Der Mythos vom Freihandel - Von Reinhard Koradi 30.03.2015 00:54
Handelsvereinbarungen zwischen zwei oder auch mehreren Staaten sind nicht von vornherein schlecht,
vor allem dann nicht, solange das Prinzip der Gleichwertigkeit respektiert wird und alle Vertragspartner in gleichem Ausmass aus den Verträgen Nutzen ziehen. Oder anders gesagt: Freihandelsabkommen stossen dort an ihre Grenzen, wo sie die Freiheit der Bündnispartner verletzen. Die Unsitte, die Abkommen hinter verschlossenen Türen auszuhandeln, veranlasst allerdings zu einigen kritischen Fragen.
Wieviel Freiheit bringt der Freihandel? Mit dem Begriff Freihandel werden Erwartungen nach mehr Freiheit
geweckt. Gehen wir der Frage nach, wieviel zusätzliche Freiheit durch den
Freihandel wirklich geschaffen wird, dann breitet sich Ernüchterung aus. Schon
allein die Prozesse, die zu Freihandelsverträgen führen, decken den Verlust an
Freiheit für die schwächeren Verhandlungspartner schonungslos auf. Motivation
für den Abschluss von Freihandelsverträgen ist oft das Bedürfnis oder auch der
Zwang, neue Absatzmärkte zu erobern. Die übersättigten Heimmärkte in den ›reifen‹ Industrieländern können die durch die Wachstumshysterie
angetriebene Überproduktion nicht mehr auffangen. Es muss ein Ventil gefunden
werden, das die Überschussmengen absorbiert, sonst folgt ein Preiszerfall mit
drastischen Gewinneinbrüchen. Der Fluchtweg für die durch die aktuelle
Geldpolitik angeheizte Wachstumsspirale liegt in der geographischen
Markterweiterung. Freihandelsverträge oder die Bildung von Wirtschaftsunionen
sind dann auch gängige Strategien, um die ungebremste Wachstumspolitik und die damit
verbundene Wirtschaftsdiktatur über die Landesgrenzen hinweg
umzusetzen. Der uneingeschränkte Zugang zu neuen Märkten eröffnet zudem
vielversprechende Spekulationsperspektiven und ein willkommenes Auffangbecken
für die durch die bedenkliche Schuldenwirtschaft ansteigende Euro- und
Dollar-Milliardenflut. Zusätzlichen Aufwind erhält die risikoreiche
Casinowirtschaft durch die im Euro-Raum von oben diktierte Staatsgarantie.
Über Freihandelsabkommen lassen sich auch neue Märke für Grossinvestoren
erschliessen. Zurzeit gerade aktuell die Öffnung der Agrarland-Märkte für
ausländische Grossinvestoren und reiche Industriestaaten in Osteuropa, aber
auch in Afrika und in anderen Weltregionen. Die kapitalkräftigen Investoren
verdrängen die Kleinbauern von ihren Äckern. Neben attraktiven Renditen
profitieren die Grossgrundbesitzer in vielen Fällen zusätzlich von öffentlichen
Fördergeldern. Hunger gegen Spekulationsgewinne, eine Zeiterscheinung, die
gerade durch die EU-Förderung der Bio-Energie einen geradezu grotesken Umgang
mit wertvollem Kulturland vorantreibt.
Die Staaten verlieren die Freiheit, ihre Volkswirtschaften auf die
Bedürfnisse der Bevölkerung abzustimmen Ungeachtet der meist sehr unterschiedlichen geographischen,
klimatischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
werden Harmonisierung, Deregulierung und Liberalisierung flächendeckend
vorangetrieben, getreu dem Prinzip, die Macht gehört dem Stärkeren. Hinter
dieser Offensive für eine neoliberale Wirtschaftsordnung steckt vielfach ein
erfolgreiches Lobbying der Interessenvertreter aus den Finanzhochburgen und
transnationalen Konzernzentralen. Die Bildung der verschiedenen
Wirtschaftsräume wie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft [EWG, die später
zur politischen Union EU erweitert wurde] oder die Nordamerikanische
Freihandelszone, die durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen [NAFTA]
zwischen der USA, Kanada und Mexiko begründet wurde, sind entsprechende
Beispiele. Kernpunkt der Freihandelsabkommen ist der ungehinderte Marktzugang.
