Eritrea - Zur gegenwärtigen Lage des Landes 13.03.2016 20:40
Der Honorarkonsul Eritreas, Dr. Toni Locher, hat hierzu das nachfolgende
Interview mit ›faktuell.ch‹ geführt:
Herr Locher, ein Viertel der Asylgesuche in der
Schweiz im Jahr 2015 haben Eritreer gestellt. Eritrea gilt als eines der
ärmsten Länder der Welt. Wie haben sich die 10.000 Menschen ihre Reise ins
Zielland Schweiz finanziert?
Toni Locher: Die Migration aus Eritrea in die Schweiz
basiert auf Schuldenmachen. Die Jungen haben meistens kein Geld. Begüterte und
gut ausgebildete Eritreer gehen nach Angola, da lässt sich gutes Geld machen.
Gut ausgebildete Ärzte wählen den Südsudan, Ingenieure die Golfstaaten,
Südafrika, Kenia, Ruanda…..
f.ch: Hält sie ein zu geringer Verdienst davon ab, die
Schweiz zu wählen?
T. L.: Nein, aber ihre Ausbildung wird dort anerkannt
und in Dubai dürfte ein eritreischer Ingenieur wirklich viel mehr verdienen als
in der Schweiz. Zu uns kommen heute die weniger gut Ausgebildeten, die wenig
Geld haben. Sie verschulden sich auf der horrend teuren Reise durch die Hölle
von Libyen, und wenn sie in der Schweiz ankommen, sind sie bedürftig und leben
von der Sozialhilfe.
f.ch: Eine Gruppe von Politikern ist kürzlich privat
nach Eritrea gereist, um vor Ort herauszufinden, ob eritreische Asylbewerber
nach Hause geschickt werden könnten. Was hat die Politikerreise aus Ihrer Sicht
gebracht?
T.L: Es kann etwas Bewegung in die ›verhockte‹ Politik bringen. Das Staatssekretariat für Migration ist nämlich
noch völlig auf Abwehr fixiert. Da habe ich das Gefühl, ich sei im falschen
Film. In der EU ist die Flüchtlingskrise ein Dauerthema. Österreich macht wie auch
Schweden, das die Eritreer bisher grosszügig aufgenommen hat, die Grenzen zu,
und auch Deutschland wird kippen. Und was passiert? Die Eritreer werden im
Frühling wieder in grosser Zahl im Chiasso ankommen. Will man sie dann nach
Deutschland durchreichen?
f.ch: Gehen wir eine Etage höher: Justizministerin
Simonetta Sommaruga bezeichnet Eritrea als Willkür- und Unrechtsstaat.
Erschwert sie mit solchen Aussagen ein Rücknahme-Abkommen?
T.L.: Das ist diplomatisch nicht besonders geschickt.
Im Gespräch auf Augenhöhe könnte man die Migrationsproblematik im gegenseitigen
Interesse genauer ansehen. Es geht ja nicht um Flucht, sondern um eine
Arbeitsmigration aus Perspektivlosigkeit.
f.ch: Sollte die Schweiz von sich aus einer gewissen
Anzahl Eritreern anbieten, sich in der Schweiz niederlassen zu können….
T.L.: … vielleicht ein paar hundert, die in der
Schweiz eine Berufsausbildung machen können, warum nicht? Oder auch Studenten.
Eritrea schickt Stipendiaten in die Emirate, nach Südafrika und China. Für
diese Leute wäre ein Aufenthalt in der Schweiz auch sinnvoll, weil sie nicht in
der Sozialhilfe landen, sondern nach der Ausbildung vielleicht wieder
zurückgehen. Unser duales Berufsbildungssystem ist ausserdem der Exportschlager
par excellence. Für das, was Eritrea braucht an Ausbildung, wäre die Schweiz
optimal aufgestellt.
Die EU hat Ende 2015 200 Mio. € für Eritrea
budgetiert, die sie zum grossen Teil in Solarenergie investieren will, um die
schwierige Energiesituation in den Griff zu bekommen und zu vermeiden, dass die
Leute vom Land in die Stadt ziehen. Für den Unterhalt könnten wir landesweit
ein paar hundert Solar-Techniker ausbilden. Und: Velos sind das wichtigste
Verkehrsmittel in Eritrea. ›Velafrica‹ schickt im Auftrag des
Schweizerischen Unterstützungskomitees für Eritrea (SUKE) pro Jahr 2000 Velos
dorthin und wir könnten vor Ort Velo-Mechaniker ausbilden, die sie reparieren
können. Handwerker braucht das Land. Wir können sie schulen. Ein Gewinn für
beide Seiten.
f.ch: Hat sich Bundesrätin Sommaruga mit Ihnen
unterhalten?
