Arabiens Muslimbrüder 30.11.2012 13:17
d.a. In Anbetracht der Vormachtstellung der Muslimbruderschaft in Ägypten, Tunesien und der Türkei
sowie
des vorgesehenen Rückzugs der US-Truppen aus Afghanistan in den nächsten beiden
Jahren kommt der Arbeit der US-Geheimdienste in der islamischen Welt laut einem
US-Experten besondere Priorität zu. Die Drohnenmorde, heisst es, machten jedoch
eine angemessene Arbeit von US-Agenten und Diplomaten unmöglich. Der
eigentliche Grund, der zum Rücktritt von General Petraeus führte, sei die Furcht
gewesen, dass dieser die CIA noch mehr ›militarisieren‹ würde. US-Geheimdienstquellen zufolge seien Spitzenleute der CIA
wegen der Politik der gezielten Tötungen durch Drohnen über Petraeus und Obama
äusserst verärgert gewesen, weil diese die CIA zum Handlanger der
Pentagon-Sondereinheiten und der wöchentlichen ›Drohnenkiller‹ Sitzungen des Präsidenten herabwürdigte.
[1]
Der
Hintergrund: Ein islamisches Reich Die
Türkei, Katar und Saudi-Arabien, so ein Bericht der ›jungen Welt‹, sind in
den Ländern des ›Arabischen
Frühlings‹ bisher als Sieger
hervorgegangen. Mit Hilfe des Westens haben sie die Muslimbruderschaft an die Macht
gebracht und dieser als Unterstützer und Bedrohung zugleich die Salafisten an
die Seite gestellt. Säkulare, liberale und sozialistische Kräfte haben Mühe,
von dem ›islamistischen Tsunami‹ nicht weggespült zu werden. Jahrelang
hatte der Westen, in braver Gefolgschaft Israels, vor einem ›schiitischen Halbmond‹ in der Region gewarnt. Darauf basiert
die aggressive Politik gegenüber dem Iran. Eine Politik, die Hunderttausenden
das Leben kostete. Die Hisbollah im Libanon, Damaskus, Bagdad und Teheran
stellten die Sicherheit Israels in Frage, so der obzessive Grundgedanke
westlicher Politik. Klarer formulieren es die reaktionären Königshäuser am Golf
und die AKP-Regierung in der Türkei, die den Iran und seine Verbündeten als
Widersacher im Wettstreit um die sunnitische Vormachtstellung in der Region
bekämpfen. Heute sehen sich die Warner im Westen und Israel nicht nur mit einem
›schiitischen Halbmond‹ konfrontiert, vor ihnen sind gleich
zwei ›sunnitische Mondhälften‹ aufgestiegen. Die eine erstreckt sich
von Doha, Riad, über Kairo bis nach Tunis und Rabat, die andere reicht von den
Golfmonarchien über Kairo, Gaza, Amman, Damaskus bis nach Istanbul. Die
Selbstermächtigung Mursis und sein Schulterzucken gegenüber den Demonstranten
machen deutlich, dass es nach den emanzipatorischen Aufständen im vergangenen
Jahr nicht um Demokratie und Menschenrechte, nicht um wirtschaftliche Teilhabe
und nicht um die Gleichberechtigung für Frauen und Männer geht. Es geht um die
Wiedererrichtung eines Islamischen Reichs unter der Führung der
Muslimbruderschaften. Vielleicht mehr, auf keinen Fall weniger. [2]
In
Tunesien ist der Chef der tunesischen Regierungspartei Ennahda, Rachid
al-Ghannouchi, darum bemüht, nach aussen hin eine moderate Form des Islams zu
vertreten. Indessen sehen Kritiker in ihm einen Islamisten, der sich zur
Stimmenmaximierung gemässigter gab, als er es tatsächlich ist. So hatte er nach
dem Sturz von Zine al-Abidine Ben Ali bekräftigt, die Demokratie zu
unterstützen und auf die Einführung der Scharia zu verzichten. Einem Bericht
der ›Welt‹ zufolge rät al-Ghannouchi indessen den ›Salafisten‹,
weitsichtig und geduldig vorzugehen, um die Gewinne, die man gegenüber den säkulären
Kräften zu verzeichnen habe, zu konsolidieren und nicht wieder zu verspielen. »Schafft
Fernsehkanäle, Radiostationen, Schulen und Universitäten«, so al-Ghannouchi.
