Die Rückkehr des Krieges in die Politik - Totalangriff auf das Völkerrecht - Von Norman Paech 16.12.2012 18:16
Ich bin gefragt worden, was eigentlich das Völkerrecht zu all den Kriegen und der Gewalt dieser Epoche sagt?
Sie
läßt sich mit der viel spannenderen Frage verbinden, was die Völkerrechtler zu
den Kriegen sagen und was sie aus dem Völkerrecht machen. Juristen leben nicht
in einem isolierten Kasten, sondern in einer Welt der Politik und Medien, die täglich
der Welt ihr Weltbild oktroyieren. Deshalb einige Vorbemerkungen zu diesem
Weltbild. Die Mehrheit der kommentierenden Zeitgenossen ist davon überzeugt, daß
wir uns in einer geschichtlichen Phase des Übergangs in ein System der Weltordnung
befinden, von dem nur so viel klar ist, daß es anders als das bisherige
System aussehen wird; wie allerdings, ist ziemlich unklar. Was die Beobachter
im Norden wie im Süden aber eint, ist die Überzeugung von der
Kriegsträchtigkeit dessen, was allgemein als Globalisierung bezeichnet wird.
Dieser Begriff steht allmählich nicht nur für die Verheißungen der ökonomischen
und sozialen Entwicklung weltweit, sondern auch für die Erwartung, ja
Unvermeidlichkeit kommender Kriege. Diese Erwartung wird nicht nur
durch die tägliche Kriegsberichterstattung aus allen vier Kontinenten
untermauert, sondern wird auch durch die ausdrückliche Programmatik der
neuesten Militärstrategien der NATO vom April 1999 und der USA vom September
2002 und März 2006 bestätigt. Selbst die Europäische Union hat sich einen
mächtigen militärischen Arm zugelegt, der laut ›Europäischer Sicherheitsstrategie‹ von 2003 in Zukunft weltweite militärische ›Verteidigungs‹aufgaben
übernehmen soll: »Unser herkömmliches Konzept der
Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der
Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste
Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind
dynamischer Art. .... Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu
handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden. « [1]
Die
Friedensforschung hat sich seit eh und je mit Kriegen beschäftigt. Immer
weniger kann sie sich aber den Aufgaben ihres Namens ›Frieden‹ widmen und die
Verhinderung, Eindämmung und Prävention von Kriegen zum Thema machen. Ihr
Wandel zur Kriegsforschung erweist sich in der Flut von Veröffentlichungen, die
sich mit der Identifizierung und Klassifikation der neuen Kriege, der Analyse
neuer Kriegsformen, -methoden und -instrumente, der ansteigenden Rüstung und
den neuen Akteuren beschäftigt. Damit hat sich auch die Perspektive auf den
Krieg verändert, dessen absolutes Verbot [UNO-Charta] unter den Bedingungen der
Globalisierungskämpfe vielfältig relativiert und angegriffen wird. Robert Kagan,
Berater von Newt Gingrich und Mit Romney, spricht zu Recht von ›Amerikanern‹ und nicht nur von ›Republikanern‹, wenn er zur Rechtfertigung schreibt:
»Die Amerikaner werden die Bürger der Stadt verteidigen, ob es
denen gefällt oder nicht... Die Vereinigten Staaten ... sind gezwungen, die
Einhaltung gewisser internationaler Abkommen, die ihre Fähigkeit, in Robert
Coopers Dschungel erfolgreich zu kämpfen, beeinträchtigen könnten, zu
verweigern. Sie sind gezwungen, Rüstungskontrollen zu unterstützen, können sie
aber nicht immer für sich selbst gelten lassen. Sie müssen mit einer
Doppelmoral leben. Und sie müssen gelegentlich einseitig agieren, ….. weil den
Vereinigten Staaten in Anbetracht eines schwachen Europas, das die Machtpolitik
überwunden hat, nichts anderes übrig bleibt, als einseitig zu handeln.« [2] Es geht um die Erweiterung des
