Ein Junge namens Bibi - Von Uri Avnery 16.05.2015 21:12
Es gibt zwei verschiedene Meinungen über Binjamin Netanyahu. Es ist schwer, zu glauben, daß sie dieselbe Person betreffen.
Die eine ist, daß Netanyahu ein oberflächlicher Politiker,
ohne Ideen und ohne Überzeugungen ist, der einzig und allein von seiner
Obsession geleitet wird, an der Macht zu bleiben. Dieser Netanyahu hat eine
gute Stimme und ein Talent, geschwollene Reden im Fernsehen zu halten, Reden,
die jeglichen intellektuellen Inhalts entbehren – und das ist alles. Dieser
Netanyahu ist äußerst erpressbar (ein hebräisches Wort, das fast nur für ihn
erfunden wurde), ein Mann, der seine Ansichten ändert und je nach politischem
Kalkül abends leugnet, was er morgens gesagt hat. Keinem seiner Worte sollte
man vertrauen. Er wird jederzeit lügen und betrügen, um sein Überleben zu
sichern.
Der andere Netanyahu ist fast das genaue Gegenteil. Ein
prinzipiengetreuer Patriot, ein seriöser Denker, ein Staatsmann, der die Gefahr
hinter dem Horizont sieht. Dieser Netanyahu ist ein begabter Redner, der den
US-Kongreß und das UN-Plenum bewegt, was von der
größten Masse der Israelis bewundert wird.
So, welche der Beschreibungen ist nun wahr? Keine von beiden.
Wenn es wahr ist, daß der Charakter einer Person von seiner frühen
Kindheit geprägt wird, müssen wir Netanyahus Herkunft untersuchen, um ihn zu
verstehen. Er wuchs im Schatten eines strengen Vaters auf. Benzion Millikowsky,
der seinen ausländischen Namen in den hebräischen Netanyahu geändert hat, war
eine sehr dominante und sehr unglückliche Person. In Warschau geboren, damals
eine Provinzstadt im russischen Reich, wanderte er als junger Mann nach Palästina
aus, studierte Geschichte an der neuen hebräischen Universität in Jerusalem und
erwartete, dort Professor zu werden. Er wurde nicht angenommen.
Benzion war der Sohn eines früheren Anhängers von Vladimir (Ze'ev)
Jabotinsky, dem extrem rechten zionistischen Führer. Er erbte von seinem Vater
eine sehr extremistische Einstellung und gab diese an seine drei Söhne weiter.
Binyamin war der zweite. Sein älterer Bruder, selbst noch ein Kind, nannte ihn
Bibi und die kindische Bezeichnung blieb haften. Benzions Ablehnung durch die
junge Prestige-Universität machte aus ihm einen verbitterten Menschen, eine
Verbitterung, die bis zu seinem Tod im Jahr 2012, im Alter von 102, anhielt. Er
war sicher, daß seine Ablehnung nichts mit seiner akademischen
Qualifikation zu tun hatte, sondern alles mit seiner ultra-nationalistischen
Einstellung. Sein extremer Zionismus hielt ihn nicht davon ab, Palästina zu
verlassen und sein akademisches Glück in den Vereinigten Staaten zu suchen, wo
eine zweitklassige Universität ihm eine Professur gab. Sein Lebenswerk als
Historiker betraf das Schicksal der Juden im mittelalterlichen christlichen
Spanien, die Vertreibung und die Inquisition. Das erzeugte in ihm ein sehr
düsteres Weltbild: die Überzeugung, daß die Juden immer verfolgt werden, daß alle Goyim (Nicht-Juden) die Juden hassen und das Autodafé der
spanischen Inquisition mit dem Nazi-Holocaust durch eine Gerade verbunden ist.
Während der Jahre pendelte die Netanyahu-Familie zwischen der USA und
Israel hin und her. Binyamin wuchs in Amerika auf, lernte perfektes
amerikanisches Englisch, was für seine zukünftige Karriere wesentlich war,
studierte und wurde Kaufmann. Sein offensichtliches Talent für diesen Beruf zog
einen Likud-Außenminister an, der ihn als israelischen Sprecher in die UNO
sandte. Benzion Netanyahu war nicht nur eine verbitterte Person, die das
zionistische und israelische akademische Establishment beschuldigte, versagt zu
haben, indem sie sein akademisches Format nicht anerkannten. Er war auch ein
sehr autokratischer Familienmensch. Die drei Netanyahu-Jungen lebten in
ständiger Furcht vor dem Vater. Sie durften zu Hause keinen Lärm machen,
während der große Mann in seinem verschlossenen Arbeitszimmer arbeitete. Sie
durften keine anderen Jungen mit nach Hause bringen. Ihre Mutter war ihrem Mann
völlig treu ergeben und bediente ihn in jeder Weise, indem sie ihre eigene
Persönlichkeit opferte. In jeder Familie ist das zweite von drei Kindern in
einer schwierigen Position. Es wird nicht bewundert, so wie das älteste, noch
verhätschelt, wie das jüngste. Für Binyamin war das besonders hart, wegen der
Stellung seines älteren Bruders. Yonatan Netanyahu (beide Namen bedeuten: ›Gott hat gegeben‹) scheint
ein besonders begnadeter Junge gewesen zu sein. Er sah gut aus, war begabt und
sehr beliebt, wurde sogar bewundert. In der Armee wurde er Kommandeur der hochangesehenen
Sayeret Matkal (Generalstabs-Kommandoeinheit)
- der Elite der Armee-Elite. Als solcher war er der Kommandeur vor Ort
bei dem gewagten Entebbe-Kommando-Einsatz im Jahre 1976 in Uganda, der die
gefangenen Passagiere eines Flugzeugs, das von Palästinensern und deutschen
Guerillas auf dem Weg nach Israel entführt worden war, befreite. Yonatan wurde
dabei getötet und zum Nationalhelden. Er wurde von seinem Vater, der die
Qualitäten seines zweiten Sohnes nie wirklich akzeptiert hat, verehrt.