Das Volk brauche die Religion, es werde früher oder später den Salafisten
zulaufen. Zudem sei es seiner Meinung nach nicht ausgeschlossen, dass säkulare
Kräfte in absehbarer Zeit wieder erstarken könnten. Al-Ghannouchi ist übrigens führendes
Mitglied im Europäischen Rat für Fatwa und Forschung (ECFR) mit Sitz in Dublin,
einer den ägyptischen Muslimbrüdern zugerechneten Organisation, die
sich um die Anwendung islamischer Normen auf europäische Verhältnisse bemüht.
Der Rat wird von dem bekannten Islamisten Yusuf al-Qaradawi geleitet, der in
seinem Werk ›Erlaubtes und
Verbotenes im Islam‹ die Todesstrafe
für die Abkehr vom Islam befürwortet, ebenso die häusliche Gewalt gegen
Ehefrauen, ›wobei der Mann das
Gesicht und andere empfindliche Stellen zu meiden hat‹. Jahrelang wurde dieses von der Islamischen Glaubensgemeinschaft
in Österreich (IGGiÖ) als offizielles Unterrichtsmaterial in österreichischen
Schulen benutzt, ehe das Ministerium reagierte und der ehemalige
IGGiÖ-Präsident Anas Schakfeh das Buch zurückzog. Al-Ghannouchi selbst wird
ebenfalls ein religiöses Gutachten (Fatwa) mit bedenklichem Inhalt
zugeschrieben. Es soll Muslimen erlaubt sein, alle israelischen Zivilisten zu
töten, weil es, so seine Rechtfertigung, in Israel gar keine Zivilisten gebe: die
Bevölkerung sei die ›Reserve der
Armee‹ und daher als solche zu
töten. [3]
Was die
Unterstützung des fundamentalistischen Islams durch die USA seit dem Zweiten
Weltkrieg bis heute betrifft, so hat Robert Dreyfuss in seinem Buch ›Devil’s
Game‹ eine erste vollständige
Untersuchung dieses geheimen Bereichs der amerikanischen Aussenpolitik
dargelegt. Dreyfuss' umfangreiche Untersuchung legt die Grundlagen für ein
wirkliches Verständnis des imperialen Zugriffs, zuerst des British Empire und
dann der USA, auf die Geschicke des Nahen und Mittleren Ostens. Wie die USA den
islamischen Fundamentalismus während des Kalten Kriegs im sowjetischen
Einflussbereich (Mittelasien, Afghanistan) instrumentalisierte, hat Dreyfuss
sorgfältig recherchiert: Mit dem Tod Nassers und dem Rückzug des arabischen
Nationalismus wurden die Islamisten in den 1970er Jahren zu einer wichtigen
Stütze unter den vielen an die Vereinigten Staaten gebundenen Regimes. Die USA
sah sich im Verbund mit der islamischen Rechten in Ägypten, wo sich Anwar Sadat
die Islamisten des Landes zunutze machte, um eine anti-nasserische politische
Basis aufzubauen; in Pakistan, wo General Zia ul-Haq mit Gewalt die Macht
ergriff und einen islamistischen Staat errichtete; im Sudan, wo der Führer der
Muslimbruderschaft, Hassan Turabi, in Richtung Macht marschierte. Gleichzeitig
begannen die Vereinigten Staaten, den islamischen Fundamentalismus als
Werkzeug zu sehen, das man offensiv gegen die Sowjetunion einsetzen
konnte, in erster Linie in Afghanistan und Zentralasien, wo die USA ihn als
Schwert gegen den ›weichen Unterbauch‹ der Sowjetunion nutzte. Und als sich die Revolution im Iran
entwickelte, führte eine latente Sympathie für den Islamismus, die mit der
weitverbreiteten Ignoranz der USA gegenüber den islamistischen Strömungen im
Iran verbunden war, viele US-Beamte dazu, Ayatollah Khomeini als harmlose
Gestalt zu sehen und ihn für seine Zeugnisse als Antikommunist zu bewundern.