Legitimationsrahmens für den Krieg als Mittel der Politik. Dies
geschieht zunächst dadurch, daß der Blick auf die neuen Formen der Gewalt und
des Kriegsgeschehens gerichtet wird: ›internationaler
Terrorismus‹, ›Privatisierung der Gewalt‹,
›Staatszerfallkriege‹, ›asymmetrische
Kriege‹, ›Bandenkriege/warlords‹,
›low intensity warfare‹, ›ethnische
Säuberungen‹, ›Kindersoldaten‹, ›Söldnerfirmen‹. Sie werden im Anschluß an Mary Kaldor heute allgemein unter dem
Begriff der ›neuen Kriege‹
[3] gefaßt und vor allem als neue Herausforderung des Westens
gesehen, die dessen militärische Antwort notwendig machen. Das lenkt zunächst
davon ab, daß fast alle Formen aus den klassischen Staatenkriegen weitgehend
bekannt sind: Partisanenkrieg, Geiselerschießungen, Guerilla-Befreiungskampf,
ethnische Säuberungen, Genozid und Söldnereinsatz. Nur die Unmittelbarkeit und
mediale Präsens eines Terroraktes wie die Zerstörung des World Trade Centers
durch zivile Flugzeuge läßt uns die Ungeheuerlichkeit und Barbarei von
Terrorakten wie die Abwürfe der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki
vergessen; und die Massaker an der Zivilbevölkerung in Zentralafrika überlagern
die Barbarei der Massaker in Zentraleuropa im zweiten Weltkrieg wie die von
Oradour, Lidice und Distomo.
Es
spricht vieles für die These, daß auch in Zukunft kaum ein lokaler Krieg ohne
direkte oder indirekte Beteiligung der großen NATO-Mächte stattfinden wird. Darüber
hinaus geben die modernen Strategiepapiere der USA, der NATO und der EU
deutliche Hinweise auf militärische Interventionen in jenen Regionen, in denen
die Staaten ihre zentralen ökonomischen und politischen Interessen gefährdet
sehen. In den Worten ihrer akademischen Apologeten handelt es sich dabei um die
›Herstellung von imperialer Ordnung
zwecks Absicherung von Wohlstandszonen an den Rändern.‹ Entsprechend der militärische Prägung jeder imperialen Ordnung
wird der Krieg als unvermeidbares Mittel der Absicherung eingeplant: »Der Zwang zu einer zunehmenden Politik der Intervention ist auch
die Reaktion auf die Konsequenzen der Globalisierung an der Peripherie. Es
bleibt die Frage, ob es gelingt, die zentralen Bereiche in die Wohlstandszonen
zu inkludieren, also in der Fläche Ordnung herzustellen, und den Rest zu
exkludieren. Es steht aber außer Frage, daß an diesen neuen ›imperialen Barbarengrenzen‹ der Krieg endemisch wird, nämlich in
Form von Pazifizierungskrieg aus dem Zentrum in die Peripherie hinein und in
die Form von Verwüstungskrieg aus der
Peripherie ins Zentrum.« [4] Als Proben dieses ›Pazifizierungskrieges‹ dürfen wir die Kriege gegen Jugoslawien,
Afghanistan, den Irak und Libyen begreifen, die nur notdürftig mit der Anrufung
der Menschenrechte und dem Kampf gegen Terror und Massenvernichtungsmitteln legitimiert
werden konnten. Der ›Verwüstungskrieg
aus der Peripherie‹ meint die
verschiedenen Terroranschläge seit dem 11. 9. 2001, wobei der Begriff
absichtsvoll über das jeweilige Ausmaß der Verwüstungen beider Kriegsarten
hinwegtäuscht. Ja, wir werden dazu aufgefordert, ›die Kategorie des Imperiums in Zukunft .... als eine alternative
Ordnungskategorie des Politischen, nämlich als Alternative zur Form des
Territorialstaates‹ zu akzeptieren.
Das derart installierte imperiale Gewaltverhältnis muß deshalb als ›Friedensgarant‹, als ›Aufseher über
politische, kulturelle Werte und Absicherer großräumiger Handelsbeziehungen und
Wirtschaftsstrukturen‹ gepriesen werden, wobei dem Autor
offensichtlich sein Rückfall in Wilhelminische Vorstellungen verborgen bleibt.
