Bleibende Krisenherde 25.01.2015 21:23
»Für weltweiten Frieden und Sicherheit« schreibt der französischer Diplomat
und Politologe Jean-Marie Guéhenno, »war 2014
ein schlechtes Jahr, obwohl es natürlich auch Lichtblicke gab. Der
Friedensprozess in Kolumbien lässt hoffen. Die jüngste Verhandlungsrunde über
das iranische Atomprogramm war erfolgreicher als viele meinen. Tunesien ist
zwar noch nicht über dem Berg, bewies aber, dass Dialog über Gewalt
triumphieren kann. Afghanistan hat heute trotz vieler Herausforderungen eine
Regierung der nationalen Einheit. Und auch Barack Obamas angekündigte
Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Kuba stimmt optimistisch. Doch
insgesamt war es ein eher entmutigendes Jahr. Nachdem das Ende des Kalten
Krieges für Entspannung gesorgt hatte, sind heute Konflikte wieder auf dem
Vormarsch. Die Kriege von heute töten und vertreiben in immer grösserem Ausmass
und sind im Vergleich zu früher schwieriger zu beenden.«
Nachfolgend von Guéhenno analysierte Länder:
Syrien, Irak und der Islamische Staat Seit der Islamische Staat im Juni über weite Gebiete des Iraks
hinwegfegte, stehen die Dschihadisten im Fokus der regionalen Politik. Doch der
Erfolg des IS ist nur Symptom tieferer Probleme, für die es keine militärische
Lösung gibt. So etwa die zwischen den Glaubensrichtungen polarisierende Politik
der Regierungen in Syrien und im Irak,
die Abhängigkeit des Militärs von Milizen, die die lokale Bevölkerung
radikalisieren, und der Bedeutungsverlust der Sunniten in den Streitkräften. Im
Vorfeld der irakischen Wahlen im April orientierte sich der damalige
Premierminister Nuri al-Maliki am Beispiel des syrischen Präsidenten Baschar
al-Assad und nutzte die dschihadistische Bedrohung aus, um seine schiitische
Basis hinter sich zu versammeln und internationale Unterstützung einzufordern,
indem er sich als Bollwerk gegen den Terrorismus präsentierte. Seine Taktik war
so erfolgreich wie schädlich: Er gewann die Wahl, aber entfremdete einen Grossteil
der sunnitischen Bevölkerung dem Staat. Die Hoffnungen vieler Iraker und
amerikanischer Politiker, die darauf gebaut hatten, dass Malikis Sturz
zugunsten von Haider al-Abadi zu einer inklusiveren Politik führen würde,
wurden bisher enttäuscht. In der Hauptstadt dominieren mit dem Iran verbündete
schiitische Kräfte. Und obwohl der Krieg gegen den IS zu einer ersten
Annäherung zwischen der kurdischen Regionalregierung und Bagdad geführt hat,
werden Spannungen innerhalb des Iraks wie auch unter den Kurden durch die
Unterstützung des Westens für bestimmte kurdische Gruppen noch genährt. Die
amerikanischen Luftschläge gegen den IS haben den Vormarsch der Dschihadisten
zwar verlangsamt, jedoch verschiebt sich das Kräftespiel auf beiden Seiten der
syrisch-irakischen Grenze weiter zugunsten des IS, der nicht nur behauptet, der
einzige ernstzunehmende Gegner des Assad-Regimes zu sein (von dem es heisst, es
profitiere noch von den amerikanisch geführten Luftschlägen), sondern auch der
einzige ernstzunehmende Verteidiger sunnitischer Interessen in beiden Ländern. Kampfkraft
und Moral der vom Westen unterstützten bewaffneten Opposition in Syrien
schrumpfen immer weiter. Die Al-Kaida angegliederte Jabhat al-Nusra hat bereits
eine Mehrheit der moderaten Fraktionen aus der von Rebellen gehaltenen Provinz
Idlib verjagt, und Assad versucht unbeirrt, diese gänzlich zu erledigen. In
Aleppo, dem wichtigsten verbliebenen Oppositionsgebiet, spielen die vom Westen
unterstützten Gruppen weiterhin eine wichtige Rolle. Aber es fällt ihnen immer
schwerer, eine Einkreisung durch Regierungstruppen abzuwehren und gleichzeitig
den IS in den angrenzenden Gebieten auf Distanz zu halten. Eine Niederlage dort
würde die Überlebensfähigkeit der nicht-dschihadistischen Kräfte im Norden
insgesamt bedrohen und würde wahrscheinlich jede Hoffnung auf eine Vermittlungslösung zunichte
machen. Es ist äusserst wichtig, die Möglichkeit eines zukünftigen
Friedensprozesses aufrechtzuerhalten.
