Tagungen hinter verschlossenen Türen 14.10.2012 23:37
Wie die Autoren Christophe Deloire und Christophe Dubois darlegen, pflegt der Europarat zwar hinter verschlossenen Türen zu tagen, dennoch bleibt nicht alles geheim.
Seit Mai
1995 finden die Tagungen der Staats- und Regierungschefs der EU im imposanten
Justus-Lipsius-Gebäude, das nach dem Brüsseler Philologen und Humanisten des
15. Jahrhunderts benannt ist. Hier, gegenüber dem historischen Sitz der
Europäischen Kommission, tagt neben dem Europäischen Rat auch der ›Rat der Europäischen Union‹. Vor jeder Sitzung des Europäischen Rats
betreten die Staats- und Regierungschefs das Gebäude über einen Haltebereich
auf der Rückseite. Er soll die An- und Abfahrt der Staatskarossen
beschleunigen, wirkt aber eher wie eine Geheimpforte. Im Versammlungssaal ›50.1‹ werden die 27 Staatsoberhäupter vom Präsidenten des Rats, dem
früheren belgischen Ministerpräsidenten Herman Van Rompuy, empfangen. [1] Auch Kommissionspräsident José Manuel Barroso
nimmt an den Sitzungen teil. In den hinteren Reihen dürfen die ständigen
Vertreter der Länder, die ›Botschafter‹ in Brüssel, Platz nehmen. Die
Deckenkameras, die Sitzungen des ›Rat
der Europäischen Union‹ [besser
bekannt als Ministerrat] übertragen, bleiben bei den Gipfeltreffen der
mächtigsten Männer und Frauen der EU ausgeschaltet: Beschlüsse über die Zukunft
der Europäer werden also hinter verschlossenen Türen gefaßt. Das
sei ganz normal, finden die Verfechter der bestehenden institutionellen
Architektur Europas. Schließlich werden auch sonst Kabinettssitzungen nicht
live übertragen. Warum sollte es in Brüssel anders sein?
Es gibt
allerdings einen wichtigen Unterschied: Alle Teilnehmer einer
Kabinettssitzung, ob im Bundeskanzleramt in Berlin, im Pariser Élysée-Palast
oder sonstwo in Europa, sind den Bürgern, die unter ihren Entscheidungen leiden
oder von ihnen profitieren werden, gegenüber verantwortlich. Zumindest ein bißchen. In jedem Fall sind sie
durch die Zustimmung des nationalen Parlaments legitimiert. Im ›Rat der Europäischen Union‹ aber gibt es nichts dergleichen.
Niemand erfährt, ob ein Staatschef die Positionen vertreten hat, die er zu
vertreten behauptet, ob er sich durchgesetzt hat oder im Gegenwind eingeknickt
ist. Es ist unmöglich, Rechenschaft zu verlangen. Möchte man erfahren, was bei
diesen Sitzungen gesagt worden ist, bleiben nur die Statements auf den
abschließenden Pressekonferenzen. Jedes Staatsoberhaupt hat seine eigene.
Das Problem dabei ist: Die nationalen Medien haben weder die Mittel noch den
Willen, den Ablauf zu rekonstruieren, indem sie die verschiedenen
Verlautbarungen der Staats- und Regierungschefs vergleichen. Täten sie es,
würde die Relativität der Aussagekraft menschlicher Zeugnisse aufs eindrucksvollste
bestätigt, da sich jeder im besten Licht zeigen will. Eigenwerbung will keine
Transparenz. Man könnte auch die gemeinsamen Presseerklärungen sichten, aber
die enthalten nur die offiziellen Wahrheiten, die keine Wahrheiten sind. Spionagemikrofone
wären eine andere Möglichkeit. Solche wurden 2003 in den Dolmetscherkabinen der
Sitzungssäle des Rats entdeckt. Bei der Untersuchung der belgischen
Geheimdienste fiel Verdacht auf eine israelische Firma, was auf den Mossad
hindeutete. Der Fall wurde ohne Ergebnis und ohne politisches Aufsehen ad acta
gelegt.
Bleibt
also nur eine Quelle: die Antici-Notizen. Diese nach dem italienischen
Diplomaten Paolo Antici (1924 bis 2003) benannten Stichwortprotokolle enthalten
eine fast vollständige Wiedergabe der Gespräche bei den Gipfeltreffen. Ein Beamter
des Generalsekretariats des Rats, der sogenannte Debriefer, pendelt ständig
zwischen Saal ›50.1‹ und einem Nebenraum, wo er den
nationalen Diplomaten weitergibt, was gesagt wird, hin- und her. Die
Antici-Notizen werden allerdings nicht veröffentlicht. Uns liegen Auszüge aus
den Jahren 2010 und 2011 vor, in denen Angst der Staatschefs vor dem
Finanzdebakel und deren politischen Absichten erkennbar werden. Bei der Eröffnung der Sitzung des Europäischen Rats vom 16.