Eine zentrale Rolle bei der Legitimierung des Krieges spielen die für die
Öffentlichkeit bestimmten Erklärungen zur Militär- und Sicherheitsstrategie,
aus denen sich die jeweiligen ›Doktrinen‹ ableiten. Sie sind das Ergebnis
langjähriger zwischen Politik und Militär abgestimmter Planungen, die
schließlich der Öffentlichkeit zu ihrer Einstimmung und Orientierung übergeben
werden. So hatte die feierliche Unterzeichnung der neuen NATO-Strategie im
April 1999 in Washington durch die Staats- und Regierungschefs aller aktuellen
und zukünftigen Mitgliedstaaten nicht etwa das Ziel, den endgültigen Konsens
zwischen den politischen Führungen herzustellen, sondern allein um ihre
militärische Neuorientierung ›urbi
et orbi‹ zu verkünden. Eine
derartige strategische Neuausrichtung der NATO von einer ursprünglichen
Verteidigungsgemeinschaft in ein offensives weltweit operierendes
Krisenregulierungsinstrument hätte eine ausdrückliche Veränderung des NATO-Vertrages
erfordert. Die Tatsache, daß man sich mit einem einfachen Papier und einer
feierlichen Zeremonie begnügt hat, zeigt zum einen den hohen Grad der
Übereinstimmung unter den transatlantischen politischen und militärischen
Führungsschichten. Zum anderen gibt sie aber wohl auch ein Indiz für die
Gefahren, die in einer formellen iuristischen Absicherung durch die Änderung
des Vertragstextes lagen. Ein solcher Prozeß hätte die Ratifizierung in jedem
Mitgliedsstaat verlangt, der eine Reihe von Unabwägbarkeiten mit sich gebracht
hätte. Da sich die politischen Führungen auf die Verbindlichkeit der neuen
Strategie für alle unterzeichnenden Regierungen verlassen konnten, verzichteten
sie auf die unsichere demokratische Legitimierung durch Parlament und Volk.
Diese Legitimierung wurde der NATO am 11. September 2001 in New York
nachgeliefert und durch die ›National
Security Strategy‹ der USA ein Jahr
später noch einmal bestätigt. Der Schock des Terroranschlages erlaubte es der
US-Regierung, nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern den ganzen Globus in
den Zustand eines permanenten Ausnahmezustandes unter der weltweiten Gefahr des
internationalen Terrorismus zu versetzen: Legitimation durch Drohung, die die
NATO sofort nutzte, um sich in den zeitlich wie territorial unbegrenzten
Antiterrorkrieg einzureihen.
Der
Nutzen dieses neu entstandenen bzw. neu aufgebauten Bedrohungsszenarios für die
Legitimierung erweiterter Kriegsoptionen zeigt sich in der
Hilfestellung akademischer Berater, die den neuen Ansatz in vielfältigen
Veröffentlichungen ›wissenschaftlich‹ absichern. Interessant sind z.B. die ›Überlegungen für eine neue Interventionspolitik‹, die vom ›Centre for the Study of Global Governance‹ in London im Auftrag des Außenbeauftragten der EU, Javier Solana,
angestellt worden sind. Dort haben Marlies Glasius und Mary Caldor eine Studie
zur ›Human Security Strategy‹
[5] erarbeitet, in der sie den
Abschied von der herkömmlichen Verteidigungspolitik zugunsten einer erweiterten
Sicherheitspolitik vorschlagen. Die Sicherheit sei nicht mehr an den Grenzen
der Länder gefährdet, sondern durch den Zustand der Welt insgesamt. Externe und
interne Sicherheit seien von jetzt an nicht mehr trennbar, was die klassische
Verteidigungspolitik nicht berücksichtige. Zudem erfordere das neue ›Konzept menschlicher Sicherheit‹ den Vorrang der Menschenrechte vor
der staatlichen Souveränität, was es vom traditionellen staatsorientierten
Konzept unterscheide. Am Ende dieses neuen geopolitischen Sicherheitskonzeptes
öffnen die beiden Damen der militärischen Intervention die gleichen
Perspektiven wie in der ›NSS‹ der USA, allerdings in
differenzierter Diktion: frühzeitig, langfristig und ohne territoriale
Begrenzung überall dort, wo die Gefahr identifiziert wird.
