Kein Ende der menschenverachtenden US-Kriegspolitik? - Von Wolfgang Effenberger 12.09.2021 18:29
«Das aus Ameriko- und Euro-Afghanen in einer Koalition mit willfährigen
Warlords bestehende, durch und durch korrupte Marionetten-Regime
hat kapituliert» [1],
so der in Deutschland lebende Afghane Matin Baraki. Der Politikwissenschaftler
hat 1995 an der Philipps-Universität Marburg promoviert und publiziert über den
Mittleren Osten sowie Zentralasien. Zur Erinnerung: Nur 27 Tage nach dem
Terroranschlag in New York, eröffnete die US-Regierung den völkerrechtswidrigen
Krieg gegen Afghanistan, obwohl bis heute nachweislich kein Afghane an dem
Anschlag beteiligt war. Der alleinige Grund: Die Taliban lieferten nicht schnell genug den bei ihnen
im Asyl lebenden mutmaßlichen Drahtzieher des Anschlags aus.
Als Kriegspartner bedienten sich die USA der Dschunbisch-Milizen und ihres
zwielichtigen Warlords Raschid Dostum. Mit US-Unterstützung eroberte Dostum im
November 2001 Masar-e Scharif von den Taliban zurück und noch im gleichen Monat
befahl Dostum ein ungeheuerliches Kriegsverbrechen. Diese Ereignisse nach dem
Fall von Kundus, der letzten Hochburg der Taliban in Nordafghanistan,
dokumentierte am 21. November 2001 der irische Journalist und Dokumentarfilmer Jamie
Doran. 3.000 der insgesamt 8.000 Gefangenen wurden zu einer Gefängnisanstalt in
der Stadt Shibarghan gebracht. Ortsansässige afghanische LKW-Fahrer wurden
zwangsverpflichtet, in unbelüfteten Containern jeweils 200 bis 300 Gefangene zu
transportieren. Die Container wurden in die Wüste gebracht, wo die noch
lebenden Opfer unter den Augen der US-Streitkräfte qualvoll starben. [2]
Die Verantwortlichen sind bis heute unbehelligt
geblieben. Unser Parlament hätte es sich zur Aufgabe machen müssen, eine Aufklärung
dieses abscheulichen Verbrechens im deutschen Einsatzraum und entsprechende
Konsequenzen zu fordern. Für eine verantwortungsvolle Bundesregierung müßte das
selbstverständlich sein. Doch für die Regierung Schröder/Fischer war es das nicht.
Im Rahmen des Petersberg-Prozesses wurde Dostum sogar im Dezember 2001 zum
stellvertretenden Verteidigungsminister in der von Hamid Karzai – er hatte von
1979 bis 1989 in den USA eine Restaurantkette aufgebaut [3] - geführten
Interimsregierung ernannt.
So abscheulich die jetzigen Anschläge am Kabuler
Flughafen sind, die unmittelbaren Vergeltungsangriffe durch US-Präsident Biden
gießen nur noch Öl ins Feuer und treffen auch immer Unschuldige. Sie bewirken
jedoch, dass immer mehr Menschen das Land verlassen wollen.
In dem militärischen Strategiepapier ›TRADOC 525-5
US-Konzept für die strategische Armee des 21. Jahrhunderts‹ vom 1. August 1994
wird eine neue Dynamische Ära, eine Welt im Übergang [Transition]
beschrieben. Danach vollzieht sich der Übergang
vom 20. in das 21. Jahrhundert über zwei Dekaden [von 1990 bis 2010]
unter Anwendung der Schritte Aufruhr [turmoil], Krise [crisis], Konflikt [conflict] und schließlich Krieg. Dieses Drehbuch konnte man vom Irak bis
in die Ukraine beobachten. Instrumente für die provozierenden Umstürze sind die
dynamischen Kräfte [Dynamic
Forces at Work] mit dem Ziel der
geostrategischen Ausrichtung.
Für diese Politik wurde das Werkzeug ›Operations Other Than
War‹ [OOTW] geschaffen. Mit den alternativen Operationen wird
der Weg in die regionalen Konflikte und sogar in einen großen Krieg vorbereitet.
