilianer aus dem Stadium extremer Armut befreien konnte,
war selbst eine Wiederwahl der Regierungschefin im ersten Wahlgang nicht auszuschließen.
Mit 41,59 % erzielte sie jedoch nicht die erforderliche absolute Mehrheit: Dies
aufgrund unvorhergesehener Ereignisse am 13. August: Am verregneten Morgen
jenes Tages stürzte in der Hafenstadt Santos ein Cessna-Kleinjet ab. Niemand
überlebte. Auch in diesem Fall blieb die Blackbox stumm; ob trotz oder wegen
einer hastig aus der USA angereisten ›Expertenkommission‹ bleibt offen. Prominentes Opfer des
Absturzes war Eduardo Henrique Accioly Campos, Vorsitzender und
Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen Partido Socialista Brasileiro
[PSB‹] nebst Wahlkampfteam. Ein eher
farbloser Technokrat, früherer Wissenschaftsminister unter Präsident Luiz
Inácio Lula da Silva, danach Gouverneur des Bundesstaates Pernambuco; mit einem
voraussichtlichen Stimmenanteil von 9 % kein Konkurrent für Dilma Rousseff.
Eher bedrohlich war da der Kandidat der ›PSDB‹, einer weiteren sozialdemokratischen,
kompromißlos neoliberal gepolten
Partei, besagter Aécio Neves, dem man nach dem Flugzeugabsturz plötzlich handfeste
40 % voraussagte. Was steckte hinter der Aufwärtswelle dieses Mannes, der
gerade im ersten Wahlgang den Gouverneursposten in seinem Heimatstaat Minas
Gerais an Rousseffs Arbeiterpartei verloren hatte?
Der
Reihe nach: Ausnahmsweise nicht im Unglücksflieger saß Marina Silva, Eduardo
Campos’ Stellvertreterin im Parteivorstand und damit auch dessen Vizekandidatin
in der Präsidentschaftswahl. Als solche erreichte sie im ersten Wahlgang den
dritten Platz mit 21 % nach Aécio Neves (35 %). Als Dritte von der Stichwahl
ausgeschlossen, forderte Silva ihre Wählerschaft auf, zu dem neoliberalen
Neves - den die ›Financial Times‹ als ›pro-business‹ charakterisierte - überzulaufen, dem damit beste Chancen zur
Ablösung von Dilma Rousseff in den Schoß fielen. Ein Blick auf die Geschichte
der Marina Silva, einer unbestritten tapferen Brasilianerin, die erst mit 16
Jahren lesen und schreiben lernte, mag die spezifischen Ungereimtheiten und
Unwägbarkeiten der jungen brasilianischen Demokratie etwas verständlicher machen.
Als
eines der elf Kinder eines ›seringueiro‹, eines Kautschuksammlers im extremen
Westen Brasiliens, entstammt Silva (1958 geboren) allerärmsten, doppelt
marginalisierten Verhältnissen, die erst nach der Militärdiktatur von 1985
sozialpolitisch erfaßt und thematisiert wurden, u.a. von Vertretern der
Befreiungstheologie. Mit fünfzehn schwer erkrankt, bringt sie der engagierte
Bischof Moacyr Grechi bei Ordensschwestern unter, denen sie sich zunächst
anschließen will. Doch 1982 ist sie schon diplomierte Historikerin, Mitglied
des kommunistischen Bundes ›PRC‹, der Arbeiterpartei, und
Gewerkschaftsleiterin. Ihr legendärer Mitkämpfer Chico Mendes wird 1988 von
Großgrundbesitzern erschossen. Silvas steile Karriere hält an: Charismatische
Kommunalpolitikerin, Landtagsabgeordnete ihres Amazonas-Staates Acre, den sie
mit 36 Jahren als jüngstes Senatsmitglied aller Zeiten in Brasilia vertritt.