Alle
politischen und moralischen Begründungsversuche leiden jedoch unter dem Mangel
einer universellen Anerkennung und dem zumeist nicht unbegründeten Verdacht,
hinter ihrer Fassade andere strategische und ökonomische Interessen zu
verfolgen. Deshalb bedarf es einer Referenz, die außerhalb der nationalen Interessen
und mit dem Ausweis der Universalität die Ansprüche an eine allgemein
anerkannte Legitimation erfüllt. Dieses trifft nach dem Verlust allgemeiner
moralischer Standards allein noch das internationale Recht, das Völkerrecht zu,
welches in der UNO-Charta die Forderung nach universeller Anerkennung einlösen
kann. Deshalb fehlt in keiner Militärstrategie und keiner politischen wie
wissenschaftlichen Abhandlung der Bezug auf das Völkerrecht und die UNO-Charta.
Selbst in den Fällen geplanter und offener Verletzung des Völkerrechts, wie in
den beiden Kriegen gegen Jugoslawien und den Irak, spielte der ›Kampf um das Völkerrecht‹ sowohl in der Vorbereitung des
Angriffs wie in der Folgediskussion um die Rechtfertigung eine zentrale Rolle. Überlegungen
zur politischen bzw. moralischen Rechtfertigung eindeutiger Rechtsverstöße
spielen in der völkerrechtlichen Literatur seit langem eine Rolle. Der Überfall
auf Jugoslawien im Frühjahr 1999 war unter klarem Verstoß gegen das Gewaltverbot
des Art. 2. Z. 4 UNO-Charta erfolgt und konnte keine der anerkannten
Rechtfertigungen der Selbstverteidigung gem. Art. 51 oder des Mandats durch den
Sicherheitsrat gem. Art. 39/42 UNO-Charta aufweisen. Dieser Befund war nicht zu
leugnen, führte aber zu der Frage: Wie kann ein Verstoß gegen das Gewaltverbot
dennoch gerechtfertigt werden, wenn die Gewaltanwendung schwerste Verbrechen
beenden soll, ihre Notwendigkeit offenkundig und ihre humanitäre Absicht klar
ist? In der positivistisch orientierten Wissenschaft überwogen die Bedenken
gegen die Konstruktion und Einführung einer neuen Regel, um die humanitäre
Intervention zu erlauben, da damit ihrer mißbräuchlichen Berufung Vorschub
geleistet werden könne. Der Vorschlag von Oskar Schachter lautete schon 1991: »Es ist besser, eine Verletzung des Völkerrechts einzugestehen, die
wegen der besonderen Umstände notwendig und wünschbar ist, als ein Prinzip
anzunehmen, welches eine weite Bresche
in die Barriere gegen die einseitige Anwendung von Gewalt schlagen würde.« [6] Dieser moralische Positivismus fand auch in
Europa Zustimmung, wo z.B. Bruno Simma die ausnahmsweise Verletzung der
UNO-Charta durch die Bombardierung Jugoslawiens mit ihrer ›overwhelming humanitarian necessity‹ rechtfertigte [›illegal
aber legitim‹], jedoch gleichzeitig
vor einer Wiederholung wie vor einer Änderung des Rechts warnte: »Der entscheidende Punkt ist, daß wir nicht einfach die Rechtsregel
wechseln sollten, um unserem humanitären Impuls zu folgen; wir sollten keine neuen
Standards einführen, nur um den richtigen Schritt in einem einzelnen Fall zu
machen. Die Rechtsfragen, die durch die Kosovokrise aufgeworfen werden, sind
ein eindrücklicher Beweis dafür, daß harte Fälle schlechtes Recht machen.« [7] Lassen wir einmal beiseite, daß die faktische
Basis des ›humanitären Impulses‹ gerade beim Kosovo-Konflikt nach wie
vor mehr
als umstritten ist. Die Konkurrenz zwischen Recht und Moral, Legalität
und Legitimität endet immer wieder in der Sackgasse, wenn die Autoren Moral und
Legitimität über das Recht stellen. Zwei weitere US-amerikanische Autoren