Infolgedessen unterschätzten die Vereinigten Staaten das Potential seiner
Bewegung im Iran in katastrophaler Weise. Selbst nach der iranischen Revolution
von 1979 versäumten es die USA und ihre Alliierten, zu begreifen, dass der
Islamismus eine gefährliche unkontrollierbare Kraft war. Die
Vereinigten Staaten gaben Milliarden an Dollars für die Unterstützung des
islamistischen Dschihads in Afghanistan aus, dessen Mudschaheddin von Gruppierungen
geführt wurden, die mit der Muslimbruderschaft verbunden waren. Die USA schaute
auch unkritisch zu, als Israel und Jordanien bei einem Bürgerkrieg in Syrien im
geheimen Terroristen der Muslimbruderschaft halfen; dies ebenso, als Israel die
Verbreitung des Islamismus unter den Palästinensern in den besetzten Gebieten
bestärkte und bei der Gründung der Hamas behilflich war. In den 1980er Jahren
schlossen sich dann Neokonservative den geheimen Abmachungen, die der CIA-Agent
Bill Casey mit Ayatollah Khomeini im Iran traf, an. Mit den 1990er Jahren war
der Kalte Krieg vorbei. Der politische Nutzen der islamischen Rechten schien
nun fragwürdig. Einige Strategen argumentierten, dass der politische Islam eine
neue Bedrohung darstelle, wobei der neue «Ismus» an die Stelle des Kommunismus
als globaler Gegner Amerikas trat. Das allerdings bauschte die Macht einer
Bewegung, die auf arme, nicht entwickelte Staaten beschränkt war, masslos auf.
Dennoch war der politische Islam von Marokko bis Indonesien eine Kraft, mit der
die Vereinigten Staaten sich auseinandersetzen mussten. Washingtons Reaktion
war verworren und konfus. Während der 1990er Jahre war die USA in einer Reihe
von Krisen mit dem politischen Islam konfrontiert: In Algerien sympathisierten
die Vereinigten Staaten mit den aufsteigenden Kräften des politischen Islams
nur deshalb, um das Durchgreifen der algerischen Armee gegen sie zu
unterstützen; danach unterhielt Washington mit den algerischen Islamisten, die sich
zunehmend dem Terrorismus zuwandten, weiterhin einen Dialog. In Ägypten
stellten die Muslimbruderschaft und ihre Ableger samt einer gewalttätigen
Untergrundbewegung eine fatale Bedrohung für das Regime von Präsident Mubarak
dar; trotzdem spielten die Vereinigten Staaten mit der Unterstützung der
Muslimbrüder. Noch während Usama bin Ladens al-Kaida Form annahm, fand sich die
USA im Bunde mit der islamischen Rechten von Pakistan, Saudi-Arabien und dem
Persischen Golf. Und dann kam 9/11. [4]
Überall in
der arabischen Welt, schreibt Alain Gresh in seinem Artikel Die Golfstaaten und
die Muslimbrüder - Ende einer Freundschaft sind die
islamistischen Parteien auf dem Vormarsch, allen voran die Muslimbrüder. Ihr
Aufstieg geht auf die 1970er Jahre zurück. In Ägypten ist es ihnen gelungen,
die Armee weitgehend zu entmachten, aber sie haben mit vielen Schwierigkeiten
zu kämpfen und dabei einen politisch aktiven Teil der Gesellschaft gegen sich.
