Die schweizerische Demokratie und die Probleme der Freiheit in der Europäischen Union - Von Václav Klaus 01.06.2014 21:32
Die nachfolgende Rede hielt der frühere Präsident Tschechiens im Rahmen
einer Veranstaltung des Liberalen Instituts in
Zürich.
Vielen Dank für die Einladung in die Schweiz, vor allem für
die Möglichkeit, wieder einmal hier in Zürich, in einer meiner Lieblingsstädte
zu sein. Vor allem danke ich Ihnen für die Möglichkeit, hier die heutige Rede
halten zu dürfen. Letztes Jahr im Januar, das heisst heute vor 15 Monaten, habe
ich hier in Zürich mein Buch mit dem Titel: ›Europa braucht Freiheit‹ präsentiert.
Das damalige Treffen war von der Avenir Suisse organisiert
worden. Heute ist es mir eine Ehre, das sehr bekannte
Liberale Institut und dessen Publikum anzusprechen; den Präsidenten Robert Nef
kenne ich seit langem. Vor zwei Jahren war ich sehr erfreut, als ich gefragt
wurde, einen Beitrag für seine Festschrift zu leisten, die zum Anlass seines
70. Geburtstags herausgegeben wurde.
Was mein Buch mit dem Titel ›Europäische Integration ohne Illusionen‹ betrifft, so wurde dieses von mir nicht als Ausdruck meiner
heutigen Enttäuschung über die Entwicklung des europäischen
Integrationsprozesses geschrieben. Ich hatte nie Illusionen in dieser Hinsicht.
Was mich heute neu beunruhigt, ist der Fakt, dass trotz vieler offensichtlicher
Probleme, die man nicht verbergen kann, und trotz schwerer Kritik, die wir
alle, die in Europa leben, fast täglich sehen, hören und fühlen können, Europa
weiterhin in seine hoffnungslose Sackgasse marschiert. Es scheint, dass
die Europäer sich davon nicht stören lassen. Die sich immer mehr
verschlechternden Wirtschaftsdaten, der allmählich abnehmende Respekt vor
Europa vom Rest der Welt, die beschleunigte Vertiefung der sogenannten
demokratischen Defizite, die Steigerung der Frustration und weitere ähnliche
Charakteristiken, die heute in Europa nicht verleugnet werden können, haben
keine massive Aufmerksamkeit erweckt. Das macht mich nervös. Man kann die
Debatte über Europa von vielen Seiten und vielen Winkeln anfangen.
Erlauben Sie mir, die Reaktion der EU zum schweizerischen
Referendum als den Anfangspunkt meiner Diskussion der europäischen Probleme zu
nehmen. Es war fast ein ›controlled
experiment‹, selbstverständlich ein
ungeplantes, aber erwartetes. Wir haben es wirklich mit Interesse verfolgt.
Tschechen, die sehr sensibel auf die laufende Abschwächung der Demokratie
und der Freiheit in Europa reagieren, respektieren, ohne sich zu
erlauben, reinzureden, die Anwendung des Referendums, dieses spezifischen
Aspektes des schweizerischen Verfassungssystems. Sie dachten nicht, dass sie
das kleinstmögliche Recht hätten, die Fragestellung im Referendum und seine
Ergebnisse zu kommentieren. Die Tschechen haben die Freiheit der Schweizer,
wählen zu können, respektiert. Wir sind noch nicht die blinden Opfer der politischen
Korrektheit. Die Ära des Kommunismus ist noch nicht vollkommen vergessen. Die
Frage, die im Referendum gestellt wurde, war schon lange Zeit fällig. Die Bewegungen
der Menschen über die Grenzen der souveränen Länder hinweg, die sich in den
letzten Jahren und Jahrzehnten radikal verstärkten, untergraben systematisch
die Kohärenz und Regierbarkeit dieser Länder. Das Leben dort ist dadurch nicht
angenehmer, sondern weniger erfreulich und weniger bequem als früher. Das ist, nehme
ich an, das Empfinden vieler Schweizer, einschliesslich meiner Schwester, die
seit August 1968 hier in der Nähe lebt.