T.L.: Nein, ich bin ja auch nicht ihr Berater. Im SEM
gibt es zu Eritrea durchaus Länderexperten. Die gehen im März nach Eritrea. Das
ist nicht schlecht. Eigenartig im
europäischen Umfeld ist allerdings, dass z.B. Deutschland, Finnland, Italien
und Norwegen Leute auf Stufe Minister oder Staatssekretär entsandt haben. Nur
die Schweiz, die das grösste Kontingent an Eritreern hat, will jetzt eine
niederrangige Beamtendelegation schicken. Das ist diplomatisch ungeschickt. Ebenso
ungeschickt ist es, wenn unsere Asylministerin Sommaruga Äthiopien als
Bundespräsidentin einen Staatsbesuch abstattet, sich dort mit militärischen
Ehren empfangen lässt und ein Gebiet im Osten besucht, das menschenrechtlich
höchst umstritten ist. Und Eritrea wird als Diktatur beschimpft. Weshalb ist es
nicht möglich, gelassen eine Neueinschätzung der Lage vorzunehmen, anstatt zu
mauern? Frau Sommaruga bezieht sich immer auf Europa und will eine europäische
Lösung. Die europäischen Länder gehen einfach hin und reden mit den Eritreern
auf Augenhöhe.
f.ch: Sie kennen die eritreische Kultur. Wie
integrierbar sind Eritreer bei uns?
T.L.: Eritreer sind ›hard working‹, sehr
arbeitsam. Man nannte die ältere Generation ›die Preussen Afrikas‹.
Die Jungen haben andere Lebensperspektiven und sind von der westlichen
Lebensweise verführt. Es lohnt sich, historisch zu beurteilen, wie die ganze
Migration entstanden ist. Die erste Phase der Migration fand während der
italienischen Kolonialzeit statt. Viele Italiener wanderten aus und siedelten
sich in Asmara an. Schöne Lage, angenehmes Klima. Umgekehrt gingen Eritreer,
insbesondere eritreische Frauen, nach Italien, um in herrschaftlichen
italienischen Haushalten zu arbeiten. In den 1950er und 1960er Jahren - während der Föderation und der späteren
Annexion durch Äthiopien - kam es zu
kleineren Migrationswellen, zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges 1961 bis 1991
auch zu Fluchtbewegungen. Diese erste Flüchtlingsgeneration nähert sich
unterdessen dem Rentenalter, ist gut integriert und verdient ihr eigenes Geld.
f.ch: Und jetzt haben wir es mit einer neuen
Generation zu tun.
T.L.: 2005 erliess die Asylrekurs-Kommission das
Urteil, wonach in der Schweiz Dienstverweigerer Asyl erhalten. Das UNHCR erkannte
2009 alle Eritreer, die das Land verlassen, automatisch als Flüchtlinge an. Das
war ein Blanko-Papier für junge clevere Eritreer, sich auf den Weg zu machen.
Daraus sind ein Pull-Faktor und damit ein gut organisiertes Schlepper-Business
entstanden. Diese gegenwärtigen jungen Männer sind nicht mehr gut integrierbar.
Ihre Probleme sind mangelnde Bildung und Sprachkenntnisse, und wir haben in der
Schweiz zu wenige Niedriglohn-Arbeitsplätze. Wir sind mit der langfristigen
Integration überfordert und das kann nur schlechter und schlimmer werden. Auch
für die jungen Eritreer.
f.ch: Was bedeutet dies für den regionalen Konflikt?
T.L.: Es ist Äthiopiens erklärtes Ziel, Eritrea wieder
zu annektieren oder zumindest den Hafen Assab zurückzuerobern. Wenn die
Eritreer ihr Land weiter in der jetzigen Frequenz verlassen, könnte dies eine
militärische Okkupation überflüssig machen……
f.ch: Was erwartet das eritreische Staatsoberhaupt
Isayas Afewerki von der Schweizer Regierung?
T.L.: Es tut Eritrea weh, wenn die Jungen abwandern.
Das ist nicht gut für ein kleines Land mit 3,5 Millionen Einwohnern und einer
Million Staatsbürgern im Ausland. Eritrea gibt 45 % seines Budgets für Bildung
aus, vom Kindergarten über die Schule bis zur Hochschule. Der ›brain drain‹, die Abwanderung gut Ausgebildeter, ist eine Bürde für ein armes
Land, das sie im laufenden Prozess des ›nation
building‹ dringend nötig hätte.
f.ch: Wenn Eritreer in der Schweiz Asyl erhalten, dann
kann man ihre Geldüberweisungen aus unseren Sozialwerken als Entwicklungshilfe
betrachten. Macht sich die Schweiz aber nicht auch der kolonialistischen
Ausbeutung schuldig, indem sie dem Land die ›Ressource‹ Mensch
entzieht?