Das bedeutet, dass Zölle abgebaut respektive abgeschafft werden müssen, und allfällige
unterschiedliche Produktions-, Qualitäts- und Sicherheitsvorschriften [nicht-tarifäre
Handelshemmnisse] entweder abgeschafft, gegenseitig angeglichen oder anerkannt
werden müssen. Sowohl Zölle wie auch die nicht-tarifären Handelshemmnisse haben
aus nationaler Sicht durchaus ihre Berechtigung. Zölle können sinnvollerweise
die unterschiedlichen Produktionskosten wegen abweichenden Produktions- und
Qualitätsstandards oder allfällige preiswettbewerbliche Unterschiede [Dumping
durch Exportsubventionen] ausgleichen. [1]
Nichttarifäre Verordnungen dienen dem
Schutz der nationalen, regionalen und lokalen Wirtschaft und sind vor allem für
junge Volkswirtschaften, also weniger entwickelte und aufstrebende Länder, von
existentieller Bedeutung. Es gibt aber auch in den Industrieländern [meist
kleinere Volkswirtschaften] aus staats-, wirtschafts-, versorgungs-,
beschäftigungs-, sozial-, und sicherheitspolitischen Überlegungen gute Gründe, um
an den Landesgrenzen Schutzmassnahmen
anzuordnen. Die administrativen Handelshemmnisse stehen vielfach in einem
direkten Zusammenhang mit der Produktesicherheit, dem Konsumentenschutz, der
Gesundheitspolitik sowie dem Schutz von Tieren und Pflanzen im
eigenen Land. Sie sind Teil eines umfassenden Präventionskonzeptes.
Mit den gängigen Freihandelsabkommen verlieren die Vertragsländer ihre
Freiheit, die im nationalen Interesse als notwendig erkannten Schutzmassnahmen
in Kraft zu setzen. Es liegt in der Natur von Freihandelsverträgen, die
Freiheit der betroffenen Vertragspartner zu verletzen. Der Nutzen eines
Freihandelsabkommens für ein unabhängiges Land hängt daher weniger vom
materiellen Wert des freien Güteraustausches, sondern viel mehr vom
zugestandenen Souveränitätsverlust und den damit verbundenen Folgen [materiellen
und immateriellen] für das Staatswesen und die Bevölkerung ab. Im
Zusammenhang mit den Freihandelsabkommen ist ein schleichender Transfer von
nationalstaatlichen Hoheitsrechten hin zu den marktmächtigen Finanz- und
Wirtschaftsoligarchen zu beobachten. Ein Rückblick auf das vor 15
Jahren diskutierte Multilaterale Investitionsabkommen [MAI] deckt diese Absicht
deutlich auf. Schon damals strebten die Grosskonzerne an, ihre Macht im
geheimen still und leise in ungeheuerlichem Ausmass zu zementieren. Nur auf
Grund hartnäckigen Widerstands aus der Öffentlichkeit und durch die Parlamente
scheiterte damals dieses Projekt, das den Konzernen einen gleichen Rechtsstatus
wie den Nationalstaaten einräumen sollte. So hätten
die Grosskonzerne Staaten unter anderem wegen entgangenen Gewinns einklagen
können.
Steuern wir einer ›Wirtschafts-Nato‹ entgegen? Aktuell liegen nun erneut transatlantische Freihandelsverträge auf dem
Tisch. So sollen eine transatlantische Freihandelszone - Transatlantic Free Trade Area, TAFTA, und
ein transatlantisches Handels- und Investitionsabkommen - Transatlantic Trade And Investment
Partnership, TTIP - zwischen der USA und
der EU ausgehandelt werden. »Das gesamte
TTIP-TAFTA-Projekt gleicht dem Monster aus einem Horrorfilm, das durch nichts
totzukriegen ist. Denn die Vorteile, die eine solche ‹Wirtschafts-Nato› den
Unternehmen bieten würde, wären bindend, dauerhaft und praktisch irreversibel,
weil jede einzelne Bestimmung nur mit Zustimmung sämtlicher
Unterzeichnerstaaten geändert werden kann.« [2] Da die global operierenden
US-Konzerne auch im pazifischen Raum ein ähnliches Abkommen anstreben
[Trans-Pacific-Partnership], steuert die Welt auf ein System zu, das die
Herrschaft der mächtigsten Kapitalgruppen über weite Teile unseres Planeten
installiert und auch juristisch absichert. Denn auch andere Staaten,
die keine Vertragspartner sind, müssten sich den Regeln beugen, wenn sie mit
der USA oder der EU Handel treiben.
