»Mehr Zurückhaltung - oder Order per Mutti« - Von Evelyn Hecht-Galinski

Palästinenserpräsident Abbas war auf Berlin-Besuch. Da war natürlich Kontinuität angesagt.

Was das bedeutet, wissen wir zur Genüge. Kontinuität bedeutet Stillstand und Duldung der unhaltbaren Zustände in Palästina. Dazu passend war dann auch die Forderung von Merkel, die Israelis - laut dem Obersten Israelischen Gerichtshof gibt es keine israelische Identität mehr, sondern »nur Juden, Muslime, Christen und Drusen« [1] - sollten mehr Zurückhaltung beim Siedlungsbau üben, um die laufenden Friedensgespräche nicht zu gefährden. 

Was für ein Hohn! Was heißt denn Zurückhaltung, Kanzlerin Merkel? Meinen Sie wirklich, was Sie da von sich geben? Die sogenannten Friedensgespräche werden doch hauptsächlich durch die expansive jüdische Siedlungspolitik hintertrieben. Die illegalen jüdischen Siedlungen müssen verschwinden! In diesem Zusammenhang erscheint das Wort Zurückhaltung wie ein   Peitschenhieb in das Gesicht eines jedes nachdenkenden Menschen, und besonders natürlich eines jeden Palästinensers. Würden Sie einen anderen Serientäter auch auffordern, seine Taten nur noch zurückhaltend zu begehen? Anstatt Zurückhaltung zu fordern, wäre die Forderung nach einem jüdischen Siedlungsstopp und einem Rückzug auf die Grenzen von 1967 das Gebot der Stunde.  Unzeitgemäß dagegen die uneingeschränkte Solidarität mit dem jüdischen Staat und seiner Besatzer-Unrechtspolitik, die die Palästinenser erniedrigt und ihrer Rechte beraubt! Ebenso dringlich ist die Zurücknahme der von Ihnen, Kanzlerin Merkel, verkündeten Staatsräson für  Israels Sicherheit, anläßlich ihrer Rede vor dem israelischen Parlament, der Knesset, während ihres Besuches im Jahr 2008. Hier hatten wir es mit einer Order von Mutti zu tun. Wo uns diese Staatsräson im Ernstfall hinführen kann, zeigt uns die jüdisch-israelische Expansions- und Kriegsdrohungspolitik nur allzu deutlich. Wir haben es bei dem illegalen jüdischen Siedlungsbau mit einem völkerrechtswidrigen Verbrechen und einem Beispiel von zionistischer Expansion auf geraubtem palästinensischem Land zu tun. Hat nicht gerade die israelische Organisation Peace Now festgestellt, daß sich der Neubau von Siedlungen im besetzten Westjordanland und im annektierten Ostjerusalem allein im ersten Halbjahr 2013 um über 70 % im Vergleich zum Vorjahr erhöht hat. Zudem liegen über 60 % der neuen jüdischen Siedlungsprojekte außerhalb der großen Siedlungen. Hagit Ofran von Peace Now sagte dazu, das sei so, als ob zwei über die Aufteilung einer Pizza verhandelten und einer von beiden die Pizza inzwischen aufißt.  

Ist es da nicht mehr als verwunderlich, wenn Präsident Abbas in Berlin immer noch von der Zwei Staaten Lösung spricht und von der historischen Chance, die zu ergreifen wäre? Immerhin hat sich seit der Unterzeichnung des israelisch-palästinensischen Friedensvertrags von 1993 die jüdische Bevölkerung in den besetzten palästinensischen Gebieten verdreifacht. Das Völkerrecht untersagt die Besiedlung besetzter Gebiete ausdrücklich. Warum wird dieser Punkt nicht   angesprochen und dieses jüdisch-israelische Vergehen nicht angeprangert? Was wird stattdessen angekündigt? Daß die deutsche Hilfe, die die besetzten Palästinensergebiete unterstützt, im laufenden Jahr mit 100 Millionen € weiterlaufen wird? Daß Investitionen für eine Wirtschaftsstruktur getätigt werden, die sich erst noch entfalten soll, und daß sich auch deutsche Geschäftsleute an diesen Investitionen beteiligen sollen. Schön und gut, aber kann man wirklich einem Geschäftsmann empfehlen, in einem vom jüdischen Staat widerrechtlich besetzten Gebiet zu investieren? Wo dieser jüdische Staat alles widerrechtlich zerstören kann - in der Gewißheit, daß die Geberländer alles Zerstörte klaglos wieder aufbauen? Es ist nicht die Aufgabe der Weltgemeinschaft, als großzügiger Geber diese Besatzung zu finanzieren. Es ist die Aufgabe der Geberländer, den jüdischen Staat dazu zu zwingen, die von ihm zu unrecht einbehaltenen Steuergelder oder durch Falschdeklarierungen erzielte Gelder an die besetzten Palästinenser sofort auszuzahlen. Nicht umsonst wird die Palästinenserbehörde [PA] im November wieder einmal zahlungsunfähig sein, sollte diese Hilfe ausbleiben. Beträgt doch das derzeitige Haushaltsdefizit der PA etwa 370 Millionen Euro. 