Ukraine
Die Krise in der Ukraine ist vielleicht nicht die mit den meisten Toten
weltweit, aber sie hat die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen radikal
verschlechtert. Seit der Konflikt im März 2014 offen ausbrach, sind ihm im
Osten des Landes über 5000 Menschen zum Opfer gefallen, darunter ca. 1000 nach
Ausrufung eines Waffenstillstands am 5. September 2014. Der Winter könnte der
Krise nun eine neue Dimension verleihen. Die Bevölkerung in den von
Separatisten gehaltenen Regionen Donezk und Luhansk im Osten hat nur wenig, um
zu überleben: Heizmaterial, Nahrungsmittel und Geld sind knapp, seit die lokale
Wirtschaft zusammengebrochen ist und Kiew die finanziellen Stellschrauben
fester gezurrt hat. Die Separatistenführer haben nur wenige funktionierende
Regierungseinrichtungen geschaffen, verfügen kaum über geschulte Beamte und
werden nicht angemessen auf eine humanitäre Notsituation reagieren können. Ein
paar Hoffnungsschimmer gibt es. Obwohl Moskau weiterhin die winzigen
abtrünnigen ›Republiken‹ unterstützt, die in Teilen von Donezk und
Luhansk ausgerufen wurden, lässt die russische Begeisterung für die
Separatisten nach. Man hat sie nicht anerkannt und betont nun, ihre Zukunft
liege innerhalb der ukrainischen Grenzen.
Dennoch bleibt die Lage unberechenbar. Es ist zwar unwahrscheinlich,
dass sich in den ersten Monaten des neuen Jahres eine der beiden Seiten
militärisch durchsetzt. Da es aber auf beiden Seiten starke Befürworter des
Krieges gibt, mögen sie versucht sein, es doch zu probieren. Gebiete wie
Charkiw und Saporischschja im Südosten, in denen es derzeit relativ ruhig ist,
könnten ebenfalls in Aufruhr geraten, sollte Moskau die Situation anheizen, zum
Beispiel, um eine Landverbindung von der Krim durch den Südosten der Ukraine zu
eröffnen. Die Radikalen unter den Separatisten hoffen, dass genau dies
passiert. Präsident Poroschenko weiss zwar um die Bedeutung schneller
wirtschaftlicher und politischer Reformen für die langfristige Stabilität der
Ukraine, setzt diese aber nur langsam um. Der Westen sollte den Druck auf
Poroschenko daher aufrechterhalten. Kurzfristig sind die wichtigsten Aufgaben
der internationalen Gemeinschaft, die Kriegsparteien zu trennen, Kiew darin zu
bestärken, sich den Landsmännern im Osten zuzuwenden, die ukrainisch-russische
Grenze vollständig unter internationale Aufsicht zu stellen, und nach und nach
den Konflikt von bewaffneter Konfrontation hin zu politischen Verhandlungen zu
bewegen. Das Entstehen eines weiteren kalten Konflikts an Europas Aussengrenzen
kann verhindert werden – mit ein wenig Glück, sehr viel Energie und einer
Politik, die weiterhin Druck auf Moskau ausübt und mit Anreizen für eine
Deeskalation verbindet.