Zu den einem Krieg vorgeschobenen Operationen zählen:
Civil Support
(Zivile Unterstützung)
Disaster Relief (Katastrophenhilfe)
Peace Operations (Friedenseinsätze)
Counter insurgency (Aufstandsbekämpfung)
Arms Control (Rüstungskontrolle)
Counter terrorism (Konterterrorismus)
Environmental Operations (Umweltbezogene
Operationen) Noncombatant Evacutation (Evakuierung von Nichtkombattanten)
Die Evakuierung von Nichtkombattanten betrifft
Personen, die gemäß Genfer Konvention nicht berechtigt sind, unmittelbar an
Feindseligkeiten teilzunehmen. [4]
Vor diesem Hintergrund bekommt die stolze Meldung über
den Rekord des ›US-Air-Mobility-Command‹, mit einer ›C-17 Globemaster III‹ am 15. August 2021 823 Menschen ausgeflogen zu haben [5], einen anderen Anstrich, vor allem,
weil vorwiegend junge, wehrfähige Menschen das Flugzeug füllten. Die in den ›OOTW‹ aufgeführten
Kriegseintrittsoptionen sind durchaus ernst zu nehmen.
Das Spektrum des Umfangs der künftigen Maßnahmen reicht
von den Hilfsmaßnahmen in Somalia/Bosnien/Norddirland über den Kampf [gegen
die Infanterie]
in Afghanistan
bis hin zum Kampf zwischen komplexen anpassungsfähigen Kräften und gepanzerten
Mech-Kräften wie im Irak [Operation ›Desert Storm‹].
Im Herbst 2014 stellte der Befehlshaber des ›U.S. Army Training and
Doctrine Command‹ [›TRADOC‹], der Vier-Sterne-General David. G. Perkins, das Nachfolgepapier ›TRADOC 525-3-1 - Win
in a Complex World 2020-2040‹ vor. Mit diesem Papier erhielten die US-Streitkräfte den
Auftrag, die von Russland und China ausgehende Bedrohung ›abzubauen‹. Dieser Abbau
erfolgt natürlich gemäß dem Strategiepapier mit dem Einstieg über die ›OOTW‹. General Perkins führte dazu aus, dass ›Win in a Complex
World‹ [in einer komplexen Welt siegen] die Bedeutung
einsatzbereiter Landstreitkräfte für den Schutz der Nation und die Sicherung der lebenswichtigen
Interessen gegen entschlossene, schwer fassbare und zunehmend fähige Gegner
unterstreicht und die grundlegenden Fähigkeiten hervorhebt, die das Heer zur Verhinderung
von Kriegen und zur Gestaltung des Sicherheitsumfelds benötigt. ›TRADOC 525-3-1‹ soll die Feinde abschrecken, die Verbündeten beruhigen und die
Neutralen beeinflussen. [6]
Während die Situation in Afghanistan eskalierte, gingen
die Manöver vor Russlands Haustüre weiter. Nach dem monatelangen Großmanöver ›Denfender 21‹ fand Anfang August
in Georgien das Manöver ›Agile Spirit‹-Manöver statt. Daran nahmen über
2.500 Soldaten aus 12 NATO-Mitgliedstaaten [Großbritannien, Deutschland, Spanien, Italien, Kanada, Lettland,
Litauen, Polen, Rumänien, Vereinigte Staaten, Türkei und Estland] sowie aus Aserbaidschan, Georgien und der Ukraine teil. Kommentar des
US-Offiziers Ari Martin: «Während der Ausbildung mit unseren georgischen Partnern
arbeiten wir an der Interoperabilität. Wir wollen zeigen, dass wir zusammenarbeiten
können und dass wir gemeinsam stärker sind. Ich bin mir sicher, dass wir, so
wie wir es heute getan haben, überall auf der Welt schnell unsere Kampfkraft
einsetzen können». [7] Wohin werden die europäischen ›Ortskräfte‹ fliehen können, wenn die USA den lange vorbereiteten Krieg
gegen Russland auslösen werden? Dann bleibt von Gesamteuropa nur noch eine
Trümmerwüste. [8]
Der Autor ist nicht erpicht darauf, nochmals in seiner
Analyse bestätig zu werden.....
