Annulliert der Bundesrat nachträglich die Ausschaffungsinitiative? - Von Nationalrat Ulrich Schlüer

Funktionärsarroganz bedroht die Demokratie - Hat irgend jemand im Vorfeld der Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit

in dem vom Bundesrat abgegebenen Abstimmungsbüchlein auch nur eine Silbe davon gelesen, dass die EU-Personenfreizügigkeit ausdrücklich auch Geltung für alle Einbrecher, Diebe, Sozialwerkbetrüger, Räuber, etc., hat? War irgendwo in diesem bundesrätlichen Abstimmungsbüchlein zu lesen, dass mit der Personenfreizügigkeit auch alle Verbrecher Europas frei über alle Grenzen zirkulieren können? Und dass ihnen ein freies Wahlrecht zugestanden würde, wo sie ihre kriminelle Tätigkeit entfalten und wo sie, falls sie dabei erwischt würden, ihre Strafe am liebsten absitzen möchten?

 

Fragen über Fragen

Glaubt irgend jemand, die Personenfreizügigkeit hätte in der Schweizer Volksabstimmung auch nur den Hauch einer Chance gehabt, wenn die Funktionäre Berns offengelegt hätten, dass die Personenfreizügigkeit ausdrücklich auch für alle Verbrecher im EU-Raum Gültigkeit hat? Dass die Personenfreizügigkeit die Schweiz also auf eine Politik des generellen «Machet-auf-das-Tor» für alle Kriminellen in Europa verpflichtet hat?

 

Oder steht die Schweiz vor einem Tatbestand widerrechtlicher Volksüberlistung? Wussten Bundesberns juristische Funktionäre schon vor der Personenfreizügigkeits-Abstimmung ganz genau, dass diese Personenfreizügigkeit die Schweiz auch für alle Verbrecher Europas sperrangelweit öffnen würde? Empfanden Sie, die juristischen Funktionäre, es aber als vorteilhafter für die Vorlage, die Stimmbürger über solche Konsequenzen der Personenfreizügigkeit bewusst nicht aufzuklären - weil eine tatsachengerechte Aufklärung möglicherweise ein Nein an der Urne bewirken können hätte?

 

Im Vertrag vorgesehen?

Kann uns - weitere Frage - irgend jemand wenigstens die Stelle, den Artikel im Vertrag über die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU zeigen, aus der klar hervorginge, dass diese Personenfreizügigkeit ausdrücklich auch für alle Verbrecher in Europa Geltung haben soll? Oder gehört es zu den von Funktionären selbstherrlich in Anspruch genommenen Rechten, einem Vertrag - die Funktionäre belieben den Vorgang dann gewöhnlich als «Dynamisierung eines Vertrags» zu bezeichnen - nachträglich ohne mit der Wimper zu zucken neue Geltungsbereiche unterzujubeln, die anlässlich der Vertragsausarbeitung, der Vertragsunterzeichnung und der Vertragsgenehmigung nie auch bloss am Rande erwähnt worden sind?

 

Muss man heute selbst in einem Land wie der Schweiz, deren Verfassung dem Volk im Rahmen der «Volkssouveränität» ausdrücklich das letzte bindende Wort in allen wesentlichen Fragen zusichert, eine Funktionärskaste akzeptieren, die sich kaltlächelnd über das gesamte Verfassungsrecht hinwegsetzt, dies mit der Ausrede, dass «internationale Vereinbarungen», wie immer diese auch entstanden sind, eben «höhere Geltung» hätten als das, was da irgend welches «gemeine Volk» an der Urne je beschlossen haben könnte. Und dass sie, die Angehörigen der internationalen Funktionärskaste, eben das Privileg genössen, dem Volk gnädigst mitzuteilen, was es noch dürfe, wozu es noch etwas zu sagen habe und wozu eben nicht mehr.

 

Ausserhalb der Verfassung

Die Arbeitsgruppe des Professors Heinrich Koller, einst Chef des Bundesamtes für Justiz, geht offensichtlich von solch neuer «dynamisierter Rechtsauslegung» in der Demokratie aus: selbstherrlich und gelegentlich auch über alle vom Volk beschlossenen demokratischen Regeln hinweg. Bezüglich der Umsetzung der vom Volk an der Urne befürworteten Ausschaffungsinitiative empfiehlt diese Arbeitsgruppe als Grundlage für die nach der Volksabstimmung zu formulierenden Ausführungsgesetze genau jenen vom Ständerat geschaffenen und anschliessend sowohl vom Nationalrat als auch vom Bundesrat  übernommenen Gegenvorschlag, der vom Volk in demokratischer Abstimmung in sämtlichen Kantonen des Landes klar abgelehnt worden ist. Trotzdem will die Mehrheit der Kommission Koller diesen Gegenvorschlag umsetzen, womit rund 85 %  jener Kriminellen, die gemäss der in demokratischer Abstimmung angenommenen Volksinitiative unser Land nach verbüsster Strafe zu verlassen hätten, mit ausdrücklicher Genehmigung der Behörden schlicht und einfach hierbleiben dürfen.