Südsudan
Der brutale Bürgerkrieg des Südsudans geht in sein zweites Jahr und wird
wohl auch fortdauern. Er begann, nachdem im Dezember vor einem Jahr aus einem
schwelenden Konflikt innerhalb der Regierungspartei und Armee ein offener Krieg
wurde, der zwischen den Soldaten von Präsident Salva Kiir und denen des
früheren Vizepräsidenten Riek Machar ausgetragen wird. Viele Militärgarnisonen
teilten sich in der Folge, häufig gewaltsam, nach ethnischer Zugehörigkeit.
Schnell wuchsen die Kämpfe an, breiteten sich über die Grenzen der Hauptstadt
aus, zerstörten
Städte mit wichtiger Ölinfrastruktur. Die Regierungstruppen erhielten
Unterstützung von ugandischen Soldaten und sudanesischen Rebellen, der Sudan
belieferte angeblich sowohl die südsudanesische Regierung als auch die
Opposition mit Waffen. Und so gerieten schnell regionale Nachbarn in die Wirren
dieses Krieges hinein, der eine bereits belastete Region noch weiter
destabilisiert. Weil die südsudanesische Regierung ihre Finanzreserven zur
Finanzierung des Krieges benutzt, bewegt sich das Land immer weiter auf einen
Bankrott zu. Es gibt Schätzungen, die von 50.000 Toten und fast zwei Millionen
Vertriebenen ausgehen. Bisher konnten die humanitären Organisationen vor Ort
eine Hungersnot verhindern; sie sind aber dennoch erheblichen Anfeindungen
ausgesetzt. Mit dem Ende der Regenzeit im Dezember wird eine Eskalation der
Gewalt wahrscheinlich.
Bemühungen, den Krieg zu beenden, blieben fruchtlos. Mediationsversuche
in Äthiopien unter Führung der IGAD [Intergovernmental Authority for
Development], der sowohl Uganda als auch der Sudan angehören, brachten nur
geringe Fortschritte und kranken daran, dass sie nicht alle Konfliktparteien in
die Gespräche einbeziehen. Bisherige Waffenstillstände wurden immer wieder
gebrochen. Die USA und China haben es bislang versäumt, sich mit ihrem ganzen
Gewicht in den Friedensprozess einzubringen. Derweil zersplittern die
bewaffneten Gruppen im Südsudan immer mehr, und viele befinden sich längst ausserhalb
der Kontrolle von Kiir oder Machar. Dadurch entstehen im Schatten des
Bürgerkriegs weitere Nebenkriegsschauplätze. Wie kann das Blutvergiessen
gestoppt werden? Der UNO-Sicherheitsrat müsste sich stärker engagieren,
insbesondere aber die USA und China mit ihren engen Verbindungen zu regionalen
Machthabern. Mit einem streng kontrollierten Waffenembargo sollte der Druck auf
alle Seiten erhöht werden. Wenn die USA den Druck auf Uganda erhöhen würde,
China den Druck auf den Sudan und man gemeinsam mit den Ländern der Region den
Druck auf Kiir und Machar erhöhte, könnte dies vielleicht den Stillstand
auslösen. Man sollte dabei nach Wegen suchen, um zu verhindern, dass die
Gewinne aus dem Ölgeschäft den Konflikt weiter anheizen. Der Druck auf die
Versorgungswege der Opposition sollte verstärkt werden. Die Konfliktvermittler
sollten ihre Gespräche ausserdem auf andere bewaffnete Gruppen und Hardliner im
Land ausweiten. Die Krise des Südsudans gehört zu den gravierendsten weltweit.
Weil jedoch der Fall Südsudan - anders
als Syrien oder die Ukraine - den
UNO-Sicherheitsrat nicht polarisiert, besteht hier eine grössere Hoffnung auf
ein koordiniertes internationales Handeln. Weil die Länder in der Region
gespalten sind, ist es höchste Zeit für die Weltmächte, hier einzugreifen.
