»Vom Großen Krieg zur permanenten Krise« 09.03.2015 00:39
Die nachfolgenden Ausführungen über den Aufstieg der Finanzaristokratie und das Versagen der Demokratie
sind
dem Buch von Marc Chesney, Professor für ›Quantitative
Finance‹ an der Universität Zürich und Autor verschiedener Artikel über die
Gefahren, die mit der Größe und Komplexität der Finanzsphäre verbunden sind,
entnommen. Chesney zieht Parallelen zwischen dem Kriegsjahr 1914 und
heute. Der Zürcher Finanzprofessor zeigt auf, was bei Banken falsch läuft und
wie alle Schweizer von einer Finanzsteuer profitieren würden.
Die
wenigsten von uns machen sich das Ausmaß und den Prozeß hinter den
molochartigen Strukturen der Finanzgesetze klar. In einem Interview mit der
Schweizer ›Handelszeitung‹ mahnte der Zürcher Finanzprofessor
Marc Chesney folgendes an: »Zwar gibt es keinen Krieg
im Kern Europas zwischen Deutschland und Frankreich. Aber wir haben eine
Weltkrise, die entgegen der Beteuerungen der Politik nicht vorbei ist. Weltweit
sind Millionen mehr Menschen arbeitslos als kurz vor der Finanzkrise. Ein
großer Teil der Bevölkerung leidet unter einem Krieg anderer Art - einem
Finanzkrieg.« Chesneys Buch ist nicht nur deswegen ein Wachrüttler, weil es das
Heute mit 1914 vergleicht, sondern weil es außerdem die nutzlosen riesigen
Auswüchse des heutigen Finanzapparates und dessen entartete Absurdität erklärt:
»Im Jahre 1914 wurden die jungen europäischen Generationen
auf dem Altar der Nation geopfert. Heute, hundert Jahre später, werden sie dies
auf internationaler Ebene, auf demjenigen der Finanzmärkte. Die aktuelle Krise
ist nicht nur finanzieller Art. Heute, da im Finanzsektor Zynismus und
Sozialisierung der Verluste oft Vorrang gegenüber Vertrauen und Verantwortung
als Motor der Gewinne haben, ist die Finanzkrise das Symptom einer anderen,
tieferen Krise, derjenigen der Werte unserer Gesellschaft. Tatsächlich sind
mächtige Lobbys am Werk und zwingen Wirtschaft und Gesellschaft ihre
gefährliche Logik auf.«
Damals wie heute sehen wir eine gebildete und zivilisierte
Gesellschaft, wie z.B. in Frankreich und Deutschland in ihrer Blütezeit um die
Jahrhundertwende, beide christlich geprägt und mit hohen Grundprinzipien auf
der Basis der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, die in Art. 12 sagt: »Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine
Wohnung oder seinen Schriftverkehr ausgesetzt werden.« Dennoch begannen diese Länder damals einen verheerenden Krieg mit
den Massenvernichtungswaffen, die ihnen zur Verfügung standen. Heute werden
nicht nur die demokratischen Grundprinzipien mit Füßen getreten, wie das von
Edward Snowden aufgedeckte PRISM-System zeigt, sondern der Absturz des Systems ist
in vollem Gange: »Erinnert die gegenwärtige Situation so nicht
eher an den Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts, als die westliche Zivilisation
von ihrer Vormachtstellung gegenüber dem Rest der Welt so lange überzeugt war,
bis der Erste Weltkrieg ausbrach?« Die riesigen
Verluste auf den Finanzmärkten beim Zerplatzen der verschiedenen Blasen der
letzten Jahre sind bereits auf die Schultern der Bevölkerungen abgewälzt
worden. Arbeitslosigkeit, vor allem bei Jugendlichen, hohe persönliche
Verschuldung, werden zu Dauerthemen. Depressionen und Alkohohlabhängigkeit sind
insgesamt Begleiterscheinungen von Not und Verzweiflung. Die heutige Generation
wird von den Medien, die zumeist Belangloses als wichtig darstellen und
wichtige Themen, wenn überhaupt, in belangloser Form abhandeln, abgestumpft. Da
ihnen die Orientierung fehlt, um zu erkennen, worum es wirklich geht, erscheint
ihnen die Zukunft allzu oft undurchschaubar und somit beunruhigend. Im übrigen
zeigen die Statistiken schon lange nicht mehr alle Arbeitslosen: Südeuropa und
besonders Griechenland sind ausgeblutet, nachdem ihnen rigorose Sparprogramme
auferlegt wurden. In Spanien und in Griechenland, wo ein Drittel der
Bevölkerung 2012 unter der Armutsgrenze lebte, betrug die
Jugendarbeitslosigkeit für das Jahr 2013 über 50 %; in Deutschland, das noch
immer als eine angeblich vorbildliche Wirtschaft dargestellt wird, leben
mittlerweile 12 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. In Frankreich
sind es ungefähr 8,7 Millionen, in Italien 12 %, also ca. 7,1 Millionen.