T.L.: Die Eritreer sind ein sehr stolzes Volk. Es tut
den Älteren sehr weh, wenn die Jungen eine höllische Reise in Kauf nehmen, um
nach Europa abzuhauen, dort erst mal mit Desinfektionsmitteln abgesprüht werden
und merken, dass sie nicht willkommen sind. Das ist nicht gut für ihre Seele.
Eritrea kennt eine starke Wertegemeinschaft, die Familie, auf die sich die
Jungen in Europa nicht mehr abstützen können. Der Mix von Frustration,
Ablehnung und Langeweile führt dazu, dass sie ins soziale Elend abgleiten, sich
mit Alkohol betäuben oder gar Suizid begehen. Sie sind wie verlorene Söhne und
Töchter. Wir haben zwar ein ausgezeichnetes Sozialnetz. Aber junge Männer, die
auf Jahre hinaus auf Sozialhilfe sind –
das ist für mich kein Leben in Würde.
f.ch: Wie kommt es, dass minderjährige Kinder aus
Eritrea bei uns auftauchen?
T.L.: Die Eltern versuchen, ihre Kinder mit Strenge
oder Überzeugungskraft zurückzuhalten, aber diese hauen einfach ab. Die jungen
Eritreer sind über Social Media in ihren Peer Groups vernetzt und gut
informiert. In Internet-Cafés ist das Hauptthema, wie man gut nach Europa und
in das Land mit den besten Bedingungen kommt. Nach 2005 [Dienstverweigerung in Eritrea berechtigt zu
Asyl] ist das die Schweiz. Vorher war
die eritreische Diaspora in der Schweiz ganz klein. Jetzt ist die Türe offen; daran
hat auch die Asylgesetzrevision 2013 nicht viel geändert. Der Sog ist da. Die
Diaspora zahlt, wenn ein Minderjähriger gegen den Willen der Eltern abhaut. Es
ist für die Verwandten schwierig, finanzielle Hilfe abzulehnen. Der Junge kann
auch nicht zurück, weil er sein Gesicht wahren will.
f.ch: Und wer Asyl beantragt hat, bleibt vorerst im
Aufnahmeland..…
T.L.: …… da kommt das internationale
Non-refoulement-Prinzip zum Tragen. Das nehmen die Schweiz und Eritrea sehr
ernst. Es bleibt also nur die freiwillige Rückkehr. Rückschaffungen könnte man
im Rahmen eines Rückübernahme- und Migrationsabkommens diskutieren. Dafür muss
der Dialog aufgenommen werden. Gerade weil in Eritrea niemand an Leib und Leben
bedroht ist, wäre es eine Win-Win-Situation. Ich plädiere für eine Öffnung von
beiden Seiten. Die Schweiz und Eritrea sind beide kleine und gebirgige Länder
mit vielen Berührungspunkten.
f.ch: Das würde eine ständige Vertretung der Schweiz
in Eritrea bedingen. Setzt die Schweiz falsche Prioritäten bei ihren
diplomatischen Vertretungen?
T.L.: Ja natürlich. Wir haben ein derart grosses
Eritreer-Problem und der Botschafter sitzt im entfernten Khartum, im Sudan.
Weshalb nicht in Eritrea? Dass man die richtigen Schwerpunkte setzen kann,
macht die EU vor. Die EU, Deutschland, Italien, Frankreich, Grossbritannien und
die USA sind vor Ort vertreten und machen differenzierte Analysen der Lage.
f.ch: Asylgrund Nummer eins der Eritreer in der
Schweiz ist der ›Nationaldienst‹
– der obligatorische Militär-und Zivildienst. Ist dieser Nationaldienst
mit der schweizerischen Wehrpflicht zu vergleichen, die man von 1950 bis 1960
bis ins hohe Alter von 60 zu erfüllen hatte und dann bis 1995 immerhin noch bis
45?