Zwischen seinem Vater, dem verbitterten Denker, und seinem älteren
Bruder, dem legendären Held, wuchs Binyamin als ruhiger, aber sehr ehrgeiziger
Junge, teils Israeli, teils Amerikaner, auf. Er arbeitete einige Zeit als
Möbelverkäufer, bis er von dem extrem rechten Likud-Außenminister, Moshe Arens,
entdeckt wurde. Zwischen seinem obsessiven Bedürfnis, von seinem Vater
anerkannt und als seinem glorreichen Bruder gleichwertig angesehen zu werden,
wurde Netanyahus eigener Charakter geschmiedet. Sein Vater schätzte ihn nie.
Einmal sagte er, er gäbe einen guten Außenminister, aber keinen
Premierminister, ab. Als Sohn seines Vaters hetzte Netanyahu nach dem Oslo-Abkommen
die Menschen gegen Yitzhak Rabin auf und wurde auf dem Balkon des Sprechers bei
der Demonstration fotografiert, wo ein symbolischer Sarg mit Rabin
herumgetragen wurde. Als Rabin bald darauf ermordet wurde, bestritt er jegliche
Verantwortung. Rabins Nachfolger, Shimon Peres, versagte kläglich, und
Netanyahu wurde Premierminister. Das war eine totale Katastrophe. Am Abend der
Wahlen des Jahres 1998, als deutlich wurde, daß Netanyahu
verloren hatte, strömten Menschenmassen in einer spontanen Demonstration der
Freude, wie die bei der Befreiung von Paris, zu Tel Avivs zentralem Platz, der
jetzt nach Rabin benannt ist.
Sein Nachfolger aus der Arbeiterpartei, Ehud Barak, hatte kaum mehr
Glück. Als ehemaliger Stabschef, von vielen bewundert, vor allem von sich
selbst, zwang er Präsident Bill Clinton, eine israelisch-palästinensische
Friedenskonferenz in Camp David einzuberufen. Barak, der palästinensische
Standpunkte völlig ignorierte, kam, um seine Konditionen zu diktieren und war
schockiert, als sie diese zurückwiesen. Nach Hause zurückgekehrt, erklärte er,
die Palästinenser wollten uns ins Meer werfen. Als die Öffentlichkeit das
hörte, servierte sie ihn ab und wählte den taffen, extrem rechten General Ariel
Sharon, den Gründer des Likud. Netanyahu wurde 2003 Finanzminister.
Als solcher war er ziemlich erfolgreich. Indem er die neo-liberalen,
ultra-kapitalistischen Lehren, die er in den USA absorbiert hatte,
praktizierte, machte er die Armen ärmer und die Reichen reicher. Die Armen
schienen es zu mögen.
Sharon war der Vater der Siedlungen in der Westbank. Um
diese zu stärken, beschloss er, den Gaza-Streifen mit den wenigen
Siedlungen, die ein unverhältnismäßiger Klotz am Bein für die Armee waren, aufzugeben.
Aber sein unilateraler Rückzug aus dem Gaza-Streifen schockierte das rechte
Lager. Der ältere Netanyahu nannte diesen Schritt ein ›Verbrechen gegen die Menschheit‹. Unduldsam
Widerspruch gegenüber, spaltete Sharon den Likud und gründete seine eigene
Kadima (›Vorwärts‹) - Partei.
Erneut wurde Netanyahu Vorsitzender des Likud. Wie üblich, hatte er Glück.
Sharon erlitt einen Schlaganfall und fiel ins Koma, wovon er sich nicht mehr
erholte. Sein Nachfolger, Ehud Olmert, wurde der Korruption angeklagt und mußte
zurücktreten. Die nächste in der Reihe, Tzipi Livni, war inkompetent und
unfähig, eine Regierung zu bilden, obwohl alle Ingredienzien vorhanden waren. Netanyahu,
der Mann, dem die jubelnden Massen nur ein paar Jahre zuvor den Laufpaß gegeben
hatten, kehrte als Imperator zurück. Wieder jubelten die Massen. Shakespeare
hätte es geliebt. Seitdem wurde Netanyahu immer wieder gewählt und seither war
es ein klarer persönlicher Sieg; er besiegte all seine Konkurrenten der
Rechten.
Also, wer ist dieser Netanyahu? Im Gegensatz zur
populären Meinung ist er ein Mensch mit sehr starken Glaubensvorstellungen, den
Glaubensvorstellungen seines extrem rechten Vaters. Die ganze Welt trachtet
danach, uns zu töten; jederzeit. Wir brauchen einen mächtigen Staat, um uns
selbst zu verteidigen. Das gesamte Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan
wurde uns von Gott gegeben (ob er existiert oder nicht).