erklären das Recht lediglich als Unterfutter der Legitimiät und schreiben: »Legitimität erwächst aus der Überzeugung, daß sich staatliches
Handeln innerhalb eines rechtlichen Rahmens abspielt, und zwar in zweierlei
Hinsicht: Erstens muß dafür eine rechtlich gesicherte Grundlage bestehen,
handeln darf also nur eine politische Institution, die ein Recht für ihr
Vorgehen hat. Zweitens darf staatliches Handeln keine gesetzlichen oder
ethischen Normen verletzen. Letztendlich ist Legitimität freilich in einer
allgemeinen Vorstellung von Rechtmäßigkeit verwurzelt. Daher kann staatliches
Handeln, auch wenn es in dem einen oder anderen Sinne gegen Gesetze verstößt,
von der öffentlichen Meinung dennoch als legitim angesehen werden.« Theologen vom Schlage unseres Bundespräsidenten könnten an dieser
Konstruktion Gefallen finden, für Juristen ist das jedoch klösterliche Kost.
Um
diese zirkuläre Argumentation aus ihrer Sackgasse zu befreien, löst die
politik-orientierte Rechtswissenschaft der New Haven Schule den eher statischen
Rechtsbegriff des Positivismus auf und biegt ihn zu einem ›fortlaufenden Prozeß autoritativer und kontrollierender
Entscheidungen, durch den die Mitglieder einer Gemeinschaft versuchen, ihre
gemeinsamen Interessen zu klären und zu sichern.‹ Dieses Zitat zeigt bereits, daß wir es auch hier mit einer
schwierigen Operation zu tun haben. Hinter diesem Konzept steht die dienstbare
Anpassung des Rechts an die Politik, wie sie W. Michael Reisman, einer
der bekennenden Vertreter dieser Schule, in unmißverständlicher Klarheit
ausdrückt: »Positivistische Rechtswissenschaft, die sich dem
Entscheidungsprozeß der Bürokratie auf vielen Ebenen anbietet, begreift
Gesetzmäßigkeit als Einhaltung der Regeln. Die Entscheider an der Spitze denken
demgegenüber nicht an die Einhaltung der Rechtsregeln, sondern in den
Kategorien, die die zahlreichen Politiken optimieren. ….. Aus der Perspektive
des Juristen, der einen positivistischen rechtswissenschaftlichen Ansatz
vertritt, handelt der Entscheider einseitig und rechtswidrig. Benutzen wir aber
einen anderen und möglicherweise angemesseneren juristischen Blickwinkel, kann
das zu der entgegengesetzten Schlußfolgerung führen.« [8] Angewandt auf den Jugoslawienkrieg
argumentiert Reisman, daß sich ein Staat angesichts massiver
Menschenrechtsverletzungen gegenüber den eigenen Bürgern nicht mehr auf den
Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Art. 2 Z. 7 der UNO-Charta berufen könne. Dieser Artikel
schrumpfe und müsse dann auch eine ›Anpassung‹ (›appropriate
adjustement‹) des Art. 2 Z. 4 der UNO-Charta
mit sich bringen, der insofern einer Intervention aus humanitären Gründen nicht
entgegengehalten werden könne. Eine subversivere Auflösung der
internationalen Legalität kann man sich kaum vorstellen. Sie taugt zur
Legalisierung jeglicher unilateraler Intervention der starken Mächte, wenn man
ihr nur einen humanitären Hintergrund verschaffen kann. Mit dieser Operation
rechtfertigte Reisman die NATO-Bombardierung Jugoslawiens, die US-Intervention
1989 in Panama und 1983 in Grenada. Ihr Rechtsrelativismus nährt sich aus dem
Realismus machtpolitischer Interessenvertretung. Diese hat sich aus nationaler
Sicht um das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung und nicht der Welt zu kümmern
und daher auch nicht um das internationale Recht. Diejenigen, die den subversiven