Präsident
Lula, der erste Regierungschef der Arbeiterpartei, holte 2003 die vielseitige
Superkraft ins Umweltministerium. Kollisionen mit den Interessen der
Großagrarier, der Industrie und der wachstumsorientierten Agenda des
Lula-Kabinetts waren damit vorprogrammiert, auch mit Dilma Rousseff, der
damaligen Energie- und späteren Innenministerin beim Tauziehen um nachhaltige
oder kapitalorientierte Umweltpolitik. Silva gab auf und wechselte in die Grüne
Partei (›PV‹). Als deren
Präsidentschaftskandidatin riskierte und verlor sie die Wahlen von 2010;
gewählt wurde ihre pragmatische Widersacherin, die Wirtschaftsfachfrau Dilma Rousseff,
gegen die sie nun anstelle des verunglückten Campos und schon im ersten
Wahlgang wiederum scheiterte. Weniger kohärent, aber umso aufschlußreicher, ist Marina Silvas innere, ideelle
Entwicklung. Nach dem Geschichtsstudium belegt sie Theorie der Psychoanalyse
und Psychopädagogik; seit 1998 gehört sie der Pfingstlersekte ›Assembléia de Deus‹ an, die in Brasilien rund 14 Millionen Gläubige gängelt,
natürlich auch bei Wahlentscheidungen. Kreationismus, die Suprematie der Bibel
in allen Fragen, die leibhaftige Auferstehung, das unverständliche Gebetslallen
›in Zungen‹ [Glossolalie], der obligatorische Zehnt und weitere, aus
nordamerikanischem Sektierertum bekannte Absurditäten sind Eckpunkte des
evangelikalen Katechismus. Sozialer Ausgleich bleibt dem Himmel überlassen,
nicht dem Gesetzgeber.
Nach
eigener Aussage ist Silva seit 2004 auch ›Missionarin‹ ihrer Sekte, folgt göttlichen
Weisungen und regelt wichtige Fragen per ›Bibelroulette‹: Eine Bibel wird beliebig geöffnet,
der erste passende Wortlaut entscheidet. Ihre Parteiwechsel beispielsweise,
oder das Nicht-Einsteigen ins Unglücksflugzeug. Auch als
Präsidentschaftskandidatin berät sie sich regelmäßig mit ihren Pastoren, was
die Wähler beeindruckt: Rund 45 Millionen Brasilianer nämlich, obwohl katholisch
getauft, hängen evangelikalen Sekten an, deren zirkusreife Rituale und ›Wunder‹ in ehemaligen Kinos, Radio und Fernsehen inszeniert werden.
Brasiliens multikultureller Mystizismus und die noch immer ungleiche
Schulbildung mögen das erklären. Wenn Silva nun als ehemalige Kommunistin und
Gewerkschafterin den Kandidaten der Oligopole unterstützt, dann ist das halt
Gottes Wille: Pfingstler wählen Pfingstler, unbesehen.
Was
stand bei der Stichwahl auf dem Spiel? Aécio Neves forderte - und die übermächtigen bürgerlichen Medien
unterstützten ihn - ›weniger Staat‹, vor
allem im fiskalischen und sozialen Bereich. An erster Stelle die Einrichtung
einer nicht-weisungsgebundenen Zentralbank und die ›Ordnung mit eiserner Hand‹
- letztere wohl auch nötig nach der grundsätzlich anvisierten sozialen
Demontage. Neves propagierte auch Brasiliens Ankopplung an die
nordamerikanischen Bündnis- und Freihandelspakte; Mercosur, Unasur und die
übrigen Fixpunkte lateinamerikanischer Identität und Solidarität wären damit
Geschichte. ›F..k Venezuela‹ und ›Ebola für Dilma‹
forderten die schicken ›Kaschmir-Demonstrationen‹ [›The
Economist‹] der Neves-Anhänger, bei
denen nur noch der Champagner gefehlt habe.
Rafael
Correa Delgado, Präsident von Ecuador, konstatierte längst eine ›konservative Restauration‹, die ganz Lateinamerika bedrohe.
Hätte sie in Brasilien gesiegt, wären über kurz oder lang sozial
fortschrittliche Staaten wie Venezuela, Ecuador, Bolivien, Argentinien und
Uruguay betroffen, auch ein erheblicher Teil der übrigen Welt. Ohne Brasiliens
aktive Rolle im BRICS-Verband wäre dessen geopolitisch bedeutsame Opposition
und Konkurrenz gegenüber dem Hegemon USA deutlich geschwächt. Dilma Rousseffs
so geharnischte wie unbequeme Proteste in der UNO blieben Obama erspart.
Etwa
10 Minuten nach dem endgültigen Wahlergebnis und in der noch gelähmten Stille
meiner Mittelstandsstraße sagte mir ein junger Mann ganz unvermittelt: ›Gott hat gemerkt, daß Brasilien Dilma braucht‹ - und klappte sein Handy zu.
Quelle:
http://www.seniora.org/krieg-frieden/demokratie/565-zurueck-in-den-hinterhof-zum-ausgang-der-wahlen-in-brasilien 27. 14. 14 Der
Autor, Journalist und Filmemacher Wolf Gauer lebt in São Paulo
Siehe
hierzu auch http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1528 30. 5. 10 Militärische
Kontrolle und Einkreisung Lateinamerikas durch die USA - Von Wolf Gauer http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2017 21. 10. 12 Wer ist Radonski, der Gegenkandidat in den
venezolanischen Wahlen, wirklich? – Von Wolfgang Gauer
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