Alle seine anderen Aussagen sind Lügen, Ausreden,
Taktiken. Als Netanyahu in einer berühmten Rede an der Bar-Ilan-Universität bei
Tel Aviv den Grundsatz der ›Zwei-Staaten-Lösung‹ akzeptierte, konnten diejenigen, die ihn kannten, nur
schmunzeln. Es war so, als hätte er das Essen von Schweinefleisch am Jom Kippur
empfohlen. Er ließ diese Aussage vor den Augen der naiven Amerikaner baumeln
und seine Justizministerin, Tzipi Livni, endlose Verhandlungen mit den
Palästinensern führen, die er verachtet. Wenn immer es so aussah, als ob die
Verhandlungen sich einem Ziel näherten, legte er schnell eine andere Kondition
fest, wie zum Beispiel die lächerliche Forderung, daß die
Palästinenser Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes anerkennen. Er dachte
selbstverständlich nicht im Traum daran, die palästinensischen Gebiete als
Nationalstaat des palästinensischen Volkes
- ein Volk, dessen Existenz er gänzlich leugnet - anzuerkennen. Gerade erst kürzlich, am Abend
der letzten Wahl, verkündete Netanyahu, daß es keinen palästinensischen Staat
geben werde, solange er an der Macht sei. Als die
Amerikaner protestierten, verleugnete er sich selbst. Warum nicht? Wie sein
Likud-Vorgänger, Yitzhak Shamir, bekanntermaßen sagte: »Für das
Vaterland zu lügen, ist erlaubt.« Netanyahu wird lügen, betrügen, sich selbst verleugnen, unter
falscher Flagge agieren, all das, um das eine, sein einzig wahres Ziel zu erreichen,
den Fels unserer Existenz (wie er es zu sagen beliebt), das Erbe seines Vaters
– einen
jüdischen Staat vom Meer bis zum Fluß.
Der Ärger
ist, daß die Araber in diesem Gebiet bereits eine kleine Mehrheit ausmachen,
aber eine, die ständig wächst. Ein jüdischer und demokratischer Staat im ganzen
Land ist unmöglich. Der populäre Witz sagt, dies sei sogar zu viel für Gott.
Also ordnet er an, daß wir zwei von drei Attributen wählen müssen: einen
jüdischen und demokratischen Staat in einem Teil des Landes, einen jüdischen
Staat im ganzen Land, der nicht demokratisch ist, oder einen demokratischen
Staat im ganzen Land, der nicht jüdisch ist.
Netanyahus
Lösung für dieses Problem ist, es zu ignorieren, einfach weiterzumachen, Siedlungen
auszudehnen und sich auf das unmittelbare Problem zu konzentrieren: Seine
vierte Regierung zu errichten und seine fünfte, in vier Jahren von heute an, zu
planen.
Und
natürlich auch, um seinem Vater, der aus dem Himmel auf ihn herabsieht, zu
zeigen, daß der kleine Bibi, sein zweiter Sohn, letztlich doch seiner wert ist.
Uri Avnery, Gründer der israelischen Friedensbewegung »Gush Schalom« www.gush-shalom.orgß und Aachener
Friedenspreisträgers, vertritt seit 1948 die Idee eines
israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: Israel
und Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Für sein Engagement
erhielt der 1923 geborene Avnery viele Auszeichnungen; 2002 wurde er für seine
friedensstiftenden Aktivitäten im Nahen Osten mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis
für Zeitgeschichte und Politik der Stadt Oldenburg geehrt.
Siehe hierzu auch
http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2045 10. 12. 12 Netanjahu in Berlin
http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1215 9. 5. 2009 Netanjahus
»Plan« für Israel als »Staat des jüdischen Volkes« - Von Uri Avnery
http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=963 21. 6. 2008 Nein, ich
kann nicht! Von Uri Avnery
Die eine ist, daß Netanyahu ein oberflächlicher Politiker,
ohne Ideen und ohne Überzeugungen ist, der einzig und allein von seiner
Obsession geleitet wird, an der Macht zu bleiben. Dieser Netanyahu hat eine
gute Stimme und ein Talent, geschwollene Reden im Fernsehen zu halten, Reden,
die jeglichen intellektuellen Inhalts entbehren – und das ist alles. Dieser
Netanyahu ist äußerst erpressbar (ein hebräisches Wort, das fast nur für ihn
erfunden wurde), ein Mann, der seine Ansichten ändert und je nach politischem
Kalkül abends leugnet, was er morgens gesagt hat. Keinem seiner Worte sollte
man vertrauen. Er wird jederzeit lügen und betrügen, um sein Überleben zu
sichern.
Der andere Netanyahu ist fast das genaue Gegenteil. Ein
prinzipiengetreuer Patriot, ein seriöser Denker, ein Staatsmann, der die Gefahr
hinter dem Horizont sieht. Dieser Netanyahu ist ein begabter Redner, der den
US-Kongreß und das UN-Plenum bewegt, was von der
größten Masse der Israelis bewundert wird.
So, welche der Beschreibungen ist nun wahr? Keine von beiden.
Wenn es wahr ist, daß der Charakter einer Person von seiner frühen
Kindheit geprägt wird, müssen wir Netanyahus Herkunft untersuchen, um ihn zu
verstehen. Er wuchs im Schatten eines strengen Vaters auf. Benzion Millikowsky,
der seinen ausländischen Namen in den hebräischen Netanyahu geändert hat, war
eine sehr dominante und sehr unglückliche Person. In Warschau geboren, damals
eine Provinzstadt im russischen Reich, wanderte er als junger Mann nach Palästina
aus, studierte Geschichte an der neuen hebräischen Universität in Jerusalem und
erwartete, dort Professor zu werden. Er wurde nicht angenommen.