Auch nach 2007 wurde das Finanzsystem durch die Behauptung des ›too big to fail‹ auf Kosten der
Steuerzahler, die Opfer auf dem Altar der Kasino-Finanzwelt, gerettet. Gestern
wie heute, so Chesney, sind alle Opfer erlaubt, um die mächtigen Banken gegen
ihre selbstverschuldeten Risiken abzusichern, sogar die Preisgabe der Demokratie.
Dadurch ist der gleiche Geist der Zerstörung in unser Denken eingezogen, wie
man an Äußerungen von damals und heute sehen kann. Heute wird alles verwettet.
Hinter den massiven Verlusten stecken die Existenzen von Menschen, oft von
ganzen Städten und Dörfern. Auch wenn Regulierungen vielleicht oft sogar
ehrlich gemeint sind, sie greifen nicht mehr. Vielfach wird aber auch, so
Chesney, nur so getan, als wolle man etwas ändern. Durch geschickte Tricks
lavieren sich die Banken um Regelungen herum, wie zum Beispiel die Erhöhung des
Eigenkapitals, man lagert viele der Arbitragegeschäfte einfach in sogenannte
Betriebsunternehmen der Bank aus. Tatsächlich ist der Finanzbereich immer
größer geworden; und heute reichen »sechs
Transaktionstage auf den Devisenmärkten, um den gesamten internationalen Güter-
und Dienstleistungsverkehr eines Jahres abzuwickeln.«
Als Insider ist sich Prof. Cheney sicher: Wir müssen und können
aus dem Absturz heraus, da dieser sonst die gesamte reale Wirtschaft mitsamt
ihrer Bevölkerung verschlingt; er muß und kann besiegt werden. Cheney zeigt in
seinem Buch Lösungen auf, die sofort durchführbar wären, obwohl die meisten
Politiker das Gegenteil behaupten: »Zwei
Grundprinzipien braucht es, um gegen die Krise und das Krebsgeschwür, das die
Gesellschaft zerfrißt, anzugehen: Erstens gilt es, die Demokratie
wiederzubeleben und aus ihrer Betäubung zu holen, zweitens ist die Finanzsphäre
wieder in den Dienst an Wirtschaft und Gesellschaft zu stellen.« Zu den weiteren wichtigen Maßnahmen, mit denen dies zu erreichen
ist, zählt - neben der starken Einschränkung
der Bankenverschuldung und der Beschränkung der Größe der Banken - vor allem die Trennung der Investmentbanken
von den Geschäftsbanken, wie dies durch den Glass-Steagall Act von 1933 bis
1999 in den USA der Fall war, als entscheidender Schritt. »Eine solche Trennung schützt die Kunden von Geschäftsbanken, da die
Investmentbanken ihre Ersparnisse nicht länger zu Kasino-Spekulationen
heranziehen können, ein Faktor, der für ökonomische Stabilität sorgt.«
Des weiteren müssen Finanzprodukte »vor ihrer Markteinführung zertifiziert werden, damit sie bestimmte
Normen einhalten, wie dies auch in anderen Branchen der Fall ist.« Des weiteren sollte der Verkauf toxischer Produkte ein Finanzdelikt
darstellen. Verbriefungspraktiken, schreibt Cheney, sollten verboten werden und
die Aktivitäten von spekulativen Fonds sollten stark reguliert und kontrolliert
werden. Ebenso sollten ›Over the
Counter-Transaktionen‹ reglementiert werden. Als
ganz wichtigen Schritt bezeichnet er eine einzuführende Steuer auf sämtliche
elektronische Zahlungen. »Ein Steuersatz
von 0,1 %«, so Cheney, »wäre im Vergleich zur Mehrwertsteuer sehr niedrig, aber dennoch
sicherlich zu hoch für die Lobbyisten des Finanzsektors!«
Siehe
hierzu Europas
hoffnungsloser Kampf gegen die Spekulanten - Von Wolfgang Effenberger
Quelle
- auszugsweise: Neue
Solidarität Nr. 7 vom 1. Februar 2015 resp. http://www.handelszeitung.ch/konjunktur/die-bevoelkerung-leidet-unter-einem-finanzkrieg-646813 »Die Bevölkerung leidet unter einem
Finanzkrieg«
Marc
Chesney »Vom
Großen Krieg zur permanenten Krise«, Versus Verlag ISBN
978-3-03909-171-3 Fr. 19,90
Prof. Chesney ist Mitglied von Finance Watch www.financewatch.org und Kontrapunkt www.rat-kontrapunkt.ch, war Research
Fellow am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (Collegium Helveticum www.zrwp.ch
und ist heute Mitglied in dessen Trägerversammlung.
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