In Marokko dagegen üben sie die Macht unter der Kontrolle des Königs aus. In
Tunesien hat die führende Partei der Regierungskoalition, Ennahda, die größte
Gewerkschaft des Landes zum Gegner. In den Monarchien am Golf, zumal in
Saudi-Arabien, geht man zunehmend auf Abstand zur Bruderschaft.
Die
Muslimbrüder? ›Eine kleine Gruppe, die vom rechten Weg abgekommen
ist‹. Die Revolution in Ägypten? ›Wäre
ohne iranische Schützenhilfe niemals möglich gewesen und wird zu einem neuen
Sykes-Picot-Abkommen führen‹. Die
Wahl von Mohammed Mursi zum ägyptischen Präsidenten? ›Eine
schlechte Wahl‹. Diese Urteile
stammen vom Polizeichef des Emirats Dubai, General Dahi Khalfan Tamim. Wie
viele arabische Staatsbeamte setzt Tamim regelmäßig Twitter-Meldungen ab: »Sollten
die Muslimbrüder die Sicherheit am Golf bedrohen, werden Ströme von Blut sie
hinwegspülen.« Den ganzen Sommer 2012 über hat der ›erste Bulle‹ von Dubai
die Bruderschaft aufs Korn genommen. Er bezeichnete sie als ›sündige Organisation, deren Ende nahe
ist‹, und forderte das Einfrieren
ihrer Bankguthaben. Es blieb nicht bei den Verbalattacken: In den Vereinigten
Arabischen Emiraten, zu denen Dubai gehört, wurden etwa 60 Muslimbrüder unter
der Anklage einer angeblichen Verschwörung gegen die Regierung vor Gericht
gestellt. Die Zeitung ›Asharq
al-Awsat‹ gehört der Familie des
saudischen Prinzen Salman. Das panarabische Blatt genießt im Westen hohes
Ansehen, doch in Fragen der arabischen Politik tendiert seine Unabhängigkeit
gegen null. Bereits einen Tag nach der Vereidigung von Präsident Mursi, am 30.
Juni, tat Chefredakteur Abdulrahman al-Raschid seine Zweifel kund - oder
vielmehr die des saudischen Königshauses: Wird der neue ägyptische Präsident
wirklich den Terrorismus bekämpfen und sich al-Qaida entgegenstellen? Wird er
die syrische Opposition unterstützen, obwohl er sich gleichzeitig gegen eine
Militärintervention des Auslands ausspricht? Wird er den jordanischen König
Abdullah II. gegen die Ansprüche des jordanischen Zweigs der Muslimbruderschaft
unterstützen? Raschids größte Sorge lautet: »Wird der neue ägyptische Präsident
die diplomatischen Beziehungen zum Iran – lange ein zuverlässiger Verbündeter
der Muslimbrüder – wieder aufnehmen? Die Hilfe der iranischen Regierung für
lokale Gruppierungen in Ägypten zeigt doch, daß
sie dort den Schiismus verbreiten will. Das könnte zu einem konfessionellen
Konflikt in Ägypten führen.« Ein paar Wochen später wetterte der Chefredakteur gegen
den ägyptischen Vorschlag, in eine Vierergruppe zur Lösung der Syrienkrise
neben der Türkei und Saudi-Arabien auch den Iran einzuladen. Ganz auf dieser Linie
boykottierte dann das saudische Außenministerium das Kairoer Treffen dieser
Gruppe im September. Der in der saudischen Presse wie in anderen Medien der
Golfregion geäußerte Argwohn wird im Westen kaum wahrgenommen. Das mag daran
liegen, daß solche Äußerungen der in
Europa und den USA verbreiteten Sichtweise, wonach die Emire vom Golf zusammen
mit islamistischen Gruppen eine große sunnitische Allianz bilden, mit dem
angeblichen Ziel, eine streng religiöse Ordnung durchzusetzen und die Scharia
einzuführen, widersprechen. Dabei wird jedoch übersehen, daß sich die Gemeinsamkeiten häufig auf eine
konservative Auslegung des Islams beschränken. Das heißt aber nicht, daß sich divergierende politische Interessen,