Für die Souveränität unabhängiger Staaten explosiv sind auch die
aktuellen Verhandlungen über das TiSA-Abkommen [TiSA, Trade in Services
Agreement]. In diesem Abkommen geht es um die Liberalisierung von
Dienstleistungen. Die Schweiz ist seit Beginn der Verhandlungen aktiv mit
dabei. Die TiSA-Verhandlungen laufen unter strenger Geheimhaltung.
Rund fünfzig Länder sind involviert. Das Staatssekretariat für Wirtschaft
(Seco) verhandelt im Auftrag des Bundesrats – ohne Mandat des Parlaments!
Ziel des Abkommens ist, ein umfassendes Abkommen zum Dienstleistungshandel
abzuschliessen. Die Arbeiten stützen sich auf das GATS [General Agreement on
Trade in Services]. Die Teilnehmer haben sich anfangs 2013 unter anderem auf
den Ansatz einer ›hybriden‹ Verpflichtungsliste geeinigt, mittels
der die Verpflichtungen [Meistbegünstigung, Marktzugang, Inländerbehandlung]
positiv und negativ gemischt verpflichtend werden. Zudem haben sie sich auf
eine Bestimmung zu einer Sperrklinkenklausel [›ratchet‹] und einer Stillhalteklausel [›standstill‹] geeinigt.
Stillhalteklausel und Sperrklinkenklausel sollen wohl ähnlich wie die ›flankierenden Massnahmen‹ bei den bilateralen Verträgen mit der
EU berechtigte Kritik am geplanten Abkommen zum Verstummen bringen.
Wer das Licht der Öffentlichkeit scheut, hat etwas zu verbergen Sollte das TiSA-Abkommen erfolgreich zum Abschluss gebracht und
umgesetzt werden, sehen wir uns im Alltag mit enormen Auswirkungen
konfrontiert. Es geht um die Liberalisierung: Vor allem im Bereich der öffentlichen
Aufgaben. Durch die Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen soll die
Grundversorgung der Bevölkerung kommerzialisiert werden - Verkehr, Verwaltung,
Schule, Gesundheit, Sicherheit, Energie- und Wasserversorgung usw. Das
bedeutet: Der Staat tritt seine Aufgaben an private Unternehmen ab und
zwar infolge der Marktöffnung vor allem an transnationale Grosskonzerne. Die
Staaten konnten zu Beginn der Verhandlungen wohl eine Negativliste und Sperrklausel einreichen und
damit einzelne Bereiche von der Deregulierung ausschliessen; dennoch bleibt die
Grundausrichtung dieses Abkommens recht problematisch. Was einmal privatisiert ist, kann
nicht mehr verstaatlicht werden, und was bis zum Abschluss des Vertrags
nicht reglementiert war, kann auch im nachhinein nicht reglementiert werden.
Falls ein Land die Rückführung des
Service public in staatliche Hände beschliesst, können die betroffenen Konzerne
auf Schadenersatz klagen. Die Geheimhaltungsstrategie ist wohl
Beweis genug, dass hinter dem TiSA-Abkommen kaum gemeinwohlorientierte
Absichten stehen. Die Sorge ist berechtigt, dass uns das TiSA-Abkommen eine
Diktatur der Konzerne beschert und die Tür zu einem neuen Kolonialismus
öffnet – auch in westlichen und nördlichen Industrieländern.