Nigeria Nigeria stehen stürmische Zeiten bevor. Erstens treibt die islamistische
Boko Haram weiterhin in Teilen des Nordens ihr Unwesen, besonders im verarmten
Nordosten. Vergangenen Sommer eroberte sie zusätzliche Gebiete und dehnte ihre
Aktivitäten über die Landesgrenzen hinaus aus. Kamerun ist bereits betroffen,
auch Niger und Tschad sind bedroht. Der Konflikt geht in sein fünftes Jahr, hat
bereits über 13.000 Menschenleben gefordert und etwa 800.000 Menschen
vertrieben, und nichts deutet auf ein baldiges Abflauen hin. Die Regierung von
Präsident Goodluck Jonathan hat bisher vor allem militärisch reagiert. Damit
war sie hier und da erfolgreich, konnte den Aufstand insgesamt aber nicht
zurückdrängen. Durch das rücksichtslose und brutale Vorgehen der
Sicherheitskräfte und verbündeter Milizen, einschliesslich aussergerichtlicher
Tötungen und Folter, hat sich die Regierung weitere Feinde gemacht. Weil es in
den militärischen Auseinandersetzungen so viele Tote gab, desertierten Soldaten
oder weigerten sich zu kämpfen. Noch immer werden die über 200 Schülerinnen aus
Chibok, deren Entführung im April international Schlagzeilen machte, vermisst.
Das verstärkt nur den Eindruck, dass die Regierung mit der Lage völlig
überfordert ist. Zweitens hat der weltweite Rückgang der Ölpreise die Regierung
geschwächt, denn deren Einkünfte kommen zu etwa 70 % aus dem Verkauf von Rohöl.
In den letzten zwei Monaten des Jahres hat
Nigeria zweimal den Ölpreis, mit dem es sein Budget plant, gesenkt, auf
65 $ pro Barrel. Gleichzeitig versprach
die Regierung, keine politischen Massnahmen zu ergreifen, die zu einer
Inflation führen würden. Erstmals seit drei Jahren wurde der nigerianische
Naira abgewertet. Drittens gefährden die für Februar angesetzten Wahlen die
Stabilität des Landes. Wahlen waren in Nigeria schon immer eine hoch umkämpfte
Angelegenheit, und die Gefahr, dass es zu Gewalt kommt, ist dieses Mal
besonders hoch. Erstmals seit 1999, als das Land wieder eine Zivilregierung
bekam, gibt es für die herrschende ›People’s
Democratic Party‹ (PDP) einen ernsthaften
Herausforderer. Ein Bündnis von Oppositionsparteien, der ›All Progressives Congress‹ (APC), hat
sich mit Ex-General Muhammadu Buhari auf einen gemeinsamen
Präsidentschaftskandidaten geeinigt, um Präsident Jonathan herauszufordern. Wie
schon früher, so muss in den verschiedenen Bundesstaaten Nigerias auch in
diesem Wahlkampf und während der Stimmabgabe mit Gewalt gerechnet werden.
Besonders problematisch wird es, sollte das Wahlergebnis nicht eindeutig ausfallen.
Verliert Buhari, wie schon 2011, könnten wieder gewaltbereite Mobs durch die
Städte des Nordens ziehen - nur, dass
wohl dieses Mal Boko Haram seinen Teil zum Blutvergiessen beitragen würde. Für
den Fall, dass Jonathan verliert, haben seine Unterstützer im Delta bereits
angekündigt, dort wieder Gewalt zu entfachen.
Somalia
Trotz eindrucksvoller Gewinne der somalischen Armee und der Streitkräfte
der Afrikanischen Union (AMISOM)
gegenüber Al-Shabaab kann Somalias Regierung nur schwer regieren. Zwar wurde
eine vorläufige föderale Verfassung erstellt, aber Ende 2014 eskalierten die
Spannungen zwischen dem Präsidenten und dem Premierminister und letzterer
verlor sein Amt. Streitereien auf Landes- und Regionen-Ebene drohen nun die von
der Regierung anvisierten Wahlen sowie ein Verfassungsreferendum bis 2016
scheitern zu lassen. Obwohl heute mehr Gebiete denn je seit den frühen 90er
Jahren offiziell unter der Kontrolle der Zentralregierung stehen, gleicht die
Realität eher einem Patchwork aus Einflussgebieten lokaler bewaffneter Clans.