Strategien der Rechtsjongleure mißtrauen, aber dennoch einen juristischen Weg
zur Legalisierung der unilateralen Kriege suchen, knüpfen an die Dynamik des
Völkerrechts, an die gewohnheitsrechtliche
Fortentwicklung durch die Praxis der Staaten an. Diese Form der
Rechtsentwicklung vollzieht sich ohne vertragliche Änderung der großen
Konventionen, wie z.B. der UNO-Charta, allein durch das Handeln der Staaten im
Bewußtsein eigener Rechtsverpflichtung. Sie bedarf allerdings der Unterstützung
der überzeugenden Mehrheit der Staaten. Fortentwicklung bedeutet Veränderung
des überkommenen Rechts, die sich zunächst in seiner Verletzung, dem Bruch mit
der herkömmlichen Rechtsüberzeugung manifestiert. Weite Bereiche des
Völkerrechts haben sich auf diese Weise durch die Jahrhunderte derart
fortentwickelt. In der Zeit nach 1945 hat sich allerdings die Kodifizierung
durch vertragliche Übereinkunft immer mehr als Mittel der Rechtsentwicklung
durchgesetzt. Insbesondere die Durchbrechung und Veränderung zwingenden Rechts [ius
cogens] wie das Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4 UNO-Charta ist nur durch
Entwicklung einer dritten Ausnahme neben Art. 51 und 42 UNO-Charta als neues
zwingendes Recht möglich. So hat es auch bisher nur vereinzelte Stimmen
gegeben, die bereits im Frühjahr 1999 zu Beginn der Bombardierung Jugoslawiens
die humanitäre Intervention als gewohnheitsrechtliche Ausnahme vom Gewaltverbot
ausgegeben hätten.
Doch
der Druck auf eine ›solide‹ völkerrechtliche Grundlage für
humanitäre und größere Katastrophen vorbeugende Interventionen wächst. Als
Reaktion auf das Scheitern des UNO-Sicherheitsrats angesichts der Kosovo-Krise
und des Ruanda-Völkermords forderte UNO-Generalsekretär Kofin Annan die Völkergemeinschaft
mehrfach auf, die Probleme der völkerrechtlichen Instrumente angesichts
derartiger Katastrophen zu überprüfen und neue Prinzipien zu entwickeln: »..... wenn die humanitäre Intervention in der Tat ein inakzeptabler
Angriff auf die Souveränität ist, wie sollen wir dann auf Ruanda und Srebrenica
und grobe und systematische Verletzungen der Menschenrechte antworten, die alle
Aspekte unserer gemeinsamen Humanität verleugnen?« Die kanadische
Regierung nahm die Anregung auf und bildete die ›International Commission on Intervention and State Sovereignty‹ [ICISS]. Sie schlug in ihrem Bericht
vom Dezember 2001 eine neue Doktrin ›The
responsibility to protect‹ vor [9],
die von der Verpflichtung der UNO-Mitgliedstaaten ausgeht, das Leben, die
Freiheit und die fundamentalen Menschenrechte ihrer Bürger zu schützen. Sollten
sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen können oder wollen, so
habe die internationale Völkergemeinschaft die Verpflichtung, einzugreifen.
Diese Doktrin hat viel Beifall, aber auch manche Kritik erhalten, da sie
letztlich wieder auf den Krieg zur Lösung sozialer Konflikte setze. Zudem laden
derartige Entwürfe zur Erweiterung ein, was Lee Feinstein und Anne-Marie
Slaughter nutzten, um die Doktrin um eine ›duty
to prevent‹ zu ergänzen. [10] Auf dem Feld der globalen Sicherheit möchten
sie den Staaten eine Verpflichtung auferlegen, »um Nationen, die von
Herrschern ohne Kontrolle ihrer Macht geführt werden, davon abzuhalten,
Massenvernichtungswaffen zu gebrauchen.« Eine willkommene
nachträgliche Rechtfertigung des Überfalls auf den Irak.