Benzion war der Sohn eines früheren Anhängers von Vladimir (Ze'ev)
Jabotinsky, dem extrem rechten zionistischen Führer. Er erbte von seinem Vater
eine sehr extremistische Einstellung und gab diese an seine drei Söhne weiter.
Binyamin war der zweite. Sein älterer Bruder, selbst noch ein Kind, nannte ihn
Bibi und die kindische Bezeichnung blieb haften. Benzions Ablehnung durch die
junge Prestige-Universität machte aus ihm einen verbitterten Menschen, eine
Verbitterung, die bis zu seinem Tod im Jahr 2012, im Alter von 102, anhielt. Er
war sicher, daß seine Ablehnung nichts mit seiner akademischen
Qualifikation zu tun hatte, sondern alles mit seiner ultra-nationalistischen
Einstellung. Sein extremer Zionismus hielt ihn nicht davon ab, Palästina zu
verlassen und sein akademisches Glück in den Vereinigten Staaten zu suchen, wo
eine zweitklassige Universität ihm eine Professur gab. Sein Lebenswerk als
Historiker betraf das Schicksal der Juden im mittelalterlichen christlichen
Spanien, die Vertreibung und die Inquisition. Das erzeugte in ihm ein sehr
düsteres Weltbild: die Überzeugung, daß die Juden immer verfolgt werden, daß alle Goyim (Nicht-Juden) die Juden hassen und das Autodafé der
spanischen Inquisition mit dem Nazi-Holocaust durch eine Gerade verbunden ist.
Während der Jahre pendelte die Netanyahu-Familie zwischen der USA und
Israel hin und her. Binyamin wuchs in Amerika auf, lernte perfektes
amerikanisches Englisch, was für seine zukünftige Karriere wesentlich war,
studierte und wurde Kaufmann. Sein offensichtliches Talent für diesen Beruf zog
einen Likud-Außenminister an, der ihn als israelischen Sprecher in die UNO
sandte. Benzion Netanyahu war nicht nur eine verbitterte Person, die das
zionistische und israelische akademische Establishment beschuldigte, versagt zu
haben, indem sie sein akademisches Format nicht anerkannten. Er war auch ein
sehr autokratischer Familienmensch. Die drei Netanyahu-Jungen lebten in
ständiger Furcht vor dem Vater. Sie durften zu Hause keinen Lärm machen,
während der große Mann in seinem verschlossenen Arbeitszimmer arbeitete. Sie
durften keine anderen Jungen mit nach Hause bringen. Ihre Mutter war ihrem Mann
völlig treu ergeben und bediente ihn in jeder Weise, indem sie ihre eigene
Persönlichkeit opferte. In jeder Familie ist das zweite von drei Kindern in
einer schwierigen Position. Es wird nicht bewundert, so wie das älteste, noch
verhätschelt, wie das jüngste. Für Binyamin war das besonders hart, wegen der
Stellung seines älteren Bruders. Yonatan Netanyahu (beide Namen bedeuten: ›Gott hat gegeben‹) scheint
ein besonders begnadeter Junge gewesen zu sein. Er sah gut aus, war begabt und
sehr beliebt, wurde sogar bewundert. In der Armee wurde er Kommandeur der hochangesehenen
Sayeret Matkal (Generalstabs-Kommandoeinheit)
- der Elite der Armee-Elite. Als solcher war er der Kommandeur vor Ort
bei dem gewagten Entebbe-Kommando-Einsatz im Jahre 1976 in Uganda, der die
gefangenen Passagiere eines Flugzeugs, das von Palästinensern und deutschen
Guerillas auf dem Weg nach Israel entführt worden war, befreite. Yonatan wurde
dabei getötet und zum Nationalhelden. Er wurde von seinem Vater, der die
Qualitäten seines zweiten Sohnes nie wirklich akzeptiert hat, verehrt.
Zwischen seinem Vater, dem verbitterten Denker, und seinem älteren
Bruder, dem legendären Held, wuchs Binyamin als ruhiger, aber sehr ehrgeiziger
Junge, teils Israeli, teils Amerikaner, auf. Er arbeitete einige Zeit als
Möbelverkäufer, bis er von dem extrem rechten Likud-Außenminister, Moshe Arens,
entdeckt wurde. Zwischen seinem obsessiven Bedürfnis, von seinem Vater
anerkannt und als seinem glorreichen Bruder gleichwertig angesehen zu werden,
wurde Netanyahus eigener Charakter geschmiedet. Sein Vater schätzte ihn nie.
Einmal sagte er, er gäbe einen guten Außenminister, aber keinen
Premierminister, ab. Als Sohn seines Vaters hetzte Netanyahu nach dem Oslo-Abkommen
die Menschen gegen Yitzhak Rabin auf und wurde auf dem Balkon des Sprechers bei
der Demonstration fotografiert, wo ein symbolischer Sarg mit Rabin
herumgetragen wurde. Als Rabin bald darauf ermordet wurde, bestritt er jegliche
Verantwortung. Rabins Nachfolger, Shimon Peres, versagte kläglich, und
Netanyahu wurde Premierminister. Das war eine totale Katastrophe. Am Abend der
Wahlen des Jahres 1998, als deutlich wurde, daß Netanyahu
verloren hatte, strömten Menschenmassen in einer spontanen Demonstration der
Freude, wie die bei der Befreiung von Paris, zu Tel Avivs zentralem Platz, der
jetzt nach Rabin benannt ist.