Die geplanten Wahlen und die angestrebte Bildung eines Föderalstaats könnten zu
weiteren Konflikten führen, denn in beidem sehen lokale Clans vor allem einen
Austragungsort für ihre Machtkämpfe. Angesichts dieser Umstände wird es der
Mission der Afrikanischen Union schwer fallen, neutral zu bleiben, nicht
zuletzt, weil die meisten ihrer Soldaten aus Nachbarstaaten stammen. Al-Shabaab
bleibt derweil gefährlich und zu Anschlägen im In- und Ausland fähig, besonders
in Kenia, wo sich die Gruppe als Verfechter für die Sache der dortigen
muslimischen Minderheit präsentiert. Daran haben auch die Gebietsverluste
Al-Shabaabs oder die gezielte Tötung ihres Anführers durch einen US-
Drohnenangriff nichts geändert. Somalias Partner im In- und Ausland müssen ihre
Prioritäten dringend den Herausforderungen im Land anpassen. Sie sollten sich
darauf konzentrieren, lokal für Stabilität zu sorgen, wie etwa mit Hilfe von
Bezirksräten, Gemeindeverwaltungen und basispolitischen Einrichtungen. Lokale
Wahlen müssen Vorrang vor nationalen Wahlen haben. Das aktuelle ›Top-Down‹ birgt die
Gefahr, dass Somalias Geldgeber schon bald von der Zentralregierung enttäuscht
sein werden und sich die Möglichkeiten der Clans, sich die Präsidentschaft zu
sichern, verbessern.
Demokratische Republik Kongo
Das vergangene Jahr hat viele Hoffnungen zunichte gemacht, die der
Fortschritt von 2013 in der Demokratischen Republik Kongo genährt hatte. Die
von Präsident Joseph Kabila versprochenen Reformen, insbesondere die des
Sicherheitssektors, lassen auf sich warten. 2013 war es kongolesischen Truppen
und einem speziellen UNO-Kontingent, der ›Force
Intervention Brigade‹ (FIB),
gelungen, die von Ruanda unterstützte ›M23-Miliz‹ zu schlagen; aber Versuche, andere Milizen zu demobilisieren, blieben erfolglos.
Zwar gingen die kongolesischen Streitkräfte mit
Militäroperationen gegen die ›Allied
Democratic Forces‹ (ADF) vor, deren Führung
aber blieb weitgehend intakt. Unbekannte Krieger verüben noch immer Massaker in
kongolesischen Dörfern.
Die noch grössere Herausforderung sind die ›Forces
Démocratiques de Libération du Rwanda‹ (FDLR),
eine Nachfolgeorganisation der 1994 für den Völkermord in Ruanda
verantwortlichen Hutu-Milizen. Bei der
kongolesischen Regierung und den ›FIB‹-Truppenstellern, besonders Südafrika und Tansania, zögert man, es mit Ruandas
Feinden von der FDLR aufzunehmen wie schon mit Ruandas Verbündeten von der ›M23-Miliz‹. Gegen die
›FDLR‹ kann man
nicht allein militärisch vorgehen. Es gilt, sanftere Massnahmen – wie etwa
Umsiedlungsmöglichkeiten in Drittländer, Entwaffnungspläne für Kämpfer und
Gemeinden, polizeiliche Massnahmen gegen illegale Unterstützungsnetzwerke der ›FDLR‹ oder
Abkommen über Justizprozesse gegen ›FDLR‹-Anführer – mit einer glaubwürdigen Androhung von
Gewalt zu verbinden. Diese militärische Bedrohung fehlt bisher. Die Zahl von ›FDLR‹-Kriegern,
die sich bisher freiwillig ergab, ist so klein, dass man davon ausgehen kann,
dass sich die Gruppe nicht freiwillig entwaffnen wird. Dass die regionalen
Machthaber für die ›FDLR‹-Demobilisierung eine sechsmonatige Frist ansetzten,
war nur ein Weg, Zeit zu gewinnen. Da man aber mit der Entwaffnung der Milizen
nicht vorankommt, könnte die Gewalt in den östlichen Provinzen eskalieren,
insbesondere falls Ruanda sich aus dem UNO-geführten Prozess ausklinkt.
