Offenes Schreiben an Michael Stürmer zum Thema Wikileaks

Betr. Ihr Beitrag »WWW.Verrat« in der Ausgabe der Welt vom 29. 11. 10

Sehr geehrter Herr Stürmer,
 
es ist einem reinen Zufall zu verdanken, dass ich Ihren Kommentar zu Wikileaks gelesen habe. Die von Ihnen eingangs erwähnten zynische Allmachtsphantasien kann ich leider bei Julian Assange nicht feststellen, hingegen glaube ich solche durchaus in Washington, bei der NATO, der Militarisierung der EU, den in Erwägung gezogenen Wirtschaftskriegen und ganz allgemein in Brüssel im Zuge der angestrebten Entsouveränisierung der EU-Staaten resp. der Supranationalisierung Europas feststellen zu können. Allmachtsphantasien haben für meine Begriffe all diejenigen in der USA, der EU und im Nahen Osten, die nicht müde werden, die Kriegshetze gegen den Iran voranzutreiben. Und wenn dort, wie Sie vermerken, »jeden Tag wieder ein Krieg ausbrechen kann«, dann, denke ich, ist er gewollt - ohne dass irgendwelche Lecks auch nur den geringsten Einfluss darauf haben.
 
Sie sehen offenbar die Inhaftierung von Bradley Manning, der, soviel könnte man annehmen, die Rolle des Whistleblowers übernommen hat, als tröstlich; ich sehe das anders und mit mir sicherlich die Mehrzahl der Bürger, die sich in die Hintergrundpolitik zum Ersten und Zweiten Weltkrieg - insbesondere was die Rolle des so gern verbrämten Winston Churchills angeht - eingelesen haben. Es ist ein Glück, dass Daniel Ellsberg, der Licht in die planmässige Eskalation des Vietnamkriegs durch die USA brachte und den Watergate-Skandal aufdeckte, seinerzeit nicht »eingebuchtet« wurde. Ihre Befürchtung, dass eine Welle der Schadenfreude durch die Politik geistern könnte, sehe ich mit Gelassenheit; ich fände es durchaus gerechtfertigt, wenn gerade Hillary Clinton, wie Sie schreiben, »um Nachsicht bitten müsste«, denn ihr verdanken wir keine kleine Litanei von Drohungen, die aus meiner Sicht in der Presse völlig ungenügend gegeisselt werden. Bei Clintons erstem Besuch bei der NATO in Brüssel im März 2009, der von der Presse  - ich würde sagen, höchst einfältigerweise - auch noch als Charme-Offensive bezeichnet wurde, sprach sie Russland das Recht ab, Einflusssphären über seine Aussengrenzen hinaus zu beanspruchen. Sie erhöhte kurz vor dem NATO-Gipfel in Baden-Baden und Strassburg im April 2009 auf einer internationalen Afghanistan-Konferenz in Den Haag den Druck auf die Verbündeten in Europa und warb für die Ausweitung des Afghanistankriegs. Was den Iran betrifft, so warnte sie diesen im Juni 2009 - unter Anführung des Einmarschs in den Irak als Beispiel - dass er eine Invasion der USA riskiere oder die eines anderen Feinds, der dies täte, sollte das Land sein ziviles Atomprogramm nicht aufgeben. Beim Antrittsbesuch ihres damaligen Amtskollegen  Steinmeier Anfang Februar 2009 drohte sie dem Iran mit Konsequenzen, sollte das Land atomar aufrüsten. Auch am 21. 4. 09 hatte sie dem Iran gedroht und diesen vor einem atomaren Angriff auf Israel gewarnt. »In diesem Fall könnten die Vereinigten Staaten den Iran auslöschen«, sagte sie am 22. 4. 08 im US-Fernsehen. Clinton hatte in einer Debatte »massive Vergeltung« gegen den Iran angekündigt, sollte Teheran Israel angreifen, wobei nichts auf letzteres hindeutet.
  
Was ist im übrigen Wikileaks anderes als die übliche Spionage, die seit und je kontinentübergreifend im geheimen betrieben wird? Wikileaks als die nationale Sicherheit gefährdend zu betrachten, halte ich für recht übertrieben, da viel zuviel des Inhalts der veröffentlichten Dokumente längst bekannt ist. Und die von abfälligen Bemerkungen Betroffenen werden sich genau in derselben Weise darüber hinwegzusetzen wissen, wie sie sich seit langem über uns, den Bürger, in vielen Bereichen hinwegzusetzen pflegen.
 
Sie bezeichnen die amerikanische Führungsrolle im Nahen Osten als unentbehrlich, da die USA noch immer die einzige Macht sei, die alle Ungleichgewichte der Region im Lot halten kann – aber mit abnehmender Kraft. Letzteres empfinde nun ich meinerseits als absolut tröstlich, da ich diese Führung ganz im Gegenteil als einen anhaltend schweren Eingriff werte, der verhindert, dass oppositionelle Kräfte, sei es in Ägypten, in Jordanien, in Saudi-Arabien oder in Teilen der VAE, der Mittelmeeranrainer Algerien eingeschlossen, zum Tragen kommen können. Oder möchten Sie etwa gar die unsäglichen Tonnen an Rüstung, mit der die betreffenden Länder bedacht werden, als friedensstabilisierend sehen?  
 
»Hinter dem summarischen Geheimnisverrat via World Wide Web«, lese ich in Ihrem Abriss, »steht eitle zynische und potentiell tödliche Brandstiftung. Nichts kann eine solche Aktion rechtfertigen.« Dem setze ich entgegen, dass uns vielleicht ein gnadenloses Inferno erspart geblieben wäre, hätte es eine Quelle wie Wikileaks bereits gegeben, als die Lügen von Blair und Bush - auch für Paul Wolfowitz waren die Massenvernichtungswaffen lediglich ein Vorwand – den Irakkrieg in Gang setzten, wobei dieser ganz klar die Inkarnation einer, wie Sie sagen, tödlichen Brandstiftung ist. Darüber hinaus stellt die Gleichmütigkeit, mit der die Verwandlung des Iraks in einen Müllhaufen, um mit Hans von Sponeck zu sprechen, und die Zermalmung Afghanistans von zahlreichen Regierenden aufgenommen wird, in meinen Augen ein regelrechtes Verbrechen dar.  
  
Wichtige Beschlüsse, die über das Wohl und Wehe der Nationen entscheiden, werden uns trotz der bis zur Ermüdung zitierten Demokratie vielfach noch immer vorenthalten. Hierzu zähle ich beispielsweise die vornehmlich im Hintergrund über die Bühne gehenden Aktivitäten der steuerbefreiten Stiftungen, die geheim gehaltenen Bilderberger-Treffen – deren Teilnehmerliste wenigstens seit längerem einsehbar sind - oder womöglich von Seiten der Trilateralen Kommission an Brüssel ergehende Weisungen. Insofern besteht die für mich einzig richtige Antwort auf ihre ausufernde Anklage in den Worten von Werner Rügemer: Geheimnisverrat ist Bürgerpflicht!  
 
                                                           Mit freundlichen Grüssen
                                                                  Doris Auerbach