Sein Nachfolger aus der Arbeiterpartei, Ehud Barak, hatte kaum mehr
Glück. Als ehemaliger Stabschef, von vielen bewundert, vor allem von sich
selbst, zwang er Präsident Bill Clinton, eine israelisch-palästinensische
Friedenskonferenz in Camp David einzuberufen. Barak, der palästinensische
Standpunkte völlig ignorierte, kam, um seine Konditionen zu diktieren und war
schockiert, als sie diese zurückwiesen. Nach Hause zurückgekehrt, erklärte er,
die Palästinenser wollten uns ins Meer werfen. Als die Öffentlichkeit das
hörte, servierte sie ihn ab und wählte den taffen, extrem rechten General Ariel
Sharon, den Gründer des Likud. Netanyahu wurde 2003 Finanzminister.
Als solcher war er ziemlich erfolgreich. Indem er die neo-liberalen,
ultra-kapitalistischen Lehren, die er in den USA absorbiert hatte,
praktizierte, machte er die Armen ärmer und die Reichen reicher. Die Armen
schienen es zu mögen.
Sharon war der Vater der Siedlungen in der Westbank. Um
diese zu stärken, beschloss er, den Gaza-Streifen mit den wenigen
Siedlungen, die ein unverhältnismäßiger Klotz am Bein für die Armee waren, aufzugeben.
Aber sein unilateraler Rückzug aus dem Gaza-Streifen schockierte das rechte
Lager. Der ältere Netanyahu nannte diesen Schritt ein ›Verbrechen gegen die Menschheit‹. Unduldsam
Widerspruch gegenüber, spaltete Sharon den Likud und gründete seine eigene
Kadima (›Vorwärts‹) - Partei.
Erneut wurde Netanyahu Vorsitzender des Likud. Wie üblich, hatte er Glück.
Sharon erlitt einen Schlaganfall und fiel ins Koma, wovon er sich nicht mehr
erholte. Sein Nachfolger, Ehud Olmert, wurde der Korruption angeklagt und mußte
zurücktreten. Die nächste in der Reihe, Tzipi Livni, war inkompetent und
unfähig, eine Regierung zu bilden, obwohl alle Ingredienzien vorhanden waren. Netanyahu,
der Mann, dem die jubelnden Massen nur ein paar Jahre zuvor den Laufpaß gegeben
hatten, kehrte als Imperator zurück. Wieder jubelten die Massen. Shakespeare
hätte es geliebt. Seitdem wurde Netanyahu immer wieder gewählt und seither war
es ein klarer persönlicher Sieg; er besiegte all seine Konkurrenten der
Rechten.
Also, wer ist dieser Netanyahu? Im Gegensatz zur
populären Meinung ist er ein Mensch mit sehr starken Glaubensvorstellungen, den
Glaubensvorstellungen seines extrem rechten Vaters. Die ganze Welt trachtet
danach, uns zu töten; jederzeit. Wir brauchen einen mächtigen Staat, um uns
selbst zu verteidigen. Das gesamte Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan
wurde uns von Gott gegeben (ob er existiert oder nicht).
Alle seine anderen Aussagen sind Lügen, Ausreden,
Taktiken. Als Netanyahu in einer berühmten Rede an der Bar-Ilan-Universität bei
Tel Aviv den Grundsatz der ›Zwei-Staaten-Lösung‹ akzeptierte, konnten diejenigen, die ihn kannten, nur
schmunzeln. Es war so, als hätte er das Essen von Schweinefleisch am Jom Kippur
empfohlen. Er ließ diese Aussage vor den Augen der naiven Amerikaner baumeln
und seine Justizministerin, Tzipi Livni, endlose Verhandlungen mit den
Palästinensern führen, die er verachtet. Wenn immer es so aussah, als ob die
Verhandlungen sich einem Ziel näherten, legte er schnell eine andere Kondition
fest, wie zum Beispiel die lächerliche Forderung, daß die
Palästinenser Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes anerkennen. Er dachte
selbstverständlich nicht im Traum daran, die palästinensischen Gebiete als
Nationalstaat des palästinensischen Volkes
- ein Volk, dessen Existenz er gänzlich leugnet - anzuerkennen. Gerade erst kürzlich, am Abend
der letzten Wahl, verkündete Netanyahu, daß es keinen palästinensischen Staat
geben werde, solange er an der Macht sei. Als die
Amerikaner protestierten, verleugnete er sich selbst. Warum nicht? Wie sein
Likud-Vorgänger, Yitzhak Shamir, bekanntermaßen sagte: »Für das
Vaterland zu lügen, ist erlaubt.« Netanyahu wird lügen, betrügen, sich selbst verleugnen, unter
falscher Flagge agieren, all das, um das eine, sein einzig wahres Ziel zu erreichen,
den Fels unserer Existenz (wie er es zu sagen beliebt), das Erbe seines Vaters
– einen
jüdischen Staat vom Meer bis zum Fluß.