Wie in Nigeria, so werden auch im Kongo die anstehenden Wahlen zu einer
riesigen Herausforderung inmitten bereits fragiler politischer Umstände.
Kabila, dessen Legitimität stark geschädigt ist und dem es die Verfassung
verbietet, für eine dritte Amtszeit zu kandidieren, könnte versuchen, sich
durch eine Regeländerung wiederwählen zu lassen oder aber die Wahl zu
verschieben und so seine Amtszeit zu verlängern. Beides würde auf den
Widerstand der Opposition stossen. Weil die Gewalt im Osten des Landes vor
allem ein Symptom schlechter Regierungsführung und fehlerhafter staatlicher
Strukturen ist, bedeutet die kommende Wahl für die Stabilität des Kongos eine
ähnlich grosse Gefahr wie Milizen und sich einmischende Nachbarn.
Jemen
Jemens politischer Übergang ist gescheitert. Der politische Prozess ist
elitärem Konkurrenzgehabe und einer Verschiebung des Machtgleichgewichts
zugunsten der Houthi - einer
zaiditisch-schiitischen Bewegung, die von ihrer Hochburg im Nordwesten aus das
Land überrollt hat - und einer
wiederentfachten separatistischen Bewegung im Süden zum Opfer gefallen.
Angesichts der sich verschlechternden Wirtschafts- und Sicherheitslage haben
auch die Glaubwürdigkeit des Staatsapparats und das Vertrauen auf Präsident
Abed-Rabbo Mansour Hadi als ehrlichem Vermittler zwischen den Fraktionen
gelitten. Unterstützt von einer breiten Front, die durch den politischen
Stillstand frustriert war, hatten die Houthi im September 2014 die Hauptstadt
Sanaa übernommen. Sie stimmten einem Plan zur Ernennung einer neuen Regierung
zu (›dem Peace and National
Partnership Agreement‹), verstiessen
aber schnell gegen den Geist des Abkommens, indem sie ihre Kontrolle über die
Hauptstadt hinaus nach Süden und Westen ins Kernland der Sunniten und in die Öl
produzierende Region von Marib ausdehnten.
In Jemens Geschichte spielte konfessionelle Gewalt bisher kaum eine
Rolle, doch das beginnt sich jetzt zu ändern. Die Machtergreifung der Houthi
hat diese in Konflikt mit den Islah gebracht (einer politischen Partei, zu der
auch der jemenitische Zweig der Muslimbruderschaft gehört) sowie mit der 2009
von saudischen und jemenitischen Sunniten gegründeten Al-Kaida auf der
Arabischen Halbinsel. Der Vormarsch der Houthi hat ausserdem Befürchtungen der
Bevölkerung im Süden genährt, dass aus der föderalen Autonomie, wie im
Übergangsdialog nach dem Sturz von Präsident Saleh anvisiert, nichts wird. Gross-
und Regionalmächte haben eine gemischte Bilanz im Jemen. Saudi-Arabien und der
Golf-Kooperationsrat halfen entscheidend dabei, die verschiedenen Fraktionen
während der Tumulte 2011 zusammenzubringen. Die Saudis polsterten das jemenitische Staatsbudget milliardenschwer
auf. Aber nachdem die Houthi in Sanaa einliefen, fragte man sich in Riad, ob
man eine jemenitische Regierung unter Dominanz der Houthi, die man als
Verbündete des Irans ansieht, noch unterstützen könne. Sollten die Saudis nun
von Investitionen im Jemen abraten und ihre finanziellen Hilfen einstellen,
könnte der Staat zusammenbrechen. Iran und Saudi-Arabien, die mit Al-Kaida
einen gemeinsamen Feind haben, sollten lieber zusammenarbeiten, als Jemen einem
weiteren Stellvertreterkrieg auszusetzen.
