Unter dem Eindruck der Flüchtlingstragödie wird eine weitere Öffnung der Grenzen gefordert. Falsch. Wir müssen den Todeskanal im Mittelmeer abriegeln. So retten wir Leben und handeln ethisch - Von Roger Köppel 26.04.2015 21:58
Letzte Woche starben im Mittelmeer wieder über tausend Flüchtlinge.
Die Migrationsströme reissen nicht ab. Sie schwellen an. Afrika hat über eine Milliarde Einwohner, in Europa leben 733 Millionen Menschen. Der demografische Überdruck im Süden bricht sich gegen den wohlhabenden Norden Bahn. Im Jahr 2050, schätzt die UNO, werden 2 Milliarden überwiegend junge Afrikaner rund 691 Millionen alternden Europäern gegenüberstehen. Die Antwort unserer Politiker lautet, dass wir immer noch mehr Flüchtlinge aufnehmen sollen. Das freundliche Angebot wird die Nachfrage weiter verstärken.
Offen wie ein Scheunentor Die europäische Südgrenze ist offen wie ein Scheunentor. Die Festung
Europa gibt es nicht. Im letzten Jahr landeten 220 000 illegale Migranten an der italienischen
Küste an. In diesem Jahr rechnet allein Deutschland mit einer Verdoppelung der
Asylgesuche auf 500 000. Niemand fühlt sich für
den verfassungsmässig verankerten Schutz der Aussengrenzen verantwortlich. Die
Italiener wissen, dass die illegalen Migranten lieber in den reichen
Norden ziehen und stecken sie in Züge, ohne sie zu registrieren. »Die Flüchtlinge verschwinden eben«, erklärte uns kürzlich ein Römer Diplomat charmant
und gestenreich. Im Grunde ist es allen klar, aber niemand traut sich, es zu
sagen: Was sich hier abspielt, ist ein grossräumig angelegter Missbrauch
unseres Asylrechts durch illegale Wirtschaftsflüchtlinge. Es ist ein
behördlich geduldeter Rechtsbruch im grossen Stil. Das Dubliner Flüchtlingsabkommen
funktioniert nicht. In einem Europa der offenen Grenzen haben die überlasteten
Italiener keinen Anreiz, die bürokratischen Vorgaben aus Brüssel umzusetzen.
Ohnehin ist es eine Illusion, bei Hunderttausenden von hereinströmenden
Migranten ordentliche Asylverfahren einzuleiten.
Junge Schwarze Die Absurdität zeigt sich bereits in den Bildern und Statistiken. Die
Medien berichten von ›Kriegsflüchtlingen
aus Syrien‹. Auf den Fernsehschirmen
sehen wir hingegen Schiffe voller junger Schwarzer. Von Politikern wird uns
eingeredet, man lasse nur Verfolgte aus dem Nahen Osten rein. Den aktuellen
Zahlen entnehmen wir, dass die am schnellsten wachsende Asylantengruppe in der
Schweiz die Kosovaren sind, in deren Heimat die Schweizer Armee und die
Bundeswehr auf Kosten unserer Steuerzahler doch angeblich für Ordnung sorgen.
Mitleidlos zeigt der Rechtsstaat seine Klauen gegen Verkehrssünder und
Steuerbetrüger. Wenn es darum geht, die Aussengrenzen gegen illegale
Einwanderer abzuriegeln, ist die Toleranz fast grenzenlos. Asyl verdienen
gemäss UNO-Definition nur Menschen, die unmittelbar an Leib und Leben bedroht
sind: Politisch durch den Staat Verfolgte. Selbst das liberale deutsche
Asylrecht schreibt fest, dass Bürgerkriegsflüchtlinge, Armutsmigranten und
Menschen in perspektivenloser Situation kein Anrecht auf Asyl geltend machen
können. Ein Asylrecht, das seinen eigenen Missbrauch toleriert, schafft sich
ab. Die Australier machen es richtig. Sie haben der illegalen Zuwanderung den
Kampf angesagt. In einem Demonstrationsvideo verkündet ein uniformierter
Offizier, dass man die gesetzeswidrige Migration nicht dulden werde. Alle
anlaufenden Schiffe werden von der Marine abgeblockt, auf Inseln abgeschoben,
zum Teil in Partnerländer, denen die Australier dafür Geld bezahlen. Das ist
nicht unmenschlich, sondern ein Gebot der Ethik: Wer dem moralischen Grössenwahn
erliegt, allen Armen Zuflucht zu gewähren, zerstört seine eigenen Lebensgrundlagen.