Der Ärger
ist, daß die Araber in diesem Gebiet bereits eine kleine Mehrheit ausmachen,
aber eine, die ständig wächst. Ein jüdischer und demokratischer Staat im ganzen
Land ist unmöglich. Der populäre Witz sagt, dies sei sogar zu viel für Gott.
Also ordnet er an, daß wir zwei von drei Attributen wählen müssen: einen
jüdischen und demokratischen Staat in einem Teil des Landes, einen jüdischen
Staat im ganzen Land, der nicht demokratisch ist, oder einen demokratischen
Staat im ganzen Land, der nicht jüdisch ist.
Netanyahus
Lösung für dieses Problem ist, es zu ignorieren, einfach weiterzumachen, Siedlungen
auszudehnen und sich auf das unmittelbare Problem zu konzentrieren: Seine
vierte Regierung zu errichten und seine fünfte, in vier Jahren von heute an, zu
planen.
Und
natürlich auch, um seinem Vater, der aus dem Himmel auf ihn herabsieht, zu
zeigen, daß der kleine Bibi, sein zweiter Sohn, letztlich doch seiner wert ist.
Uri Avnery, Gründer der israelischen Friedensbewegung »Gush Schalom« www.gush-shalom.orgß und Aachener
Friedenspreisträgers, vertritt seit 1948 die Idee eines
israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: Israel
und Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Für sein Engagement
erhielt der 1923 geborene Avnery viele Auszeichnungen; 2002 wurde er für seine
friedensstiftenden Aktivitäten im Nahen Osten mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis
für Zeitgeschichte und Politik der Stadt Oldenburg geehrt.
Siehe hierzu auch
http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2045 10. 12. 12
Netanjahu in Berlin
http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1215 9. 5. 2009
Netanjahus
»Plan« für Israel als »Staat des jüdischen Volkes« - Von Uri Avnery
http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=963 21. 6. 2008
Nein, ich
kann nicht! Von Uri Avnery
Die eine ist, daß Netanyahu ein oberflächlicher Politiker,
ohne Ideen und ohne Überzeugungen ist, der einzig und allein von seiner
Obsession geleitet wird, an der Macht zu bleiben. Dieser Netanyahu hat eine
gute Stimme und ein Talent, geschwollene Reden im Fernsehen zu halten, Reden,
die jeglichen intellektuellen Inhalts entbehren – und das ist alles. Dieser
Netanyahu ist äußerst erpressbar (ein hebräisches Wort, das fast nur für ihn
erfunden wurde), ein Mann, der seine Ansichten ändert und je nach politischem
Kalkül abends leugnet, was er morgens gesagt hat. Keinem seiner Worte sollte
man vertrauen. Er wird jederzeit lügen und betrügen, um sein Überleben zu
sichern.
Der andere Netanyahu ist fast das genaue Gegenteil. Ein
prinzipiengetreuer Patriot, ein seriöser Denker, ein Staatsmann, der die Gefahr
hinter dem Horizont sieht. Dieser Netanyahu ist ein begabter Redner, der den
US-Kongreß und das UN-Plenum bewegt, was von der
größten Masse der Israelis bewundert wird.
So, welche der Beschreibungen ist nun wahr? Keine von beiden.
Wenn es wahr ist, daß der Charakter einer Person von seiner frühen
Kindheit geprägt wird, müssen wir Netanyahus Herkunft untersuchen, um ihn zu
verstehen. Er wuchs im Schatten eines strengen Vaters auf. Benzion Millikowsky,
der seinen ausländischen Namen in den hebräischen Netanyahu geändert hat, war
eine sehr dominante und sehr unglückliche Person. In Warschau geboren, damals
eine Provinzstadt im russischen Reich, wanderte er als junger Mann nach Palästina
aus, studierte Geschichte an der neuen hebräischen Universität in Jerusalem und
erwartete, dort Professor zu werden. Er wurde nicht angenommen.
Benzion war der Sohn eines früheren Anhängers von Vladimir (Ze'ev)
Jabotinsky, dem extrem rechten zionistischen Führer. Er erbte von seinem Vater
eine sehr extremistische Einstellung und gab diese an seine drei Söhne weiter.
Binyamin war der zweite. Sein älterer Bruder, selbst noch ein Kind, nannte ihn
Bibi und die kindische Bezeichnung blieb haften. Benzions Ablehnung durch die
junge Prestige-Universität machte aus ihm einen verbitterten Menschen, eine
Verbitterung, die bis zu seinem Tod im Jahr 2012, im Alter von 102, anhielt. Er
war sicher, daß seine Ablehnung nichts mit seiner akademischen
Qualifikation zu tun hatte, sondern alles mit seiner ultra-nationalistischen
Einstellung. Sein extremer Zionismus hielt ihn nicht davon ab, Palästina zu
verlassen und sein akademisches Glück in den Vereinigten Staaten zu suchen, wo
eine zweitklassige Universität ihm eine Professur gab. Sein Lebenswerk als
Historiker betraf das Schicksal der Juden im mittelalterlichen christlichen
Spanien, die Vertreibung und die Inquisition. Das erzeugte in ihm ein sehr
düsteres Weltbild: die Überzeugung, daß die Juden immer verfolgt werden, daß alle Goyim (Nicht-Juden) die Juden hassen und das Autodafé der
spanischen Inquisition mit dem Nazi-Holocaust durch eine Gerade verbunden ist.