Wo steht die Schweiz? Aufgrund verschiedener Vorstösse im Nationalrat müssen wir annehmen,
dass die Schweiz einmal mehr bereit ist, ihre Souveränität gegen vermeintliche
Vorteile durch den Freihandel auf den Verhandlungstisch zu legen. Neben einer
Motion der Grünen Fraktion ›Der
Service public ist nicht verhandelbar‹,
die
der Bundesrat ablehnte, gibt es auch die ›Interpellation Trede‹ (14.4295)
vom 12. Dezember 2014. Diese verlangt die Darstellung der inhaltlichen
Unterschiede zwischen GATS-Offerte und TiSA-Offerte.
Der Wortlaut der Interpellation vom 12. 12. 2014: »Der Bundesrat wird gebeten,
darzulegen, welche inhaltlichen Unterschiede zwischen der GATS-Offerte und der
TiSA-Offerte bestehen, insbesondere hinsichtlich der Auswirkungen der Änderung der
Verhandlungsspielregeln für die Öffnung von Bereichen des Service public.
Begründung: Das TiSA ist ein Freihandelsabkommen, das nicht unter dem
Dach der WTO, sondern in einer Gruppe von ›really
good friends‹ im geheimen in der
australischen Botschaft in Genf verhandelt wird, obwohl der Bundesrat dazu kein
ausreichendes Mandat hat.«
Antwort des Bundesrates: »Die Schweiz führt die
TiSA-Verhandlungen gestützt auf das Doha-Mandat. Die TiSA-Verhandlungen sind
aus den Doha-Verhandlungen hervorgegangen und streben die Rückführung des
Verhandlungsergebnisses in die WTO an. Da die TiSA-Verhandlungen denselben
Gegenstand und dasselbe Verhandlungsziel wie der Dienstleistungsteil der
Doha-Verhandlung haben, stellt das Doha-Mandat des Bundesrats eine ausreichende
und zielführende Grundlage für die Teilnahme der Schweiz an den
TiSA-Verhandlungen dar. […] Die Spielregeln des TiSA-Prozesses unterscheiden
sich nicht grundsätzlich von jenen des GATS. Beide Verhandlungsansätze sehen
vor, dass der Deckungsbereich und das Ausmass der Verpflichtungen der Parteien
betreffend Marktzugang und Inländerbehandlung in ihren nationalen Listen
festgelegt werden. Die Parteien bestimmen damit selbst, welche Verpflichtungen
sie einzugehen bereit sind. Wie das GATS enthält auch das TiSA die dazu nötige
Flexibilität. […]. So legen die einzelnen Parteien - wie im GATS - in ihrer Verpflichtungsliste fest, für welche
Sektoren und in welchem Ausmass sie Marktzugang und Inländerbehandlung
gewähren, auch bezüglich Stillhalte- und Sperrklinkenklausel, für die im TiSA
ebenfalls nationale Vorbehalte möglich sind. […] So hat die Schweiz ihre
TiSA-Offerte auf Verpflichtungen beschränkt, die jenen der Doha-Offerte
beziehungsweise bisher abgeschlossenen Freihandelsabkommen entsprechen. Das
heisst, die Rechtslage betreffend Service public ist in der Schweizer
TiSA-Offerte gleich wie in der Doha-Offerte oder in den Freihandelsabkommen
vorbehalten. Dazu gehören unter anderem Bereiche wie das öffentliche Bildungs-
und Gesundheitswesen, die Energieversorgung [unter anderem Elektrizität], der
öffentliche Verkehr und die Post. Ein materieller Unterschied zur
GATS/Doha-Offerte oder zu bestehenden Freihandelsabkommen besteht somit
nicht.»
Die bundesrätliche Stellungnahme zur Motion der Grünen und zur
Interpellation Trede deckt einen sehr grosszügigen Umgang mit
Freihandelsabkommen unserer Exekutive auf. Das ist nicht ungefährlich. Denken
wir nur an die zahlreichen offenen Dossiers. Neben den Verhandlungen über einen
allfälligen Rahmenvertrag mit der EU und die oben erwähnten transnationalen
Abkommen liegen auch verschiedene inlandbezogene Themen in Bundesbern auf dem
Tisch, die in einem sehr engen Zusammenhang zum Freihandel stehen. Erwähnt sei
die Agrarpolitik mit dem Fokus auf die ›Ernährungssouveränität‹ oder die Bildungs-, Gesundheits-,
Strommarkt- und Sicherheitspolitik. Auf Grund der bisherigen Erfahrungen ist
nicht auszuschliessen, dass die Bundesverwaltung und der Bundesrat
Lösungsvorschläge entwickeln werden, die sich weniger auf Eigenverantwortung
und Eigenleistung im Inland stützen, sondern sich primär am freien Zugang zu
den deregulierten, internationalen Märkten orientiert.