diplomatische Rivalitäten, nationalen Unterschiede und gegensätzlichen
Strategien deshalb in Luft auflösen. Mehrere historische Entwicklungen –
weniger auf religiöser als auf politischer Ebene – haben zu der irrigen
Vorstellung einer Allianz zwischen Islamisten und den Regierungen der
Golfregion beigetragen. In den 1950er und 1960er Jahren ließen sich viele Kader
der Muslimbrüder, die in Syrien, Ägypten, Algerien oder im Irak verfolgt
wurden, in den Golfstaaten und insbesondere in Saudi-Arabien nieder. Es gab
aber kein formales Bündnis, erläutert ein der Bruderschaft nahestehender
ägyptischer Intellektueller: »Damals war die Organisation so gut wie zerschlagen
und hatte keine geregelte Führung. Dennoch waren die Aktivisten, die zu
Tausenden nach Saudi-Arabien strömten, äußerst nützliche Verbündete im Kampf
gegen den arabischen Nationalismus, insbesondere gegen Nasser und gegen die
Linke.«
Ist der
Arabische Frühling also so etwas wie die dritte Phase dieser Allianz der
Gläubigen? Diese These klingt plausibel, verschleiert jedoch die sehr viel
komplexeren Realitäten, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges
herausgebildet haben. So kam es Anfang der 1990er Jahre im Gefolge der
irakischen Invasion in Kuwait zum Bruch zwischen der Muslimbruderschaft und dem
saudischen Königshaus. Der damalige mächtige Innenminister Prinz Naif Bin Abd
al-Aziz klagte 2002 gegenüber der kuwaitischen Tageszeitung ›al-Sijasa‹: »Die Muslimbrüder sind die Ursache für einen Großteil der
Probleme in der arabischen Welt, und sie haben Saudi-Arabien schwer geschadet.
Wir haben diese Gruppe schon viel zu sehr unterstützt. Dabei haben sie die
arabische Welt zerstört.« Während des ersten Irakkriegs 1990/1991, berichtete der
Prinz, hatte er eine vom jetzigen Chef der tunesischen Ennahda-Partei, Rachid
al-Ghannouchi, dem Sudanesen Hassan al-Turabi, dem Jemeniten Abdul Majid
al-Zindani und dem späteren türkischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan angeführte
Delegation der Bruderschaft empfangen. »Wir fragten sie: ›Billigt ihr die Invasion in Kuwait?‹ Sie seien gekommen, um
unseren Standpunkt zu hören, lautete ihre Antwort. Danach fuhren sie in den Irak und
veröffentlichten zu unserer großen Überraschung eine Deklaration zur
Unterstützung der irakischen Besetzung von Kuwait.« Der
Prinz vermied es freilich, den anderen Grund für seinen Ärger zu nennen, der
auch von anderen Regierungen der Golfstaaten geteilt wurde: Die Muslimbrüder
waren dort mittlerweile gesellschaftlich tief verwurzelt und beteiligten sich
seit dem ersten Irakkrieg an Protesten, die vor allem die saudische Monarchie bis
ins Mark trafen. Denn die politische Vision der Bruderschaft – ein islamischer,
aber dennoch durch Wahlen legitimierter Staat – weicht stark von der
Staatsräson der Saudis ab, die auf der unerschütterlichen Treue zur
Königsfamilie basiert. Die saudische Monarchie zog es daher vor, diverse
salafistische Strömungen zu unterstützen, die sich nicht politisch betätigen
und die jeweils herrschenden Regimes unterstützen, ob in Saudi-Arabien oder im
Ägypten von Präsident Mubarak. Die Kluft
zwischen der Bruderschaft und dem Regime in Riad hat sich seit der
Jahrtausendwende sogar noch vertieft. Der Hauptgrund dafür ist der
Schulterschluß der Hamas, des
palästinensischen Ablegers der Bruderschaft, mit dem Iran, Syrien und der
libanesischen Hisbollah im Kampf gegen Israel und die USA.