Während der Jahre pendelte die Netanyahu-Familie zwischen der USA und
Israel hin und her. Binyamin wuchs in Amerika auf, lernte perfektes
amerikanisches Englisch, was für seine zukünftige Karriere wesentlich war,
studierte und wurde Kaufmann. Sein offensichtliches Talent für diesen Beruf zog
einen Likud-Außenminister an, der ihn als israelischen Sprecher in die UNO
sandte. Benzion Netanyahu war nicht nur eine verbitterte Person, die das
zionistische und israelische akademische Establishment beschuldigte, versagt zu
haben, indem sie sein akademisches Format nicht anerkannten. Er war auch ein
sehr autokratischer Familienmensch. Die drei Netanyahu-Jungen lebten in
ständiger Furcht vor dem Vater. Sie durften zu Hause keinen Lärm machen,
während der große Mann in seinem verschlossenen Arbeitszimmer arbeitete. Sie
durften keine anderen Jungen mit nach Hause bringen. Ihre Mutter war ihrem Mann
völlig treu ergeben und bediente ihn in jeder Weise, indem sie ihre eigene
Persönlichkeit opferte. In jeder Familie ist das zweite von drei Kindern in
einer schwierigen Position. Es wird nicht bewundert, so wie das älteste, noch
verhätschelt, wie das jüngste. Für Binyamin war das besonders hart, wegen der
Stellung seines älteren Bruders. Yonatan Netanyahu (beide Namen bedeuten: ›Gott hat gegeben‹) scheint
ein besonders begnadeter Junge gewesen zu sein. Er sah gut aus, war begabt und
sehr beliebt, wurde sogar bewundert. In der Armee wurde er Kommandeur der hochangesehenen
Sayeret Matkal (Generalstabs-Kommandoeinheit)
- der Elite der Armee-Elite. Als solcher war er der Kommandeur vor Ort
bei dem gewagten Entebbe-Kommando-Einsatz im Jahre 1976 in Uganda, der die
gefangenen Passagiere eines Flugzeugs, das von Palästinensern und deutschen
Guerillas auf dem Weg nach Israel entführt worden war, befreite. Yonatan wurde
dabei getötet und zum Nationalhelden. Er wurde von seinem Vater, der die
Qualitäten seines zweiten Sohnes nie wirklich akzeptiert hat, verehrt.
Zwischen seinem Vater, dem verbitterten Denker, und seinem älteren
Bruder, dem legendären Held, wuchs Binyamin als ruhiger, aber sehr ehrgeiziger
Junge, teils Israeli, teils Amerikaner, auf. Er arbeitete einige Zeit als
Möbelverkäufer, bis er von dem extrem rechten Likud-Außenminister, Moshe Arens,
entdeckt wurde. Zwischen seinem obsessiven Bedürfnis, von seinem Vater
anerkannt und als seinem glorreichen Bruder gleichwertig angesehen zu werden,
wurde Netanyahus eigener Charakter geschmiedet. Sein Vater schätzte ihn nie.
Einmal sagte er, er gäbe einen guten Außenminister, aber keinen
Premierminister, ab. Als Sohn seines Vaters hetzte Netanyahu nach dem Oslo-Abkommen
die Menschen gegen Yitzhak Rabin auf und wurde auf dem Balkon des Sprechers bei
der Demonstration fotografiert, wo ein symbolischer Sarg mit Rabin
herumgetragen wurde. Als Rabin bald darauf ermordet wurde, bestritt er jegliche
Verantwortung. Rabins Nachfolger, Shimon Peres, versagte kläglich, und
Netanyahu wurde Premierminister. Das war eine totale Katastrophe. Am Abend der
Wahlen des Jahres 1998, als deutlich wurde, daß Netanyahu
verloren hatte, strömten Menschenmassen in einer spontanen Demonstration der
Freude, wie die bei der Befreiung von Paris, zu Tel Avivs zentralem Platz, der
jetzt nach Rabin benannt ist.
Sein Nachfolger aus der Arbeiterpartei, Ehud Barak, hatte kaum mehr
Glück. Als ehemaliger Stabschef, von vielen bewundert, vor allem von sich
selbst, zwang er Präsident Bill Clinton, eine israelisch-palästinensische
Friedenskonferenz in Camp David einzuberufen. Barak, der palästinensische
Standpunkte völlig ignorierte, kam, um seine Konditionen zu diktieren und war
schockiert, als sie diese zurückwiesen. Nach Hause zurückgekehrt, erklärte er,
die Palästinenser wollten uns ins Meer werfen. Als die Öffentlichkeit das
hörte, servierte sie ihn ab und wählte den taffen, extrem rechten General Ariel
Sharon, den Gründer des Likud. Netanyahu wurde 2003 Finanzminister.
Als solcher war er ziemlich erfolgreich. Indem er die neo-liberalen,
ultra-kapitalistischen Lehren, die er in den USA absorbiert hatte,
praktizierte, machte er die Armen ärmer und die Reichen reicher. Die Armen
schienen es zu mögen.
Sharon war der Vater der Siedlungen in der Westbank. Um
diese zu stärken, beschloss er, den Gaza-Streifen mit den wenigen
Siedlungen, die ein unverhältnismäßiger Klotz am Bein für die Armee waren, aufzugeben.