Auch die Rolle des UNO-Sicherheitsrats war bisher zwiespältig. Im
Februar 2014 mandatierte er Sanktionen gegen alle Gruppen, die er als
Störfaktoren im Übergangsprozess betrachtete. Nachdem die Houthi Sanaa
eingenommen hatten, sanktionierte er auf Drängen von Präsident Hadi und den
Saudis zwei Kommandeure der Houthi sowie den früheren Präsidenten Saleh. Diese
Massnahmen gingen nach hinten los, denn sie stärkten eine Zeitlang gerade die,
die sie schwächen sollten. Die Partei Salehs, die ›General
People’s Congress Party‹, entzog
der Regierung ihre Unterstützung und verjagte Hadi vom Parteivorsitz. Die
Houthi dagegen nahmen die Sanktionen wie eine Ehrung hin. Keine der Parteien
scheint derzeit zu Kompromissen bereit.
Libyen und die Sahel-Zone Auch Libyens politischer Übergang ist völlig entgleist und das libysche
Chaos schwappt nun über die Grenzen. Aus einer politischen Sackgasse heraus
entstanden im Land zwei rivalisierende Legislativen: Ein international
anerkanntes Parlament in Tobruk und ein von Islamisten dominierter General ›National Congress ‹ in
Tripoli. Die libysche Regierung hat ihre Autorität eingebüsst, das Vertrauen
der Bevölkerung in die Staatsinstitutionen ist zerstört, denn diese sind heute
wenig mehr als eine Fassade. Nach der Ermordung von Regierungsbeamten und dem
Putschversuch eines anti-islamistischen Generals ist das Land geteilt und
regional polarisiert. Die Gräben gehen weit über die Gegnerschaft von
Islamisten und Antiislamisten hinaus. Streit um Öl- und Gas-Reichtümer,
rivalisierende Milizen und Stämme, widerstrebende ausländische Interessen und
Uneinigkeit über den Staatsaufbau stellen das Land vor eine Zerreissprobe. Das
ist nicht nur für Libyen ein Problem, sondern auch für seine Nachbarn. Der
Zustrom von Waffen und Söldnern erklärt zum Teil, warum Mali 2012
zusammenbrach, als Tuareg-Rebellen und Al-Kaida-Splittergruppen den Norden
eroberten und ein Militärcoup in Bamako die Regierung zu Fall brachte. Eine
französische Militäroperation konnte die Dschihadisten zwar zurückdrängen, aber
viele von ihnen verstecken sich noch immer in der Wüste und in abgeschiedenen Gemeinden.
Auch in Niger nimmt der Terrorismus zu. Hier, wie auch in Mali, fehlt es den
Machthabern an Kontrolle über die weiten Wüstengebiete, und regionale
Rivalitäten wie zwischen Algerien und Marokko erschweren die Lage zusätzlich.
Extremisten und Kriminelle mit grenzüberschreitenden Verbindungen nutzen die
Sahel-Zone, um den französischen Einsatzkräften zu entkommen und in Nordafrika
Fuss zu fassen. Die porösen Grenzen, schwachen staatlichen Strukturen und
leicht verfügbaren Waffen kommen ihnen dabei zugute. Die regionale Unsicherheit
zeigt sich auch in Libyens weitem, unregierten Süden: Die vernachlässigte
Provinz Fazzan im Südwesten erlebte einen Zustrom von Tuareg-Kämpfern, darunter
radikale Islamisten, und entwickelt sich zu einem Anlaufhafen für radikale
Gruppen.