Die momentane Welle der Migration in Europa basiert auf der
Untergrabung der Wichtigkeit von Grenzen, auf der wachsenden Akzeptanz der
Ideologie des Multikulturalismus und auf der Verbreitung des grosszügigen
Wohlfahrtstaates. Diese drei Punkte repräsentieren wichtige Teile des
Europäismus, der nicht explizit formulierten Ideologie, die in der letzten Zeit
das Denken und Benehmen auf unserem Kontinent mehr und mehr beeinflusst. Die
Schweiz als eine reiche, traditionell demokratische und offene Gesellschaft
wurde zur Zieladresse von vielen nicht politischen Immigranten. Das ist der
Grund, warum dieses Thema hier wichtiger ist als zum Beispiel in meiner Heimat,
wo die Anzahl der Personen, die im Ausland geboren sind, immer noch kleiner
ist. In der ganzen Ära des Kommunismus haben wir in einem teilweise
geschlossenen Land gelebt, wo wir nicht nur Grenzen hatten, sondern auch etwas
Wichtigeres und Bedrohlicheres – den eisernen Vorhang. Kommunismus verbot fast
alles, auch die Immigration. Aus meiner Sicht hat das schweizerische Referendum
nur eine Überraschung vorgebracht: Den kleinen Unterschied zugunsten der
Ja-Antworten. Die Grösse des Problems scheint grösser als die kleine Lücke
zwischen Ja- und Nein-Stimmen zu sein. Trotzdem wurde das Referendum in Europa
und vor allem in Brüssel schwer fehlinterpretiert. Ich habe es nicht
als ein Nein-Sagen zur Immigration gesehen, sondern als Mitteilung: Machen wir
die Immigration in die Schweiz ein wenig vorsichtiger und langsamer. Jeder
souveräne Staat sollte das Recht haben, so etwas zu sagen.
Die neuen europäischen Eliten, die unverantwortlichen
Multikulturalisten, die begeisterten Globalisten und die zum Zuhören unfähigen
Europäisten sehen es leider anders. Es ist deshalb keine Überraschung,
dass das Referendum zu einer Konsternation und Panik in Brüssel geführt hat.
Manche von uns wissen schon lange Zeit, dass die EU eine postdemokratische und
postpolitische Entität ist. Nach zehn Jahren [weniger fünf Tage] Mitgliedschaft
in der EU spüren wir es in der Tschechischen Republik sehr stark. Wir - ich meine die normalen Leute - haben keine Motivation, dieses Jubiläum zu
feiern. Die ›cost-benefit-Analyse‹ ist nicht klar. Wir sind nicht sicher,
dass wir viel gewonnen haben. Die EU-Spitzenpolitiker sehen es anders. Sie
haben auch wiederholt Erfahrungen mit den Ergebnissen vieler Referenden, die in
der Vergangenheit in den einzelnen europäischen Ländern vollzogen wurden und
die für sie häufig uneuropäische, politisch inkorrekte Ergebnisse brachten. Sie
wollen von uns ein Kontinentaldenken, sie wollen den Nationalstaat unterdrücken,
sie wollen die Rolle der staatlichen Grenzen auflösen. Sie wollen die heutige
Konsistenz und Kohärenz der Nationen abschwächen. Das alles führt zur Förderung
der massiven und uneingeschränkten Migration. Ich habe erwartet, dass sie durch
Ihr Referendum frustriert sein müssen.
Das heutige Treffen wurde vom Liberalen Institut
organisiert. Ich vermute, dass dieses Publikum mehr als alle anderen weiss,
dass es in dieser ganzen Debatte in der Substanz um nichts anderes als um die
Freiheit geht. Man könnte erwarten, dass die traditionellen Verteidiger der
Freiheit, die europäischen Liberalen -
und es ist notwendig, hier klassische Liberale zu sagen, um sie von den
amerikanischen Obama-like Liberalen zu unterscheiden - dieses Thema verstehen und richtig
interpretieren können, dass sie wissen, wo sie stehen und welche Haltung sie
einnehmen sollen. Ich bin enttäuscht, dass manche europäischen klassischen
Liberalen in diesem Punkt verwirrt sind. Sie interpretieren alle Freiheiten a
priori als positiv, daher wäre auch die uneingeschränkte Freiheit zur
Einwanderung für sie wünschenswert. Das verstehe ich nicht. Fast 50 Jahre
meines Lebens habe ich in der kommunistischen Tschechoslowakei verbracht und
wurde am freien Reisen in den Westen gehindert. In dieser Zeit habe ich auch in
der Schweiz ein paar Stunden verbracht, als ich im Sommer 1965 durch dieses
Land mit dem Zug nach Frankreich gefahren bin. Danach war ich erst wieder 1990
hier, um am Weltwirtschaftsforum in Davos als Finanzminister der endlich freien
Tschechoslowakei teilzunehmen.