Aber sein unilateraler Rückzug aus dem Gaza-Streifen schockierte das rechte
Lager. Der ältere Netanyahu nannte diesen Schritt ein ›Verbrechen gegen die Menschheit‹. Unduldsam
Widerspruch gegenüber, spaltete Sharon den Likud und gründete seine eigene
Kadima (›Vorwärts‹) - Partei.
Erneut wurde Netanyahu Vorsitzender des Likud. Wie üblich, hatte er Glück.
Sharon erlitt einen Schlaganfall und fiel ins Koma, wovon er sich nicht mehr
erholte. Sein Nachfolger, Ehud Olmert, wurde der Korruption angeklagt und mußte
zurücktreten. Die nächste in der Reihe, Tzipi Livni, war inkompetent und
unfähig, eine Regierung zu bilden, obwohl alle Ingredienzien vorhanden waren. Netanyahu,
der Mann, dem die jubelnden Massen nur ein paar Jahre zuvor den Laufpaß gegeben
hatten, kehrte als Imperator zurück. Wieder jubelten die Massen. Shakespeare
hätte es geliebt. Seitdem wurde Netanyahu immer wieder gewählt und seither war
es ein klarer persönlicher Sieg; er besiegte all seine Konkurrenten der
Rechten.
Also, wer ist dieser Netanyahu? Im Gegensatz zur
populären Meinung ist er ein Mensch mit sehr starken Glaubensvorstellungen, den
Glaubensvorstellungen seines extrem rechten Vaters. Die ganze Welt trachtet
danach, uns zu töten; jederzeit. Wir brauchen einen mächtigen Staat, um uns
selbst zu verteidigen. Das gesamte Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan
wurde uns von Gott gegeben (ob er existiert oder nicht).
Alle seine anderen Aussagen sind Lügen, Ausreden,
Taktiken. Als Netanyahu in einer berühmten Rede an der Bar-Ilan-Universität bei
Tel Aviv den Grundsatz der ›Zwei-Staaten-Lösung‹ akzeptierte, konnten diejenigen, die ihn kannten, nur
schmunzeln. Es war so, als hätte er das Essen von Schweinefleisch am Jom Kippur
empfohlen. Er ließ diese Aussage vor den Augen der naiven Amerikaner baumeln
und seine Justizministerin, Tzipi Livni, endlose Verhandlungen mit den
Palästinensern führen, die er verachtet. Wenn immer es so aussah, als ob die
Verhandlungen sich einem Ziel näherten, legte er schnell eine andere Kondition
fest, wie zum Beispiel die lächerliche Forderung, daß die
Palästinenser Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes anerkennen. Er dachte
selbstverständlich nicht im Traum daran, die palästinensischen Gebiete als
Nationalstaat des palästinensischen Volkes
- ein Volk, dessen Existenz er gänzlich leugnet - anzuerkennen. Gerade erst kürzlich, am Abend
der letzten Wahl, verkündete Netanyahu, daß es keinen palästinensischen Staat
geben werde, solange er an der Macht sei. Als die
Amerikaner protestierten, verleugnete er sich selbst. Warum nicht? Wie sein
Likud-Vorgänger, Yitzhak Shamir, bekanntermaßen sagte: »Für das
Vaterland zu lügen, ist erlaubt.« Netanyahu wird lügen, betrügen, sich selbst verleugnen, unter
falscher Flagge agieren, all das, um das eine, sein einzig wahres Ziel zu erreichen,
den Fels unserer Existenz (wie er es zu sagen beliebt), das Erbe seines Vaters
– einen
jüdischen Staat vom Meer bis zum Fluß.
Der Ärger
ist, daß die Araber in diesem Gebiet bereits eine kleine Mehrheit ausmachen,
aber eine, die ständig wächst. Ein jüdischer und demokratischer Staat im ganzen
Land ist unmöglich. Der populäre Witz sagt, dies sei sogar zu viel für Gott.
Also ordnet er an, daß wir zwei von drei Attributen wählen müssen: einen
jüdischen und demokratischen Staat in einem Teil des Landes, einen jüdischen
Staat im ganzen Land, der nicht demokratisch ist, oder einen demokratischen
Staat im ganzen Land, der nicht jüdisch ist.
Netanyahus
Lösung für dieses Problem ist, es zu ignorieren, einfach weiterzumachen, Siedlungen
auszudehnen und sich auf das unmittelbare Problem zu konzentrieren: Seine
vierte Regierung zu errichten und seine fünfte, in vier Jahren von heute an, zu
planen.
Und
natürlich auch, um seinem Vater, der aus dem Himmel auf ihn herabsieht, zu
zeigen, daß der kleine Bibi, sein zweiter Sohn, letztlich doch seiner wert ist.
Uri Avnery, Gründer der israelischen Friedensbewegung »Gush Schalom« www.gush-shalom.orgß und Aachener
Friedenspreisträgers, vertritt seit 1948 die Idee eines
israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: Israel
und Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Für sein Engagement
erhielt der 1923 geborene Avnery viele Auszeichnungen; 2002 wurde er für seine
friedensstiftenden Aktivitäten im Nahen Osten mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis
für Zeitgeschichte und Politik der Stadt Oldenburg geehrt.
Siehe hierzu auch
http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2045 10. 12. 12
Netanjahu in Berlin
http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1215 9. 5. 2009
Netanjahus
»Plan« für Israel als »Staat des jüdischen Volkes« - Von Uri Avnery
http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=963 21. 6. 2008
Nein, ich
kann nicht! Von Uri Avnery
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