Offenes Schreiben zum Fall Hanau 09.03.2020 15:32
Der nachfolgende Brief wurde von Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins
am
Freitag, den 21. Februar 2020, an den Generalbundesanwalt Dr. Peter Frank gesandt.
[1]
Prof.
Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie und apl.
Professor für Psychiatrie; in den letzten Jahren war er überwiegend als
gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich tätig.
Offener
Brief an den Generalbundesanwalt Dr. Peter Frank zum Attentat von Hanau
Sehr
geehrter Herr Generalbundesanwalt, sehr geehrter Herr Dr. Frank,
neben den medialen und politischen Reaktionen auf das Attentat von Hanau waren
es leider vor allem auch Ihre Einlassungen, die mich als Bürger, aber auch als
psychiatrischer Praktiker und Wissenschaftler in tiefe Sorge versetzt haben.
Ich
sehe nämlich die Gefahr, dass eine bedeutsame zivilisatorische Errungenschaft
großen Schaden nehmen könnte: Der § 20 StGB, der bekanntlich die Frage der
Schuldunfähigkeit definiert. Erlauben Sie mir, auch wenn Ihnen der Inhalt
natürlich geläufig ist, diesen Paragraphen kurz zu zitieren: »Ohne Schuld handelt,
wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, (…)
unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu
handeln«. Dazu erlauben Sie
mir bitte einige Fragen.
1.
In ihrer Stellungnahme vom 20. 02. 2020
zu den Vorfällen in Hanau heißt es u.a.: »Es
liegen gravierende Indizien für einen rassistischen Hintergrund der Tat vor«. Finden Sie nicht auch, dass sich aus dem
vom Täter verfaßten umfangreichen Manifest vielmehr ganz vorrangig
Indizien für eine (schwere) krankhafte seelische Störung ergeben?
2.
Haben Sie bzw. Ihre Behörde vor der oben
zitierten Stellungnahme bei der Analyse des Manifests fachpsychiatrische
Kompetenz hinzugezogen?
3.
Nach meiner fachpsychiatrischen Analyse des Täter-Manifests, die zweifellos - um es zurückhaltend zu formulieren - in den wesentlichen Zügen und Schlußfolgerungen
von der großen Mehrheit des Faches geteilt werden würde, hat beim Täter ein
psychiatrisches Syndrom aus einem schweren paranoiden Wahn mit zusätzlichen
(wahnhaften) Größenideen, zumindest zeitweiligen akustischen Halluzinationen,
sogenannten Ich-Störungen in Gestalt von Gedankenausbreitung, Gedankenentzug
und Gedankeneingebung vorgelegen, sowie eine Denkstörung in Form einer
Denkzerfahrenheit. Sehen Sie oder ihre Behörde das ähnlich? Und falls
nicht, warum nicht?
4.
Gehen Sie oder ihre Behörde ebenfalls
davon aus, dass der Täter zur Tatzeit mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an
einer paranoiden Schizophrenie erkrankt war?
5.
Gehen Sie ebenfalls davon aus, dass,
wäre der Täter noch am Leben, das Gericht deswegen mit sehr hoher
Wahrscheinlichkeit auf Schuldunfähigkeit wegen einer schweren krankhaften
seelischen Störung entscheiden würde?
6.
Jetzt kommt eine ganz wichtige Frage: Ist
Ihnen bekannt, dass aus einem Schriftstück, welches in einem psychischen
Zustand wie oben geschildert verfaßt wurde,
das also durchgehend (u.a.) wahnhaft geprägt ist, so gut wie keinerlei
Rückschlüsse auf die ›eigentliche‹, also nicht krankheitsbelastete oder krankheitsgeprägte Persönlichkeit, auf
politische Einstellungen und Motive möglich sind? Um es noch einmal zu betonen:
Weil in diesem Manifest auch potentiell rassistische Äußerungen - bis zum Beweis des Gegenteils (siehe Punkt
6) - entscheidend oder gar
ausschließlich durch das wahnhafte Erleben bestimmt sind.
6.
Vielleicht wies der Täter in gesunden
Tagen tatsächlich eine fremdenfeindliche oder rassistische Gesinnung auf. Aber
ist Ihnen bekannt, dass man valide Informationen über die ›prämorbide‹ Persönlichkeit
des Täters, seine politischen Einstellungen und Motive, allenfalls retrospektiv
gewinnen kann durch eine umfassende biographische Ermittlung, also vor allem
durch die Vernehmung von Zeugen, ergänzt durch die Analyse von Zeugnissen,
medizinischen Behandlungsunterlagen etc.
7.
Würden Sie auch die folgende Täterin als
rassistisch oder fremdenfeindlich motiviert einschätzen? Eine 35-jährige Mutter
von drei noch nicht schulpflichtigen Kindern erkrankt nach der Geburt des
dritten Kindes an einer paranoiden Schizophrenie. Sie entwickelt dabei den
Wahn, dass Muslime aus einer in der Nähe gelegenen Moschee ihre über alles
geliebten Kinder entführen, foltern und bei lebendigem Leibe verbrennen wollen.
Um ihnen das zu ersparen, erstickt sie alle drei Kinder. Falls Sie diese
Täterin grundlegend anders beurteilen als den Hanau-Täter, warum?
8.
Wie ›t-online.de‹ am 21. 02. 2020 meldete, lag ihrer
Behörde bereits im November 2019 eine offenbar nur leicht gekürzte Version des
späteren Täter-Manifests vor. Warum hat ihre Behörde damals nicht den
zuständigen Sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamts informiert, etwa
mit der Bitte, zu prüfen, ob der Verfasser bereits aktenkundig ist, und ob der
Dienst die Notwendigkeit für eine Einbestellung oder einen (angemeldeten) Hausbesuch
sieht? Und, ob die Person vielleicht gar einen Waffenschein besitzt.
9.
Aus Presseverlautbarungen geht hervor,
dass bei der etwas kürzeren Version des Täter-Manifests, welches Ihrer Behörde
bereits im vergangenen November vorlag, der auf eine vermeintlich rassistische
Motivation weisende Teil angeblich nicht enthalten war. Deshalb sei ihre
Behörde damals nicht tätig geworden. Damit
nicht der Eindruck entsteht, es handle sich hier vorrangig um eine
Schutzbehauptung, wäre es hilfreich, zu erfahren, welcher Teil des Manifests
Ihnen damals genau vorgelegen hat.
Abschließend,
sehr geehrter Herr Dr. Frank, erlauben Sie mir die Anmerkung, dass sicherlich
auch Ihnen ja nicht entgangen sein dürfte, wie schwer es Medien und Politik
derzeit fällt, bei einer solchen Tat wie der in Hanau dem
Schuldunfähigkeitsprinzip bzw. dem Schutz der darunter fallenden psychisch
kranken Täter angemessen Rechnung zu tragen. Ich jedenfalls würde mich freuen,
wenn Sie künftig auch dieses Prinzip etwas offensiver vertreten und verteidigen
würden.
Mit
freundlichen Grüßen Prof.
Dr. med. Dipl.-Psych. W. Meins
Prof.
Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie
und Neurologie und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren war
er überwiegend als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und
zivilrechtlichen Bereich tätig.
[1] poststelle@generalbundesanwalt.de
Siehe auch https://www.generalbundesanwalt.de/DE/Home/home_node.html;jsessionid=8770708FD6C27A7C916A9B5BF9CD1A3F.intranet262
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