Meine Erfahrungen zwingen mich, zwischen den Begriffen
emigrieren und immigrieren zu unterscheiden. Wir waren enttäuscht, dass wir
nicht ins Ausland reisen und eventuell emigrieren durften, aber ich habe nie
das Immigrieren in irgendein spezifisches Land als eines meiner Rechte
betrachtet. Dies wurde zu meinem tiefsten Bedauern von manchen unserer
liberalen Kollegen nicht verstanden. Sie unterstützen jede Schwächung der
europäischen Staaten, was im Endeffekt eine sehr antiliberale Entwicklung sein
könnte. Es ist ein Beispiel für Frédéric Bastiats berühmtem Ausspruch: ›Was ist sichtbar und was nicht?‹ Das beunruhigt mich. Die Verschiebung
der Kompetenzen von einzelnen Staaten auf die EU-Ebene ist meistens
keine wünschenswerte Abschwächung der Institution des Staates, sondern die
unerwünschte Bestärkung des europäischen Super-Staates, der EU, welche weniger
demokratisch ist als jeder einzelne europäische Staat. Europäische Integration
in ihrer aktuellen Form erhöht nicht die Freiheit und Demokratie in Europa,
sondern schwächt sie. Es ist schade, dass sogar manche der ›Mises und Hayek‹-Glaubensgenossen das nicht sehen. Die
Frage der Freiheit in Europa bekommt in Verbindung mit der heutigen Entwicklung
in der Ukraine eine neue Relevanz. Ich bin stark davon überzeugt, dass wir es
hier mit einer Fehlinterpretation der Ereignisse in diesem Land sowie mit einer
neuen
Welle starker Gehirnwäsche zu tun haben. Einige Politiker und
Aktivisten in Europa (und Amerika) haben versucht, die Ukraine als ein Instrument
zu benutzen, um die feindliche Auseinandersetzung zwischen dem Westen und
Russland wieder zu starten. Die Ukraine, mit ihrer lang existierenden
Zerbrechlichkeit - sowohl im politischen
als auch im ökonomischen Sinne - wurde
in die Rolle eines Instruments gedrängt. Dieses Land zu einer sofortigen
Entscheidung zu zwingen, ob das Land zum Westen oder Osten gehören soll, ist
eine sichere und garantierte Methode, um es zu vernichten. Die öffentliche
Stellungnahme meines Instituts – des ›IVK‹ – hat es
Ende Februar sehr resolut formuliert: »Die Ukraine zu einer Entscheidung zu
zwingen, sich zwischen West und Ost zu entscheiden, würde das Land zerstören ..…
Es würde das Land in einen unlösbaren Konflikt führen, was nur ein tragisches
Ende haben kann.« Ich bedauere, dass es genau das ist, was sich vor unseren
Augen abspielt. Die Mainstream-Medien und Politiker benutzen rein Orwellsche
Methoden, seinen bekannten ›newspeak‹. Sie versuchen uns einzureden, dass
sie sich in die Ukraine einmischen, mit dem Versuch, dort die Freiheit und die
Demokratie zu retten. Es ist nicht so. Um dort die Freiheit und Demokratie zu
retten, braucht es etwas anderes. Die Ukraine muss die Gelegenheit bekommen,
ihre eigenen Probleme ohne ausländische Interventionen - sowohl vom Westen als auch vom Osten - selbst zu lösen. Ich erwarte, dass mich jetzt
jemand an die russische Annexion der Krim erinnern wird - oder an die sowjetische Invasion der
Tschechoslowakei im August 1968 - um
dies mit dem, was vor einigen Wochen auf der Krim geschehen ist, zu vergleichen.