Die
unverblümte Ankündigung kommender Kriege bedarf starker Antikriegskräfte, um ihnen zu begegnen.
Die landläufige Theorie allerdings, daß demokratische Staaten zumindest nicht
gegeneinander Krieg führen werden, geht von zweifelhaften Prämissen aus und
verbreitet eine trügerische Sicherheit. Bis auf wenige Ausnahmen liefert die
herrschende politische und juristische Theorie keine Grundlagen, die den
Widerstand gegen die Rehabilitierung des Krieges stärken könnten. Sie steuert
den Angriff auf das Völkerrecht selbst. Mögen die Regeln des Völkerrechts und
der UNO-Charta noch so klar und eindeutig den Krieg verurteilen und den Frieden
propagieren, ihre Interpreten, die Völkerrechtler, folgen lieber den Trommeln und
Töpfen ihrer Regierungen, sie sind die wahren Spindoktoren des Krieges. Die
akademische Welt läßt die Friedensbewegung allein – das wäre nicht das erste
Mal. Sorgen wir dafür, dass die Friedensbewegung die akademische Welt nicht den
Regierungen überläßt.
Quelle: http://norman-paech.de/app/download/5790664873/Kassel+Friedensatschlag+2012.pdf Die
Rückkehr des Krieges in die Politik
- Totalangriff auf das Völkerrecht - Vortrag
auf dem Kasseler Friedensforum am 1. Dezember 2012 - Von
Norman Paech Alle
Hervorhebungen durch politonline
Norman
Paech, emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Hamburger
Universität für Wirtschaft und Politik in Hamburg (HWP), trat 2001 wegen des
von der rot-grünen Mehrheit im Bundestag beschlossenen Einsatzes der Bundeswehr
in Afghanistan aus der SPD aus. Paech war von 2005 bis 2009 aussenpolitischer
Sprecher der Bundestagsfraktion der Linken und 2010 ein Passagier auf der »Mavi
Marmara«.
[1] Sogenanntes Solana-Papier, vom Europäischen
Rat im Dezember 2003 als ›Europäische
Sicherheitsstrategie‹ verabschiedet.
An anderer Stelle heißt es: »Wir müssen eine Strategie-Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und
wenn nötig robustes Eingreifen fördert….. Als eine Union von 25
Mitgliedstaaten, die mehr als 160 Mrd. Euro für Verteidigung aufwenden, sollten
wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können.« Diese ›Strategie-Kultur‹ ist nicht allzu weit von dem
Präventiv-Konzept der ›National
Security Strategy‹ der USA entfernt. [2] Kagan, R., 2003, Macht und Ohnmacht, Berlin;
S. 108, 113 [3] Kaldor, M., 2000, Neue und alte Kriege.
Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main [4] Münkler, H., Senghaas, D., 2004, Alte
Hegemonie und Neue Kriege. In: Blätter für deutsche und internationale Politik,
Heft 5, S. 539 ff., 549. Münkler fügt hinzu: »In diesem Modell gibt
es zentrale Regionen, die müssen inkludiert, also territorial kontrolliert
werden – das ist zum Beispiel die Golfregion.« [5]
Glasius, M., Caldor, M., 2005, Individuals first: A Human Security
Strategy for the European Union. In: Internationale Politik und Gesellschaft,
Heft 1 [6] Schachter, O., 1991, International Law in
Theory and Practice, Boston [7] Simma, B., 1999, NATO, the UN, and the Use of
Force: Legal Aspects. In: European Journal of International Law, Volume 10, S.
14 [8] W.
Reisman, W., M., 2000, Unilateral Actions and the Transformations of the World
- Constitutive Process: The Special Problem of Humanitarian Intervention. In:
European Journal of International Law, Volume 11, S. 3 ff., 5 n. 2 [9]
ICISS - Evans, G., Sahnoun, M., 2001, The Responsibility to Protect,
Ottawa [10]
Feinstein, L., Slaughter, A.-M, 2004, A
Duty to Prevent. In: Foreign Affairs, January / February
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