Natürlich gibt es gerade auch in dieser PA erhebliche Mißstände im Umgang mit den Milliardenhilfen, die aus der USA und Europa kommen. Aber diese Zustände gedeihen nicht nur in den besetzten Gebieten! Wie viele Korruptionsprozesse kennen wir schon vom Besatzer Israel und dessen Politikern? Leidtragende sind dabei wie immer die einfachen Bürger. Fakt ist, daß die Besatzung nicht von uns allen weiter bezahlt werden darf, weil damit die Schuld an dieser Besatzung und Beraubung auch immer mehr zu unser aller Problem wird, weil wir dafür mitverantwortlich werden! Mehr als verwunderlich ist auch, daß Merkel die Palästinenser auffordert, auch bei der Versöhnung untereinander voranzukommen, also die Spaltung zwischen der Hamas-Führung in Gaza und der Fatah-Führung in Ramallah zu überwinden. Zunächst einmal ist es notwendig, die Hamas nicht mehr als Terrororganisation einzustufen und sie stattdessen als normalen gewählten Verhandlungspartner zu betrachten! Und vor allen Dingen wird es Zeit, der unerträglichen Blockade von Gaza durch Israel ein Ende zu setzen. Dieses größte Freiluftgefängnis der Welt muß endlich wieder frei zugänglich werden, und die Menschen dort müssen endlich eine lebenswerte Perspektive bekommen, damit sie keine Tunnel mehr graben müssen, um an die Güter des täglichen Bedarfs zu kommen. Diese Situation zu ändern ist auch eine Aufgabe für die EU und eine deutschen Regierung! Doch auch hier zeigt sich das Unausgegorene an der deutschen Außenpolitik. Hoffentlich ändert sich diese verfehlte einseitige Außenpolitik zugunsten Israels in einer neuen Regierungskoalition. 

EU- Richtlinien für die Fördermittel an Israel  
Ein neuer EU-Report berichtet über eine mögliche Umgehung der gerade erst beschlossenen neuen Richtlinien für die Fördermittel an Israel. [2] Sollte die massive Lobbyarbeit der israelischen Regierung so schnell zu einem Erfolg geführt haben, wäre das ein nicht wieder gutzumachender Fehler der EU. Der jüdische Staat hatte nichts unversucht gelassen, um diese Richtlinien zu stoppen. Israelische Minister verglichen die EU-Politik mit der des Dritten Reichs und bezeichneten sie als rassistisch und das jüdische Volk diskriminierend. Verschiedene Siedleranführer verglichen  diese Richtlinien sogar mit den Selektionen in Konzentrationslagern! Hier haben wir sie wieder, die Instrumentalisierung des Holocaust als wirksames Druckmittel. Noch einmal zur Erinnerung: Die EU hatte endlich beschlossen, daß ab 2014 Israel in allen zu schließenden Verträgen klarstellen müsse, daß die Abkommen und damit die Fördergelder nur noch dem Kernland Israel in den Grenzen von 1967 zugute kommen. Damit wären dann endlich die jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland, im annektierten Ostjerusalem und auf den Golan-Höhen von den zukünftigen Fördergeldern ausgeschlossen. Das betrifft die Bereiche Wissenschaft, Wirtschaft, Sport und Kultur. Bedauerlicherweise sind aber diese Richtlinien löchrig wie ein Schweizer Käse und betreffen z.B. diejenigen Wissenschaftler nicht, die zwar in einer illegalen jüdischen Siedlung leben, aber in einer israelischen Universität im Kernland forschen. Diese werden von den EU-Geldern weiterhin  profitieren.  

