Zehntausende Palästinenser von Ausweisung bedroht

Die Ärzteorganisation IPPNW, die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs / Ärzte in sozialer Verantwortung,

hat in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel appelliert, sich bei der israelischen Regierung für die Rücknahme der Änderungen zweier israelischer  Militärverordnungen einzusetzen, die am 13. April 2010 in Kraft getreten sind 1:  
 
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
am 13. April 2010 sind die Änderungen zweier israelischer Militärverordnungen in Kraft getreten. Die geänderten Verordnungen Prevention of Infiltration und Security Provisions definieren u.a. den Begriff Infiltrant neu. Infiltrant erfaßt jetzt jede Person, die sich in der Westbank aufhält und keine Erlaubnis besitzt. Zugleich geben die Militärverordnungen nicht an, was diese Erlaubnisist. Damit werden unter die neue Regelung alle jene Palästinenser und Palästinenserinnen fallen, die keine israelische Erlaubnis besitzen, weil sie auch vorher nicht im Besitz einer solchen waren, zum Teil aber schon jahrelang dort leben.
 
Die friedenspolitische Ärzteorganisation IPPNW befürchtet, daß es im Westjordanland auf Grund der Neuregelungen zu weiteren zahlreichen Verhaftungen und Ausweisungen von Palästinensern und Palästinenserinnen durch die israelische Armee kommen wird. Die Neuregelungen betreffen z.B. auch Ausländer, die legal ins Westjordanland gekommen sind und dort geheiratet haben. Weiterhin berührt es Palästinenser, die für ein Studium ins Ausland gegangen sind und denen Israel in der Folge die Aufenthaltserlaubnis entzogen hat. Oder es tangiert diejenigen, die in den 1970er und 1980er Jahren ausgewiesen wurden und später im Zuge der Familienzusammenführung legal zurück gekommen sind.
 
Von den neuen Regelungen könnten nach Angaben von Elad Cahana, Anwalt einer israelisch-palästinensischen Menschenrechtsorganisation, Zehntausende Palästinenser betroffen sein. Die IPPNW appelliert an Sie, Frau Merkel, sich gegenüber der israelischen Regierung für die Rücknahme der Verordnungen einzusetzen. Laut internationalem Recht sind israelische Gesetze im Westjordanland nicht anzuwenden, da es sich um besetztes Gebiet handelt. Als engstem Verbündeten Israels fällt Deutschland die besondere Verantwortung zu, die
israelische Regierung auf mögliche Völkerrechtsverletzungen hinzuweisen und vor  Handlungen zu bewahren, die den Friedensprozeß im Nahen Osten gefährden könnten. Wir bitten darum, uns mitzuteilen, was Sie in dieser Angelegenheit unternehmen werden. 

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Angelika Claußen, für den Vorstand der IPPNW
 
 
Eine neue »Militäranordnung« Israels stranguliert das Westjordanland noch stärker als bisher
Die nachfolgenden Feststellungen traf der amerikanisch-israelischer Friedensaktivist und emeritierter Professor für Anthropologie Jeff Halper anläßlich eines mit Clara Morgan von der jungen Welt 2 geführten Interviews:
 
Am 13. 4. 20 soll in dem von Israel besetzten palästinensischen Westjordanland eine »Militäranordnung zum Schutz gegen Eindringlinge« in Kraft treten. Da die 4. Genfer Konvention Besatzungsmächten verbietet, die eigene Rechtsprechung einem besetzten Gebiet aufzuzwingen, regiert Israel im Westjordanland mit Hunderten von militärischen Anordnungen, um vor der Weltöffentlichkeit den Anschein zu wahren, es halte diese Konvention ein. Für Palästinenser wird alles enorm kompliziert: Zum einen erkennt Israel den Status sehr vieler Bewohner dieser Region gar nicht erst als legal an. Das betrifft besonders diejenigen, die aus dem Gazastreifen ins Westjordanland gekommen sind, aber auch ausländische oder im Ausland geborene Ehepartner. Darüber hinaus hat Israel damit begonnen, Ausländern zwar die Einreise nach Israel, nicht aber ins Westjordanland zu genehmigen. Für ausländische Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen (NGO) oder Friedensaktivisten heißt das, daß sie erst gar nicht über die Grenze nach Palästina gelassen werden. Israel hat das Westjordanland in A-, B- und C-Gebiete eingeteilt. Die erwähnte Anordnung bezieht sich in erster Linie auf das C-Gebiet, das an arabische Nachbarländer grenzt und militärische Sperrzone ist. Es können aber auch Personen festgenommen und deportiert werden, die zwischen dem A- und dem B-Gebiet hin- und herfahren. Der Text der Anordnung ist so vage gehalten, daß er sogar auf Israelis angewendet werden kann; besonders dann, wenn sie sich in Gebieten aufhalten, die wie Bil’in zu militärischen Sperrzonen erklärt wurden; ferner ist der Anordnungstext so gummiartig formuliert, daß das Westjordanland völlig von der Außenwelt abgeriegelt werden kann und dessen Bewohner massenweise ausgewiesen werden können.
 
Auf die Frage von Morgan, warum Israel seine Regelung von 1969 gerade jetzt geändert hat, meinte Prof. Halper: »Ich glaube, die Regierung will einfach nur Ruhe haben, die Proteste sollen erstickt werden.« Was politische oder juristische Möglichkeiten, gegen diese Anordnung vorzugehen, betrifft, so sind militärische Anordnungen laut Halper vor israelischen Gerichten weitgehend immun, zumal sich letztere ohnehin wegducken, sobald es um Sicherheit geht. Aber Einwände aus dem Ausland, besonders von Regierungen, könnten schon etwas bewirken. Besonders wichtig sind Proteste der Zivilgesellschaft und daß sich viele Leute dagegen aussprechen.
 
 
 
1 http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/briefmerkel_150410.pdf
http://www.ippnw.de/startseite/artikel/8cb6ee6301/zehntausende-palaestinenser-von-ausw.html   15. 4. 10 Der Brief ging in Kopie an den deutschen Minister des Auswärtigen Amtes Guido Westerwelle. Die IPPNW  wurde 1984 mit dem UNESCO-Friedenspreis und 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
2 Quelle: http://www.jungewelt.de/2010/04-16/050.php
»Friedensaktivisten kommen nicht über die Grenze« - Eine neue »Militäranordnung« Israels stranguliert das Westjordanland noch stärker als bisher. Ein Gespräch mit Jeff Halper
Interview: Clara Morgan