September 2010 freute sich Ratspräsident Van Rompuy noch über die ›überzeugenden Resultate‹ der ergriffenen Maßnahmen und die
Wiederherstellung des Wachstums. Zwei Jahre später nun erscheinen diese Worte
etwas voreilig. Die
Protokolle zeigen ebenfalls, daß einige Staatschefs in der Ungestörtheit der
Ratssitzungen auch über wenig demokratische Maßnahmen nachdachten. Am 14. Juni
2010 unterstützte der französische Präsident Nicolas Sarkozy die Idee von
Angela Merkel, eine neue Sanktion für Staaten festzulegen, die den vom
Europäischen Rat 1997 beschlossenen Stabilitäts- und Wachstumspakt
(Eurostabilitätspakt) nicht einhalten: Ihr Stimmrecht im Rat der Europäischen
Union solle ausgesetzt werden. Eine solche Bestrafung würde den ›säumigen‹ Staat unter eine Art Protektorat der anderen EU-Mitglieder stellen.
Bloß kein Theater vor
der Presse Bei der
Sitzung vom 28. Oktober 2010 eröffnete die Kanzlerin die Feindseligkeiten mit
Artikel 7 des EU-Vertrags: Er beinhalte die Möglichkeit, ›das Stimmrecht für Staaten bei schwerwiegenden Verstößen
auszusetzen.‹ Tatsächlich ermöglicht
Artikel 7 eine solche Sanktion, allerdings nur bei einer ›schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung‹ der Werte der Union, wie Respekt der Menschenwürde, Freiheit,
Demokratie und Gleichheit. Das hat also nichts mit finanziellen Entgleisungen
zu tun, aber dieser Unterschied berührte Angela Merkel nicht weiter: ›Wir haben Artikel 7 für den Fall der
Verletzung der Menschenrechte beschlossen, und wir müssen dieselbe
Entschlossenheit zeigen, wenn es um den Euro geht.‹ Der Position des ›Merkozy‹-Tandems widersprach der rumänische Präsident Traian
Basescu [»Diese
Situation ist nicht mit einer Verletzung der Menschenrechte zu vergleichen«],
gefolgt vom luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker und dessen
damaligem spanischen Amtskollegen José Luis Rodríguez Zapatero. Dagegen
verteidigte Sarkozy seine Mitstreiterin mit dem ihm eigenen Sinn für Nuancen:
»Die
Aussetzung des Stimmrechts steht im Vertrag, es ist also nicht völlig abwegig.« Das
kommt in etwa der Feststellung gleich, lebenslange Haft für einen Taschendieb
sei nicht völlig abwegig, da diese Strafe im Gesetzbuch steht. Schließlich
entpuppte sich sogar der Bulgare Bojko Borissow, ein früherer Leibwächter des
bulgarischen KP-Chefs Todor Schiwkow und heutiger Ministerpräsident seines
Landes, als Ausbund politischer Weisheit. Borissow, der zwischenzeitlich auch
die bulgarischen Karatemannschaft trainierte, gab zu bedenken: »Wir
müssen an einer Lösungen arbeiten, aber nicht an so demütigenden Lösungen wie
der Aussetzung des Stimmrechts.« Im Abschlußkommuniqué
ist diese Diskussion mit keinem Wort erwähnt.
Auf einer
Sitzung am 24. März 2011 sprachen die Staatschefs über die Einführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, der
die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität EFSF ablösen soll. Der ESM, der
über ein Stammkapital von 700 Milliarden Euro verfügen soll, war bereits fünf
Monate zuvor angekündigt worden, aber seine Einführung läßt auf sich warten.
[2] »Es ist wirklich wichtig, diese Elemente positiv zu
kommunizieren und keine Zweifel an unserer Entschlossenheit aufkommen zu lassen«,
forderte Van Rompuy. Die Mitgliedstaaten waren sich uneins über die Einzahlung
einer Summe von 80 Milliarden Euro. Der Präsident der Eurogruppe, Jean-Claude
Juncker, warnte: »Wir dürfen daraus kein großes Theater machen. Ich habe das
gegenüber der Presse als nebensächliches Problem dargestellt.« Etwa
zur gleichen Zeit gab Jean-Claude Trichet, damals Präsident der Europäischen
Zentralbank (EZB), zu: »Wir sind weit im Rückstand […] Ich sehe ein, daß wir es
positiv kommunizieren müssen, aber unter uns gesagt, seien wir ehrlich, wir
haben fünfzehn Monate gebraucht, um unsere Versprechen zu erfüllen.« Schade, daß
die Bürger Europas nicht in den Genuß dieser Offenheit kamen.