Schon seit Jahren unterlaufen israelische Firmen die Kennzeichnungspflicht für Waren, die in den illegalen jüdischen Siedlungen hergestellt werden, um vom Zollfreihandelsabkommen zu profitieren. Und vergessen wir nicht: Nach internationalem Recht sind die jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten ILLEGAL! Sie werden auch nicht dadurch legal, wenn der jüdische Staat völkerrechtswidrige Gesetze hat, die diese Besatzung legalisieren. Im Wissen um diese Tatsachen hat nun die EU diese Regelung leider mehr als einseitig positiv zugunsten Israels beschlossen. Sollte dieser Report stimmen, scheint sich eine nochmalige Aufweichungabzuzeichnen. Laut Darstellung des Reports in der israelischen Zeitung Maariv wird es zwei wesentliche Änderungen geben: 

1.  Israelische Einrichtungen werden nicht mehr dazu verpflichtet sein, zu unterschreiben, daß sie nicht in den besetzten Gebieten arbeiten, wenn sie Anträge für Fördergelder stellen. Es wird vielmehr die Aufgabe der EU sein, die Angaben nachzuprüfen und diese Beweise selbst aufzuspüren!

2.  Die israelischen Einrichtungen können ihre Aktivitäten weiterhin frei in den besetzten Gebieten betreiben, solange sich ihr Hauptsitz im Kernland von Israel befindet [Grenzen von 1967]. Und die Verhandlungen darüber gehen fröhlich weiter, da die israelische Regierung noch mehr Vereinfachungen herausholen will. Sie schlägt vor, daß eine Adresse ausreichen muß, um den Hauptsitz der Einrichtung anzuzeigen. Die EU verlangt dagegen auch die Eintragung eines Sub-Unternehmers in Israel. 

Ungeachtet der Frage, wie die endgültigen Details oder Alternativen für diese Richtlinien am Ende ausgehandelt werden, das Resultat wird laut einem israelischen Offiziellen folgendes sein: Mit den  Richtlinien zu marschieren, diese aber nicht zu spüren. Sollte dieser Bericht stimmen, und es ist davon auszugehen, weil Maariv eine der Regierung nahestehende Zeitung ist, hätte die EU bei der Durchsetzung angekündigter Ziele erneut versagt. Ein weiteres Beispiel dafür, daß die Vergabe des Friedensnobelpreises am 10. Dezember 2012 an die EU eine eklatante Fehlentscheidung war. Denn die Begründung der Preisverleihung war die Rolle der EU als Friedensstifter! Und bei der Entgegennahme der Auszeichnung durch die drei Vertreter der EU hieß es ausdrücklich, dies sei ein Ansporn, Europa zu erhalten und ein Appell, unsere gemeinsame Zukunft zu gestalten. Große Worte in der Tat, mehr auch nicht, sieht man auf die EU und ihre mehr als fragwürdige Rolle in der Gestaltung der Zukunft für die Palästinenser und im Umgang mit dem jüdischen Staat!  

Flüchtlinge nur Europas Zukunft?  
Große Worte fand ich auch in der Jüdischen Allgemeinen von einem Rabbiner namens Andrew Aeyeh Steiman der Budge Stiftung in Frankfurt am Main. Er meinte unter dem Titel: Flüchtlinge sind Europas Zukunft in einem Artikel, daß das Unglück von Lampedusa zeige, daß die EU ihr vielbeschworenes jüdisch-christliches Erbe über Bord werfe. Interessant war dabei, daß der Rabbiner in seinem Beitrag mit keinem Wort auf das Flüchtlingsproblem im jüdischen Staat‹   einging. Er erwähnte nicht, daß Israel seit seiner Gründung 1948 nur 170 Asylanträge anerkannt hat. Er erwähnte auch nicht die Verweigerung der legitimen Rückkehr der vertrieben palästinensischen Flüchtlinge der Nakba  in ihre Heimat Palästina.
Siehe hierzu http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=701 
Zum Gedenken an Al-Nakba

Israel erkennt nur ein Rückkehrrecht an, dasjenige der Diaspora-Juden! Daran sollte der jüdische Staat, der doch immer zu Europa gehören will und dessen Wohlwollen und Wohltaten genießt, erinnert werden! [3] 