Freihandel statt Eigenleistung Illustriert werden soll dies am Beispiel des Gegenvorschlags des
Bundesrats zur Volksinitiative ›Ernährungssicherheit‹ des Schweizerischen Bauernverbands. Die
am 8. Juli 2014 mit 147?812 gültigen
Unterschriften eingereichte Volksinitiative fordert die Versorgung der
Bevölkerung mit Lebensmitteln aus vielfältiger und nachhaltiger einheimischer
Produktion. Unter anderem soll das Kulturland erhalten bleiben und der
administrative Aufwand der Bauern gesenkt werden. Den Bauern ist eine
umfassende Investitionssicherheit zu gewährleisten. Den Initianten geht es
eindeutig um die Verbesserung der Ernährungssicherheit für die Bevölkerung
durch eine gesicherte Inlandproduktion und damit um Rahmenbedingungen, die
allen produzierenden Landwirten in der Schweiz eine reelle Zukunftsperspektive
geben und die Gewährleistung der Ernährungssicherheit erleichtern. Der
Gegenvorschlag des Bundesrats setzt jedoch auf ›Freihandel‹. Er will
die Ernährungssicherheit über den Zugang
zu internationalen Agrarmärkten und durch eine wettbewerbsfähige Land- und
Ernährungswirtschaft erreichen. Mit dem Gegenvorschlag wird die Initiative um
180 Grad gekehrt. Die Ernährungssicherheit in der Schweiz soll nach dem Willen
des Bundesrats nicht durch die Inlandproduktion der einheimischen Bauern,
sondern über den Freihandel respektive den Zugang zu den internationalen
Agrarmärkten gewährleistet werden. Es wird dann auch noch von
wettbewerbsfähigen Betrieben in der Schweiz gesprochen. Wettbewerbsfähigkeit bedeutet, dass die
landwirtschaftlichen Unternehmen ihren wirtschaftlichen Erfolg durch
Eigenleistung sichern müssen. Ob das bereits ein Signal des Bundesrats und der
Administration ist, die Vielfalt der einheimischen Landwirtschaft durch
weltmarktfähige industrielle Landwirtschaftskolosse einzutauschen?
Eine Schönwetterpolitik mit erheblichem Gefahrenpotential Das durch die ›AP 2014–2017‹ willentlich vorangetriebene
Bauernsterben führt auf Bundesebene offensichtlich auch unter dem Blickwinkel
der Landesversorgung und der Ernährungssicherheit nicht zu einem Umdenken.
Die Absicht, die Ernährungssicherheit durch den Zugang zu den internationalen
Agrarmärkten zu gewährleisten, versteht man nur, wenn man unseren Behörden
unterstellt, die aktuelle Lagebeurteilung durch eine rosa Brille vorzunehmen.