Anhand der
Antici-Notizen kann man auch bei anderen Themen das Ausmaß der faktischen Ohnmacht der
europäischen Entscheider erkennen. Am 29. Oktober 2010 offenbarte der
damalige italienische Regierungschef Silvio Berlusconi eine Sorge, die ihn wohl
doch etwas stärker beschäftigte als die Organisation seiner Bunga-Bunga-Abende.
Er
äußerte seine Befürchtungen über die Standortverlagerungen von Unternehmen:
»Die
Wirtschaftsbosse sagen, daß sie sich nicht in Europa niederlassen wollen, daß
sie nach Indien gehen, wo die Menschen Englisch sprechen und wenig verdienen,
daß die Bevölkerung Chinas jedes Jahr um 20,3 Millionen Menschen wächst,
während die berufstätige Bevölkerung in Frankreich und Großbritannien insgesamt
bei 23,3 Millionen liegt.« Tatsächlich sind es knapp 60 Millionen. An diesem Tag
wuchs Berlusconi etwas über die Karikatur hinaus, die er sonst in der
Öffentlichkeit abgab: »Die europäischen Unternehmen haben immer größere Mühe,
wettbewerbsfähig zu bleiben. Wir müssen etwas unternehmen, Lösungen suchen, uns
mit unseren Experten zusammensetzen und dieses Problem gründlich erörtern. Ein
Unternehmen sagt mir, es habe gegenwärtig 500 000 Beschäftigte in Europa und werde nur 150 000 davon behalten.« Obwohl
es sich um ein schwerwiegendes Problem handelte, wechselte Van Rompuy zunächst
das Thema. Werner Faymann, sozialdemokratischer Bundeskanzler von Österreich,
kam jedoch wieder darauf zurück und verlangte von der Kommission eine Liste von
möglichen Maßnahmen, die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Länder
wieder herstellen könnten. Barroso warnte daraufhin sogleich, die EU
dürfe »keine
protektionistischen Signale aussenden.« Darauf Sarkozy: »Wir
müssen unsere Naivität ablegen: Wir müssen klarer mit unseren Partnern
sprechen, und wenn unsere Partner die Notwendigkeit ausgeglichener
Handelsbeziehungen nicht einsehen, können auch Einfuhrzölle eine Lösung sein.« Gereizt
erinnerte Barroso daran, daß die Kommission gerade Antidumpingmaßnahmen gegen
China und Vietnam empfohlen habe und daß »es schwierig war, den Rat für diese
Maßnahmen zu gewinnen.« Er vergaß auch nicht, erneut auf den ›Widerstand der Kommission gegen
Protektionismus‹ hinzuweisen: als
Hüterin der europäischen Verträge wacht die Kommission über die
Freihandelsabkommen und schafft den Rahmen, in dem sich die Staats- und
Regierungschefs bewegen können. Auch diese Tatsache, die nationale Politiker
gerne verschweigen, rufen die Antici-Notizen in Erinnerung.
Quelle: http://www.monde-diplomatique.de/pm/2012/09/14.mondeText.artikel,a0034.idx,8 Versammlungssaal
50.1 -
Der Europarat tagt hinter verschlossenen Türen, aber nicht alles bleibt
geheim -
Von Christophe Deloire und Christophe Dubois
[1] Mit dem Vertrag von Lissabon wurde das Amt
eines Präsidenten des Europäischen Rats geschaffen. Dieser wird von den Staats-
und Regierungschefs für zweieinhalb Jahre gewählt und kann wiedergewählt
werden. Er lenkt die Arbeit in Koordination mit der alle sechs Monate
wechselnden Präsidentschaft durch einen Mitgliedstaat.
[2] Der ESM-Vertrag muss von so vielen EU-Staaten
ratifiziert werden, daß mindestens 90 % der
geplanten finanziellen Ausstattung verbindlich zugesagt sind. Das
Bundesverfassungsgericht entschied am 12. September über dessen Vereinbarkeit
mit der deutschen Verfassung.
Christophe
Deloire und Christophe Dubois sind die Autoren von: ›Circus Politicus‹,
Editions Albin Michel Paris 2012
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