Kommen wir noch zu einer musikalischen Geheimwaffe, die auf Einladung [Kosten?] des Keren Hayesod, des weitweiten Spendensammlers für Israel, durch Deutschland tourte, wie dies auch die Jüdische Allgemeine berichtete. [4]  Eine Frau namens Astrith Baltsan, die laut Staatspräsident Schimon Peres  [Vater der Atombombe und des Siedlungsbaus und Friedensnobelpreisträger!!!]  eine gigantische Errungenschaft ist. [5]  Sie wird mit dem Programm Hatikvah [Hoffnung] auftreten. Sie schrieb auch gemeinsam mit dem israelischen Bildungsministerium (!) ein Buch mit dem Titel Hatikvah, das zur Standardlektüre (!) an israelischen Schulen gehört. Für mich persönlich war die Hatikvah immer eine propagandistische israelische Hymne, die meiner Meinung nach völlig unpassend bei nahezu allen jüdischen Veranstaltungen in Deutschland gespielt wurde, obwohl ich weiß, daß die Hatikvah auch nicht unumstritten war und erst 2004 offiziell als Nationalhymne bestätigt wurde. Denn auch die Hatikvah grenzt, ebenso wie der jüdische Staat, die Minderheiten als Bürger zweiter oder dritter Klasse aus. In ihr gibt es nämlich den Vers: »Daß die jüdische Seele diese Worte mit Leidenschaft singt«. Und ich erfuhr auch, daß die Melodie der Hatikvah von einem rumänischen Volkslied beeinflußt wurde, das man sang, um das Vieh anzutreiben. Welche Parallele! Singt man diese Melodie jetzt nicht, um den jüdische Staat zu erhalten und die Palästinenser auszutreiben? Es waren die Hatikvah und der Hora-Tanz, die mir schon in meiner Kindheit fremd waren und bis heute blieben, da ich diese Vermischung zwischen Israel und deutschem Judentum nie so nachvollziehen konnte und wollte. Ich schrieb darüber einmal in dem Buch von Günter Schenk, einem Freund und Friedensaktivisten aus Straßburg, der in seinem Buch Denk ich an Palästina [Palestine On My Mind] verschiedene Erfahrungen von 26 interessanten Menschen als Zeugnisse zusammengetragen hat.      

Noch etwas schier Unfaßbares las ich in der Jüdischen Allgemeinen. Da schreibt doch ein Manfred Gerstenfeld, ein Aufsichtsrat und ehemaliger Vorsitzender des Think Tanks Jerusalem Center for Public Affairs, warum Israel nie ein normales Land sein kann. Da gibt es Sätze wie: »Zum einen sind alle Nationen an sich einzigartig. Und manche Länder sind einzigartiger als andere. So wie Israel«. Oder er nimmt den historischen Antisemitismus - ob religiös oder ethnisch motiviert - zum Anlaß, diesen mit dem heutigen Anti-Israelismus zu vergleichen. Der Artikel gipfelt dann in der Ausführung zu jüdischen Selbsthaß einiger Israelis, die sich mit dem Standpunkt ihrer Feinde identifizieren. Diese Beschimpfung von Juden gegenüber anderen Juden kenne ich nur zu Genüge und sie erscheint mir als eine der übelsten und verwerflichsten Beschimpfungen gegenüber Israel-Kritikern und Andersdenkenden. Gerstenfeld schreibt über Israel so viele propagandistische falsche Dinge, die alle Fakten umdrehen.  [6] 

Apropos, kennen sie ein Land oder eine Religionsgemeinschaft, die Nobelpreisträgern als Juden gratuliert? Nein, Hochmut kommt vor dem Fall, und Israel sollte endlich ein normaler Staat sein, eine Demokratie nicht nur für Juden. Es ist kein Licht unter den Völkern, sondern ein Staat, der sich immer mehr verdunkelt, für den man sich als Jude in der Diaspora fremdschämen muß, da er sich immer wieder herausnimmt, für alle Juden in der Welt zu sprechen und zu handeln! 

 

Evelyn Hecht-Galinski ist Publizistin und die Tochter des 1992 verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski. Ihre Kommentare schreibt sie vom Hochblauen aus, ihrem 1186 m hohen Hausberg im Badischen.  Quelle: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19585   Online-Flyer Nr. 429 vom 23. 10. 13

[1]  http://www.spiegel.de/politik/ausland/israel-gemeinsame-saekulare-identitaet-abgelehnt-a-926138.html  
[2]  http://972mag.com/report-eu-to-bypass-its-own-anti-settlements-guidelines/80521/
[3]  http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19316
[4]  http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/17310
[5]  http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/17234