Die Idee, die Landesversorgung mit Lebensmitteln an das Ausland zu delegieren,
entsteht wohl nur aus der fehlenden Zuversicht, die Herausforderungen unserer
Zeit eigenständig meistern zu können, und dem Trugschluss, dass die Schweiz nur
von ›wirklich guten Freunden‹ eingekreist ist. Stimmt das wirklich:
Stehen wir nicht mitten in einem ›Wirtschaftskrieg‹? Wie immer die Antwort auf diese
Fragen lautet: Wir müssen unsere Eigeninteressen und die Unabhängigkeit unseres
Landes schützen und wenn notwendig auch verteidigen. Ein kleiner Rückblick auf
Ende des 19. Jahrhunderts öffnet vielleicht die Augen. Auch damals hatte sich
die schweizerische Landwirtschaft auf die Bedürfnisse des Weltmarktes
ausgerichtet. Es kam zu einer starken Ausrichtung der landwirtschaftlichen
Produktion auf die Milch- und die exportorientierte Käseproduktion. Dadurch war
die Schweiz zunehmend auf Futtermittel- und Getreideimporte aus dem Ausland
angewiesen. Aus dem ›gelben‹ ackerbautreibenden Land wurde am Ende
des 19. Jahrhunderts eine ›grüne‹ Schweiz. Durch den I. Weltkrieg wurde
aber das internationale Handelssystem gestört. Für die Schweiz stellte sich das
Problem der Versorgung mit Brotgetreide und Mehl. Seit der Jahrhundertwende
waren Australien, Argentinien, Russland, Kanada und die USA die Hauptexporteure
für Getreide. Für die Schweiz war die USA bereits vor dem Krieg das
Hauptbezugsland von Weizen; während des I. Weltkriegs kamen sogar bis zu 99 % der
Weizenzufuhr aus den Vereinigten Staaten. Die weltweiten Missernten 1916 und
1917 führten dann zu einer Verknappung und stark steigenden Getreidepreisen.
Daher mussten am 1. Oktober 1917 Brot und Mehl rationiert werden. [3] Armut und
Hunger plagten damals die Menschen in der Schweiz und trieben Menschen in ihrer
Not zu Gewaltausschreitungen. Wer garantiert, dass sich dies nicht wiederholen
kann?
Die direkte Demokratie als Chance Es gibt immer wieder Zeiten, in denen die Stimmberechtigten in unserem
Land ihre direktdemokratischen Rechte und Pflichten nutzen und die Geschicke
unseres Landes in die eigenen Hände nehmen müssen. Es braucht nun
unmissverständliche Signale, dass die Schweizer Bürger ihre Unabhängigkeit
bewahren wollen. Dass sie nicht bereit sind, die Versorgung
mit Lebensmitteln, aber auch alle anderen Bereiche der Grundversorgung durch
die Einbindung in transnationale Abkommen oder Organisationen an das Ausland
oder an transnationale Konzerne zu delegieren. Was vor 15 Jahren mit dem
MAI-Abkommen geschehen ist, kann auch heute wieder passieren. Durch den
Widerstand der Menschen und in den nationalen Parlamenten kam das Abkommen zu
Fall. Leisten wir auch heute diesen Widerstand und bestehen wir auf unserem
Selbstbestimmungsrecht und damit auf der Offenlegung der verschiedenen
Verhandlungsdossiers.
TTIP, TiSA und TAFTA sind neoliberale Konstrukte, die in keiner
Weise mit den europäischen Kulturen und unserem Selbstverständnis zu
vereinbaren sind. Sie sind demokratie-feindliche Projekte, die die
Bürger entmündigen und den Nationalstaat demontieren. Die von der
Finanzaristokratie und den neuen Eliten dem Staat und seinen Bürgern
zugeordnete Rolle, höchstens noch als Lückenbüsser bei milliardenschweren
Ertragsausfällen einzuspringen, bedarf einer gründlichen Korrektur. Die
Schweizer Stimmbürger können die notwendigen Korrekturen durch Volksinitiativen
oder Referenden fordern. Dazu kommt, dass wir im Herbst 2015 Ständerat und
Nationalrat bei den eidgenössischen Wahlen neu bestellen. Das sind wichtige
Chancen, eine politische Weichenstellung für die Unabhängigkeit unseres Landes
vorzunehmen. Die Kandidaten, die uns in der nächsten Legislaturperiode
vertreten wollen, sind gut beraten, wenn sie sich nicht hinter der
Geheimhaltung verstecken, sondern ihre politische Gesinnung und Einstellung
offenlegen. Versteckte Agenden haben in einer direkten Demokratie keinen Platz.
Quelle: http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=2080
Zeit-Fragen 2015 Nr. 8, 17. März 2015 Der Mythos vom Freihandel -
Von Reinhard Koradi
[1] In der Schweiz sind
beispielsweise die Produktionskosten wegen der ökologischen Produktionsauflagen
und einem generell höheren Kostenniveau wesentlich höher.
[2] Quelle: Le Monde diplomatique vom 8. 11. 2013
[3] http://schule.schutthalde.ch/landesstreik/versorgungskrise.html
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