Libyens Machthaber scheinen nicht in der Lage zu sein, den Zerfall ihres
Landes aufzuhalten. Die Einsätze Frankreichs und auch der USA konnten den
dschihadistischen Vormarsch in der Sahel-Zone aufhalten. Aber die militärischen
Massnahmen müssten von einer inklusiveren Politik und besseren
sozio-ökonomischen Entwicklung begleitet werden; nur so kann Stabilität
entstehen. Bisher hinkt die politische Strategie den militärischen Operationen
gefährlich hinterher.
Afghanistan Afghanistan hat im vergangenen Jahr zum ersten Mal in seiner Geschichte
eine weitgehend friedliche Übergabe der Regierungsgewalt vollzogen. Präsident
Hamid Karzai hat seinen Sitz geräumt, Ashraf Ghani wurde als sein Nachfolger
eingeschworen, und der Zweitplatzierte, Abdullah Abdullah, wurde neuer
Regierungschef. Aber die lange Krise, die die Wahl begleitete, verdeutlicht,
dass Ghanis Einheitsregierung nicht nur eine Chance ist, sondern auch mit grossen
Herausforderungen verbunden ist. Die Fronten zwischen den politischen Lagern
sind noch immer verhärtet. Noch immer mangelt es an Einigkeit in Bezug auf
Schlüsselpositionen im Kabinett und an Mechanismen zur Streitschlichtung. Die
Parteiquerelen könnten dringend benötigte und von Ghani versprochene Reformen
aufhalten, etwa solche zur Stärkung der politischen Institutionen, zur
Korruptionsbekämpfung und zur Dezentralisierung des Regierungssystems. Afghanistans
junge Regierung sieht sich ausserdem mit einem wachsenden Taliban-Aufstand
konfrontiert. Dank Ghanis Abkommen mit Washington bleiben 2015 etwa 12.000
Soldaten im Land – die meisten davon Amerikaner – , um Anti-Terror-Operationen
durchzuführen und die lokalen Streitkräfte in ihrem Kampf gegen die Taliban zu
beraten, zu trainieren und zu unterstützen.
Die Gewalt aber wächst. In entlegenen Regionen erzielen die
Aufständischen Erfolge. Das afghanische Verteidigungsministerium erklärte das
Jahr 2014 bereits Ende Oktober zum Jahr mit den meisten Toten der afghanischen
Streitkräfte seit der US-amerikanisch geführten Invasion von 2001. Schon vorher
hatten die UN von einer steigenden Zahl ziviler Todes- und Verletzungsfälle
berichtet. Mit Abzug der ausländischen Truppen hat Kabul in den Provinzen an
Einfluss verloren, und ohne weitere Milliardenhilfen wird es der Regierung
schwer fallen, die Truppenstärke auf aktuellem Niveau zu halten. Präsident
Ghani hat seine Staatsbesuche in China, Pakistan und Saudi-Arabien klug dazu
genutzt, sein Interesse an einer Verhandlungslösung zu signalisieren. Damit ist
jedoch das Risiko eines wachsenden Einflusses Pakistans verbunden, dessen
Verbindungen zu Kabul weiterhin belastet sind und in dessen Grenzgebiet
afghanische Aufständische noch immer Unterschlupf finden. Die hohe Zahl von
Taliban-Anschlägen ist eine Warnung, dass die Aufständischen ihren Kampf gegen
die afghanische Armee nicht so schnell einstellen werden. Die Kämpfe werden in
den Verhandlungen eine entscheidende Rolle spielen, und es muss befürchtet
werden, dass 2015 ein weiteres Jahr der Gewalt wird.
Quelle: http://foreignpolicy.com/2015/01/02/10-wars-to-watch-in-2015/ January 2, 2015 10 Wars to Watch in 2015 - by
Jean-Marie Guéhenno From Afghanistan
to Yemen,
the conflicts and crises the world faces in the coming year
Die Übersetzung findet sich auf http://www.crisisgroup.org/en/regions/op-eds/2015/guehenno-10-wars-to-watch-in-2015.aspx?alt_lang=de 16. 1. 15
Die Kriege des Jahres 2015
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