Wachsende Rivalität
zwischen Kairo und Riad Durch die
arabischen Revolutionen wurden die Karten neu verteilt. Der Erfolg der
Bruderschaft in Ägypten und in Tunesien ist für Saudi-Arabien und die
Vereinigten Arabischen Emirate eine sehr negative Entwicklung. Die wahhabitischen
Herrscher in Riad unterhielten stets exzellente Beziehungen zum Mubarak-Regime,
und dem gestürzten tunesischen Präsidenten Ben Ali gewährten sie Asyl. Der
Bruderschaft verübeln sie den Sturz dieser beiden Staatschefs und der USA
verübeln sie, daß sie sie fallen ließ. Die
saudische Monarchie hat sich nachgerade zum Zentrum der Konterrevolution
entwickelt und die Revolte in Bahrain im Mai 2011 blutig niederschlagen lassen.
Riad unterstützt auch König Abdullah II. gegen die Proteste in Jordanien, an
denen sich die jordanischen Muslimbrüder aktiv beteiligen. Dennoch führten die
ersten Auslandsreisen den neuen ägyptischen Präsidenten, Mohammed Mursi, und
den neuen tunesischen Premier, Hamadi Jebali von der Ennahda-Partei, nach Riad.
Dies geschah allerdings nicht etwa auf Grund irgendeiner islamistischen
Solidarität, sondern aus rein realpolitischem Kalkül. Ägypten ist dringend auf
das saudische Geld angewiesen. 1,5
Milliarden US-$ sind bereits geflossen, und Riad hat weitere 2,5 Milliarden
versprochen. Außerdem arbeiten mehr als 1,5 Millionen Ägypter im Königreich,
deren Rücküberweisungen an ihre Familien einen wichtigen Beitrag zur
ägyptischen Zahlungsbilanz leisten. Umgekehrt kann es sich Saudi-Arabien trotz
aller Voreingenommenheit gegen die Muslimbrüder nicht leisten, die Beziehungen
zum wichtigsten Land im Nahen Osten zu kappen. »Der
Besuch Mursis hat nicht alle Probleme lösen können«, so
drückt es ein ägyptischer Diplomat vorsichtig
aus. Viele Streitfragen sind ungelöst, sei es der Umgang der saudischen
Behörden mit den ägyptischen Immigranten, sei es der Umgang ägyptischer
Behörden mit saudischen Investitionen im Land.
Der
tunesische Ennahda-Chef Rachid al-Ghannouchi hat lange Zeit im Exil in London
gelebt, das er dem saudischen Königreich vorzog. Während seiner USA-Reise im
Dezember 2011 erklärte er, der Arabische Frühling werde die Emire vom Golf
hinwegfegen. Auf diese Prophezeiung reagierte die saudische Zeitung ›al-Riyad‹ mit dem ironischen Kommentar, ob das wohl auch für den Emir von
Katar gelte, der ein wichtiger Förderer der Ennahda ist. Die Beziehungen der
Bruderschaft zu Katar, ebenso wie Saudi-Arabien ein Hort des Wahhabismus, also
einer sehr konservativen Islamauslegung, sind in der Tat eng. Das Emirat hat
weder eine ausreichend große Armee noch genügend Diplomaten oder Agenten, um in
der Region eine aktive Rolle zu spielen. Sein einziger Trumpf sind seine
unerschöpflichen Dollarreserven. In der Muslimbruderschaft sieht das Emirat ein
geeignetes Instrument für die Durchsetzung seiner eigenen Politik. Es hat nicht
zuletzt auch vom Ansehen des ägyptischen Rechtsgelehrten Jusuf al-Qaradawi
profitiert, der seit den 1970er Jahren in Katar lebt und durch seine Sendung ›Die Scharia und das Leben‹ auf dem katarischen Sender
al-Dschasira zum populärsten Prediger der Region aufgestiegen ist. Al-Qaradawi
gilt auch in der Bruderschaft, der er früher selbst zugehörte, als religiöse
Instanz. Allerdings hat er sich seine Unabhängigkeit bewahrt und die
ägyptischen Muslimbrüder mehrfach wegen ihres Sektierertums kritisiert. Nachdem
Katar lange Zeit mit der Hisbollah, Syrien und dem Iran geflirtet hat – ohne
freilich seine guten Beziehungen zu der USA zu gefährden – setzt es seit Beginn des Arabischen Frühlings
auf den Sieg der Muslimbrüder. Das ist übrigens der Grund, warum al-Dschasira
viel von seiner Reputation eingebüßt und auch einige seiner besten Journalisten
verloren hat. Insbesondere in Ägypten, aber teilweise auch in Tunesien, ist
al-Dschasira quasi zum Sprachrohr der Muslimbrüder degeneriert. Der Besuch des
katarischen Emirs Hamad Bin Khalifa al-Thani in Kairo während des Ramadan im
August sollte die Stabilität der Beziehungen der beiden Länder unterstreichen.