Ich bestehe darauf, dass die gewaltige politische Destabilisierung der Ukraine
kein wirklicher innenpolitischer Volksaufstand war, sondern eine
importierte Revolution, die nicht von Russland ausging. Ihre
Organisatoren hatten andere Pläne und Ambitionen, als Freiheit und Demokratie
in der Ukraine einzuführen: Sie wollten eine Konfrontation mit Russland
herbeiführen. Die Orwellsche Verwechslung von Ursachen und Konsequenzen ist
auch hier vorhanden. In der zweiten öffentlichen Stellungnahme meines
Institutes zu diesem Thema von Anfang März formulierten wir es folgendermassen:
»Die Abfolge von Ursachen und Konsequenzen ist evident – zuerst waren die
Ereignisse auf dem Kiewer Maidan und dann die auf der Krim. Wir dürfen nicht am
Ende beginnen.«
Eine neue Ära der steigenden Spannung in Europa und der
ganzen Welt künstlich zu schaffen, den internationalen Status quo zu
destabilisieren und rhetorisch zurück zum Kaltem Krieg zu wechseln, ist eine
gefährliche Methode, um das öffentliche Interesse von offensichtlichen
Misserfolgen des europäischen Integrationsprozesses, vom Euro, von den
unhaltbaren Schulden abzulenken und auf die für die normalen Menschen schwer
verständlichen geopolitischen Manöver zu lenken. Die Opfer dieser Ambitionen
sind die Ukraine und die Menschen, die dort leben. Sie brauchen diese
Entwicklung nicht, und sie haben sie auch nicht verdient, auch wenn die Verantwortung
bei den ukrainischen Politikern liegt, die für das Nichtlösen der
langandauernden ukrainischen Probleme verantwortlich sind. Nach mehr als zwei
Jahrzehnten nach Beendigung des Kommunismus ist dies unverzeihlich. Die Ukraine
hat die notwendige politische und ökonomische Transformation nicht gemacht. Weitere
Opfer heutiger Ereignisse sind die europäischen Demokraten, das heisst wir
alle. Die Atmosphäre der Konfrontation, von Gefahr und Angst, wird schnell
verwendet, um europäische Unifizierungsprozesse zu beschleunigen, um das
Schaffen eines zentralisierten europäischen Super-Staates mit begrenzten bürgerlichen Rechten
zu bilden. Das Opfer wird die Demokratie in Europa sein.
Die heutige Atmosphäre wird uns näher zur ›Brave New World‹ bringen, wie sie von Aldous Huxley schon
vor 80 Jahren hervorragend beschrieben wurde. Wir Tschechen haben eine Form der
›Brave New World‹, nämlich den Kommunismus, vor 25 Jahre
beseitigt, und wissen einiges darüber. Wir sind nicht naiv und haben nicht
erwartet, dass unser Beitritt zur EU dem Beitreten ins Paradies gleich sein
wird. Die Realität ist aber schlimmer, als wir erwartet haben. Wir
haben gewusst, zumindest einige von uns haben es gewusst, dass uns der Beitritt
zur EU neue Probleme bringen wird. Wir wollten eine wirklich freie, liberale
Gesellschaft haben, aber der Beitritt zur EU hat für uns nach unserer radikalen
Liberalisierungsphase in den 90er Jahren eine unerwartete Wende gebracht: Von der
Deregulierung zur wachsenden Regulation, von der Beseitigung der Subventionen
zu ihrer Neueinführung, vom Rückzug des Staates aus der Wirtschaft zur
wachsenden staatlichen Einmischung, von der Verstärkung der Selbstverantwortung
der Einzelpersonen zu deren wachsender Abhängigkeit vom Staat und seinen
sozialen Systemen. Wir haben Angst, dass die ukrainische Krise benutzt wird, um
diese Entwicklung noch zu beschleunigen.
Quelle: http://www.klaus.cz/clanky/3563 http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1801 Zeit-Fragen
2014 Nr. 11 vom 20.5.2014 Václav Klaus hielt die obige Rede am 25. 4. 2014; alle
Hervorhebungen durch politonline
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