  

Die Gültigkeit von Volksinitiativen

Zur Frage, ob eine Volksinitiative gültig ist oder nicht, existieren hierzulande klare, in der Bundesverfassung festgelegte Regeln: Verstösst eine Volksinitiative gegen die Einheit der Materie oder gegen sogenannt zwingendes Völkerrecht, dann wird sie von der Bundesversammlung, also von Ständerat und Nationalrat, für ungültig erklärt. Beide Räte haben die Gültigkeitsfrage bezüglich Ausschaffungsinitiative behandelt. Beide Räte erklärten die Initiative als gültig. Ein Rekursrecht gegen ihren Entscheid gibt es nicht, aber die Arbeitsgruppe Koller betrachtet sich als etwas Höheres als das Parlament und das Volk und setzt den abgelehnten Gegenvorschlag statt der angenommenen Volksinitiative um: Eine Ohrfeige für die direkte Demokratie!

 

Ahnungsloser Besserwisser

Professor Heinrich Koller pflegte - schon lange bevor er Präsident der erwähnten Arbeitsgruppe wurde - seine Abneigung gegen diese SVP- Ausschaffungsinitiative seit deren Lancierung im Juli 2007 deutlich zur Geltung zu bringen. So auch am Schalttag des Jahres 2008 in einem Vortrag am Europa-Institut zu Zürich mit dem Titel «Stellung des Völkerrechts im schweizerischen Rechtssystem». In diesem Vortrag schoss er scharf gegen verschiedene teils beschlossene, teils aber auch erst hängige Initiativen, insbesondere gegen die Verwahrungsinitiative, gegen die Minarettverbots-Initiative und gegen die Ausschaffungsinitiative. Letztere, erläuterte Professor Koller in jenem Vortrag, sei deshalb ungültig, weil sie die Forderung nach Familien-Ausweisung enthalte. Im Klartext: Wenn ein Minderjähriger eine Straftat begehe, welche die Ausweisung des Kriminellen aus der Schweiz gemäss dem in der Ausschaffungsinitiative enthaltenen Deliktekatalog zur Folge hat, dann verlange die Ausschaffungsinitiative die Ausweisung der ganzen Familie des minderjährigen Delinquenten, ausdrücklich also auch von Personen, die selber nicht straffällig geworden seien. Dies sei illegal und widerspreche dem Völkerrecht. Deshalb müsse die Ausschaffungsinitiative zwingend für ungültig erklärt werden. So dozierte Koller am 29. Februar 2008.

 

Das Auditorium schien dem Vortragenden zu glauben - bis diesem in der Diskussion die Aufforderung übermittelt wurde, er möge den Passus, der die Familien-Ausweisung vorsehe, aus dem Text der Ausschaffungsinitiative doch bitte einmal vorlesen. Das gelang deshalb nicht, weil eine entsprechende Forderung in dieser Initiative schlicht nicht enthalten war. Sie existierte lediglich in Professor Kollers Phantasie, weshalb er sich sagen lassen musste, dass es selbst für einen juristischen Experten wie ihn doch eher ratsam sei, eine Initiative, bevor er im Politeifer verlange, diese ungültig zu machen, vielleicht doch zuerst einmal in ihrem ganzen Wortlaut zu lesen.....

 

Was Professor Koller mit seiner Behauptung der in der Ausschaffungsinitiative angeblich enthaltenen Forderung auf Familienausweisung vortrug, war nichts anderes als Besserwisserei eines Ahnungslosen. Denn zutreffend ist, dass die angebliche  Familienausweisung in einzelnen Medien zwar als haltlose Unterstellung erschien, nach Intervention der Initianten aber rasch wieder verschwunden ist. Wer diese Unterstellung erfunden hat, ist heute nicht mehr zu eruieren. Sicher aber ist, dass in der Initiative kein Wort von Familienausweisung steht, was dem hochwohllöblichen Herrn Professor, bevor er in besagtem Vortrag darauf aufmerksam gemacht wurde, offensichtlich entgangen war. Trotzdem wurde Heinrich Koller als kompetent genug eingeschätzt, einer Arbeitsgruppe vorzustehen, welche über die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative dem Bundesrat eigentlich Ernstzunehmendes zu übermitteln hätte.

 

Quelle: Der aktuelle Freitags-Kommentar der Schweizerzeit vom 1. 7. 2011

http://www.schweizerzeit.ch/cms/index.php?page=/News/Funktionaersarroganz_bedroht_Demok-224