Al-Thani übergab der ägyptischen Zentralbank eine Einlage von 2 Milliarden $, damit
diese einen Liquiditätsengpaß überbrücken
konnte. Überdies besuchte der Emir mit ausdrücklicher Billigung der ägyptischen
Regierung im Oktober auch Gaza, wo er als erster Staatschef überhaupt mit der
Hamas-Führung zusammentraf. Reicht all das aus, um von einem strategischen
Bündnis der Muslimbruderschaft mit Katar zu sprechen? Gegen diese These
sprechen die jüngsten Spannungen zwischen der tunesischen Ennahda und dem
Emirat, das inzwischen Zweifel daran hat, ob die Bruderschaft in der Lage ist,
das Geburtsland des Arabischen Frühlings zu stabilisieren.
All dies
widerlegt die vor allem im Westen immer noch verbreitete Annahme, die
Muslimbrüder aller Länder würden von einem geheimen Zentrum in Mekka und nach
einer einheitlichen islamischen Partitur dirigiert. Vielmehr ist es so, daß die einzelnen Zweige der Bruderschaft ihre
Strategie eindeutig nach den jeweiligen nationalen Interessen ausrichten. Das
zeigt etwa die Politik Mursis gegenüber Israel und dem Gazastreifen, mit der er
die Hamas zutiefst enttäuscht hat. Weiter kompliziert wird die Lage durch den
wachsenden Einfluß der Salafisten, die
neuerdings in der ägyptischen und tunesischen Politik mitmischen. Das gilt auch
für die Annäherung zwischen Katar und Saudi-Arabien, auch wenn das Emirat
seinem mächtigen Nachbarn noch mißtraut, und
für die Bedrohung der jordanischen Monarchie. Diese weigert sich neuerdings,
ihre Hilfe für die syrischen Rebellen mit Katar abzustimmen, dem sie die
Unterstützung der Muslimbrüder vorwirft. All diese Entwicklungen und
Widersprüche zeigen jedenfalls, daß wir die
Rolle des Islamismus in der Region nicht verstehen können, wenn wir dieses
Phänomen ausschließlich durch die religiöse Brille sehen. [5]
[1] Strategic Alert Jahrgang 25 Nr. 47/48 vom 21. 11. 12 [2] http://www.jungewelt.de/2012/11-29/021.php Hintergrund:
Islamisches Reich (kl) [3] http://www.unzensuriert.at/content/0010497-Tunesiens-f-hrender-Islamist-l-sst-einmal-mehr-die-Maske-fallen 28. 10. 12
Tunesiens führender Islamist lässt einmal mehr die Maske fallen [4] http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=121 Zeit-Fragen Nr.50 vom 26.11.2012 [5] http://www.monde-diplomatique.de/pm/.aktaus Le Monde diplomatique Nr. 9952 vom 9. 11. 2012 Die
Golfstaaten und die Muslimbrüder – Ende einer Freundschaft - Von Alain
Gresh Aus dem
Französischen von Jakob Horst - gekürzte Fassung
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