Asyl, einst und heute Unser modernes Asylrecht ist ein Produkt des Zweiten Weltkriegs. Es
wurde nach den von Deutschen, Russen, Chinesen und Türken verübten Völkermorden
des letzten Jahrhunderts für einzelne spezifisch Verfolgte geschaffen. Es wurde
nicht als Einfallsschleuse für Menschenmassen gebaut, die dem wirtschaftlichen
und politischen Elend ihrer Heimatländer aus verständlichen, aber eben nicht
legalen Gründen entfliehen wollen. Unter dem Rechtstitel des Asyls werden bald
Millionen in Richtung Norden marschieren, wenn wir nicht die Kraft aufbringen,
unsere Rechtsordnungen endlich durchzusetzen. Jeder Flüchtling, der es nach
Europa geschafft hat, ruft mit seinem Handy Kollegen und Verwandte an, die ihm
baldmöglichst folgen werden.
Was ist zu tun? Erstens: Man muss den Todeskanal übers Mittelmeer schliessen. Die
illegalen Zuwanderer sind sofort aufs afrikanische Festland zurückzuschaffen,
die Schlepperboote umgehend zu zerstören. Man muss den Leuten
unmissverständlich klarmachen, dass der Weg übers Mittelmeer die Investition
nicht lohnt und dass die Menschenhändler Märchen erzählen, wenn sie ihre Kunden
auf die Kähne locken. Niemand wird Tausende von Franken für eine aussichtslose
Überfahrt bezahlen. Mit dieser Massnahme hatten die Italiener Erfolg, als zu
Beginn der neunziger Jahre der ganze Staat Albanien nach dem Zusammenbruch des
Kommunismus auf Schiffen über die Adria strebte. Sie schickten die Schiffe
einfach zurück. Es gab damals allerdings noch kein Dubliner Flüchtlingsabkommen
und keine offenen Schengen-Grenzen. Die Italiener waren selber für ihr
Territorium verantwortlich. Heute herrscht die organisierte europäische
Verantwortungslosigkeit, dementsprechend gibt es an den Grenzen keine
Ordnung mehr.
Zweitens: Die Europäer, und damit sind die Schweizer mitgemeint, müssen die
humanitären Infrastrukturen - wo nötig
und sinnvoll - in den Krisenregionen
ausbauen. Mobile Anlagen eignen sich am besten. In den Lagern finden die
Verfolgten Schutz und Zuflucht. Sie können den Häschern, die es auf sie
abgesehen haben, entfliehen. Sie bleiben so in ihren Herkunftsregionen, in die
vertraute Kultur eingebettet. Sobald die Konflikte enden, können sie in ihre
Heimat zurückkehren, um beim Wiederaufbau zu helfen. Das hat zudem den Vorteil,
dass der Brain-Drain aus den ohnehin schon armen Staaten nicht noch
asylpolitisch verschärft wird. Der linksliberale britische Entwicklungsökonom
Paul Collier spricht sich entschieden dafür aus, die Dritte Welt nicht weiter ›auszubluten‹.
Drittens: Die Rettungslager sind im Umfeld der Konfliktherde zu bauen,
nicht etwa an der nordafrikanischen Grenze, wie dies jetzt auch von
Bundespräsidentin Sommaruga gefordert wird. Man muss alles daran setzen, dass
die echten Flüchtlinge in der Nähe ihrer Heimatstaaten geschützt werden und
dort bleiben. Flüchtlingslager in Nordafrika würden nur weitere illegale Migranten
aus Afrika anziehen und den Druck auf Europa konstant erhöhen.