T.L.: Der eritreische Nationaldienst hat sogar
Elemente des schweizerischen Systems übernommen. Laut Proklamation von 1994
dient der Nationaldienst nicht nur der Verteidigung dieser jungen Nation,
sondern auch der Staatsbildung, indem sich alle Volksgruppen und Religionen
kennenlernen. Daran hatte damals niemand etwas auszusetzen. In Friedenszeiten
dauert der Nationaldienst 18 Monate. Weil Äthiopien die Kriegserklärung von
1998 nicht zurückgenommen hat und regelmässig Drohungen ausspricht, gilt de
facto ein Kriegszustand. Das heisst, dass der Nationaldienst verlängert werden
kann. Dies entspricht der Mobilmachung in der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Das
ist eine enorme Belastung für das Land, auch eine ökonomische, weil die
Soldaten einen kleinen Lohn erhalten, der seit dem 5. Juli 2015 von 500 auf
2000 Nakfa, 133 Franken, erhöht wurde. Für die Jungen ist die Situation
natürlich hart und schwierig. Aber für einen jungen und armen Staat ist es
wichtig, dass sich jeder für den Wiederaufbau des Landes engagiert. Eritrea
braucht die jungen Leute in allen Bereichen. Zu 80 % leisten sie zivilen Dienst
und sind in den Ministerien tätig.
f.ch: Eritrea ist erst seit 1991 von Äthiopien
unabhängig und in Sachen Verteidigung wachsam. Spielen wir uns in Sachen
Demokratie allzu sehr als Schulmeister
über dieses junge Land auf? Zum Vergleich: Wir, seit der Gründung 1848 von
Kriegen verschont, haben vom Zweiten Weltkrieg bis Anfang der 1990er Jahre rund
10.000 junge Schweizer Dienstverweigerer durch die Militärjustiz aburteilen
lassen und für mehrere Monate bis über ein Jahr hinter Gitter gebracht. Nachdem
sie die Strafe abgesessen hatten, wurde viele von ihnen im Beruf diskriminiert
und in Einzelfällen sogar Heiratsverbote erlassen.
T.L.: Es ist praktisch in allen Ländern so, dass
Desertion strafrechtlich geahndet wird. Was es in Eritrea bisher nicht gibt,
ist das Recht auf Dienstverweigerung. In den letzten zwei Jahren der Öffnung
des Landes wird Desertion nicht mehr bestraft, Rückkehrer müssen allenfalls ein
paar Monate Nationaldienst nachleisten.
f.ch: Inwiefern übt die eritreische Botschaft in Genf
Druck auf die Eritreer aus, einen Teil ihrer Einnahmen abzuliefern?
T.L.: Es gibt seit 1991 das 2-Prozent-Gesetz. Leute,
die nicht direkt zur Unabhängigkeit des Landes beitragen, keine Toten und
Verletzten zu beklagen haben und im Ausland gut verdienen, tragen 2 % ihres
Einkommens zum Aufbau des Landes bei. Diesen Beitrag leisten Eritreer, die mit
ihrem Land verbunden sind und auch wieder zurückkehren wollen. Die Jungen
zahlen praktisch nie. Die haben andere Sorgen und Bedürfnisse.
f.ch: Könnte es für schweizerische Fachkräfte
verlockend sein, in Eritrea zu arbeiten oder für Rentner, dort ihren
Lebensabend zu verbringen?
T.L.: Die alte Diaspora-Generation kehrt, wie viele
Italiener, im Alter wieder in die Heimat zurück. Es ist ihnen hier viel zu kalt
und zu neblig. Etwas ausserhalb von Asmara hat es ganze Quartiere mit Neubauten,
die von Diaspora-Rückkehrern bewohnt werden. Ich kann mir vorstellen, dass
Eritrea auch für Schweizer zu einer beliebten Reise- und Altersdestination
werden könnte: Das Klima ist sehr angenehm, alles ist sauber, absolut keine
Kriminalität. Rentner müssten keine Angst vor Einbrüchen haben. Eritrea hat
weltweit die niedrigste Einbruchsrate. Das hat mit der Kultur, mit den Werten
des Landes zu tun. Und wir sollten endlich mit der Diffamierung dieses kleinen
Landes aufhören. Dahinter steckt der Konflikt Äthiopien-Eritrea. Die Schweiz,
die Millionen an Äthiopien gibt, könnte auch etwas Druck ausüben und ihre guten
Dienste anbieten, damit der Konflikt gelöst wird, die Sanktionen aufgehoben
werden und das Land wieder atmen kann. Dann werden auch weniger Eritreer in die
Schweiz kommen.
Quelle: http://www.faktuell.ch/2016/02/21/die-eritreer-sind-ein-sehr-stolzes-volk-es-tut-den-%C3%A4lteren-sehr-weh-wenn-die-jungen-eine-h%C3%B6llische-reise-in-kauf-nehmen-um-nach-europa-abzuhauen/ 21. 2. 16
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