Islam und Nächstenliebe Ziel muss sein: Rettung der wirklich Verfolgten vor Ort. Nicht
Migration: Schutz ist das Wesen des Asylgedankens. Es braucht keine
Flüchtlingstrecks über Tausende von Kilometern. Wenn die UNO in Zusammenarbeit
mit den Nachbarstaaten, den Regionalmächten
- und, wenn es sein muss, auch mit dem Westen - in den Krisenzonen die humanitären
Infrastrukturen für die echt Verfolgten zur Verfügung stellt, in vielen Fällen
gibt es sie schon, dann ist das Ziel erreicht.
Gewiss: Es ist nicht verboten, dass sich die reichen Industriestaaten
weltweit humanitär engagieren. Neben dem Herz braucht Hilfe aber auch Verstand.
Nehmen wir den Syrienkrieg. Wieso mischt sich der Westen derart ein? Der
Libanon und Jordanien, das ist ehrenhaft, beherbergen Flüchtlinge. Aber was ist
mit den steinreichen Saudis, den fussballverrückten Katarern und dem
Multimilliarden-Emirat Oman? Sie rühren keinen Finger für ihre
Glaubensgenossen. Dabei hätten die saudischen Förderer des Fundamentalismus nun
endlich die Gelegenheit, der Welt zu zeigen, dass der Koran eine Religion der
Nächstenliebe formuliert und nicht nur Alibis für Terroristen.
Europa ist nicht schuld an allem Selbstverständlich darf der Westen helfen, aber er sollte die
Regionalmächte nicht von ihrer eigenen Verantwortung befreien. Seit Jahrzehnten
pumpen wir Milliarden in die Entwicklungshilfe. Trotzdem geht es den meisten
afrikanischen Staaten seit dem Ende der Kolonialzeit schlechter. Ghana,
Nigeria, und Burkina Faso hatten einst das höhere Pro-Kopf-Einkommen als China
oder Südkorea. Selbst der Kongo verfügte zur Zeit seiner Befreiung über eine
exportorientierte Landwirtschaft und einen konkurrenzfähigen Bergbau. Umgekehrt
waren einige der ärmsten Regionen der Welt nie westliche Kolonien: Afghanistan,
Tibet oder Liberia. Europa ist nicht schuld am wirtschaftlichen Elend in den
Flüchtlingsstaaten. Was eigentlich unternehmen die afrikanischen Regierungen,
um die tödliche Migration übers Mittelmeer zu stoppen?
Gute Absichten produzieren oft schlechte Ergebnisse. Der von Frankreichs
Ex-Präsident Sarkozy mit Feuereifer betriebene Sturz seines früheren Freundes
Gaddafi war ein grosser Fehler. Natürlich war Gaddafi ein übler Diktator, aber
zusammen mit Berlusconi hielt er das Mittelmeer wenigstens einigermassen von
Menschenhändlern frei. Nach dem Einsturz Nordafrikas stellen wir fest, dass es
im Süden Europas nur noch eine grosse offene Grenze gibt.
Die EU wird von ihrem aussenpolitischen Leichtsinn eingeholt. Nicht die
Schlepper, nicht die Flüchtlinge, die europäischen Regierungen sind an dem
Massensterben im Mittelmeer hauptsächlich schuld. Weil sie ihr Asylrecht nicht
umsetzen, senden sie lockende, mitunter tödliche Signale aus. Die europäische
Vollzugsmisere im Migrationsbereich produziert die Leichen im Mittelmeer, aber
sie belohnt eben auch Hunderttausende von illegalen Armutsmigranten, von
denen 80 bis 90 % lebenslang in den
europäischen Sozialsystemen landen.
Deshalb ist es nicht nur ein Gebot des Rechts, sondern auch der Ethik,
die Gesetze endlich umzusetzen und den Todeskanal im Mittelmeer für die
illegale Migration zu schliessen. Indem wir die Südgrenze abriegeln, retten wir
Leben.
http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2015-17/editorial-moralische-pflicht-die-weltwoche-ausgabe-172015.html Die Weltwoche, Ausgabe 17/2015 | Freitag, 24.
April 2015
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