Am 26. August 2009 wurde von ihm der Artikel «Versuch
einer Analyse nach acht Jahren Krieg in Afghanistan» veröffentlicht. [9] Er endete: «Die Lage ist trostlos und die Aussicht
gering, dass die ›AfPak‹-Strategie trotz ständig steigender Militärpräsenz
Erfolg haben kann. [10]
Müssen die gleichen leidvollen Erfahrungen wie sie die Engländer im 19.
und die Russen im 20. Jahrhundert machten, im 21. Jahrhundert wiederholt
werden?» «Die deutsche Regierung sollte
einmal Mut beweisen, Bilanz ziehen – und abmarschieren». [11]
In seinem aufrüttelnden Artikel «Von Vietnam nach
Afghanistan: Die USA lassen Wüsten zurück und nennen es Frieden» ist Alfred de
Zaya, ehemaliger UN-Experte für die Förderung einer demokratischen und
gerechten internationalen Ordnung, mit den US-Strategen scharf ins Gericht
gegangen. Für ihn hätten die USA gar nicht erst in Afghanistan – wie auch nicht in Vietnam, Laos, Kambodscha,
Grenada, Nicaragua, Libyen oder Syrien - einmarschieren dürfen. Seiner Meinung nach «haben
die USA Afghanistan gründlich destabilisiert, und es ist nicht ausgeschlossen,
dass der Konflikt nun in einen Bürgerkrieg ausartet – eine anhaltende Tragödie
für das leidgeprüfte afghanische Volk». [12]
Die USA seien nie wirklich am ›nation building‹, sondern nur an Geopolitik interessiert gewesen. Sie wollen die Region kontrollieren
und nur Klientelregierungen, keine unabhängigen Nationen. De Zaya ist erstaunt,
dass aus früheren Debakeln keine Lehren gezogen wurden. Er sieht auf der einen
Seite in der Verwüstung Afghanistans eine Katastrophe für das afghanische Volk,
auf der anderen aber einen Glücksfall für den amerikanischen
militärisch-industriellen und finanziellen Komplex: «Amerika braucht den permanenten
Krieg, um die unersättliche Militärmaschinerie zu füttern, die Billionen-Dollar-Budgets
erfordert. Es wäre besser, unsere Steuergelder für Konfliktprävention,
Gesundheitsvorsorge, Bildung usw. zu verwenden». [13]
Für ihn sind die Länder, die sich an der gnadenlosen
Bombardierung Afghanistans beteiligt haben, rechtlich und moralisch
verpflichtet, dem afghanischen Volk Wiedergutmachung zu leisten. Weiter wünscht
er sich, dass der Internationale Strafgerichtshof eine ehrliche Untersuchung
der Verbrechen der USA und der NATO durchführt. Man kann nur hoffen, dass sich
de Zayas Wünsche erfüllen werden. Mit dem Ausfliegen sogenannter Ortskräfte ist
dem afghanischen Volk jedenfalls noch keine Gerechtigkeit widerfahren.
Quelle
https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/kein-ende-der-menschenverachtenden-us-kriegspolitik/ 28. 8. 21
Die website enthält
die Abbildungen 1-1, 1-2 und 2-3
[1] Matin Baraki - «Nach 20 Jahren Bürgerkrieg
und 20 Jahren NATO-Krieg sehnen sich die afghanischen Völker nur noch nach
Frieden!» unter https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2021/nr-1920-24-august-2021/nach-20-jahren-buergerkrieg-und-20-jahren-nato-krieg-sehnen-sich-die-afghanischen-voelker-nur-noch-nach-frieden.html
Weitere Artikel von Baraki finden sich auf politonline
[2] Steinberg, Stefan: Ein Dokumentarfilm
bezichtigt die USA des Massenmords an Kriegsgefangenen in Afghanistan. Auf der
World Socialist Web Site vom 18. Juni 2002 unter www.wsws.org/de/2002/jun2002/masa-j18.shtml;
siehe auch Wolfgang Effenberger vom 02.12.2009:
Nicht erst seit dem Kundus-Massaker wird gegen das Grundgesetz verstoßen. Die
Pharisäer und ihr Fichtenwald unter www.nrhz.de/flyer/beitrag.php
[3] https://www.spiegel.de/politik/ausland/hamid-karzai-die-hoffnung-eines-zerrissenen-landes-a-212666.html
(28. 8. 21)
[4] Kombattanten sind nach Art. 43 Nr. 2 des 1.
Zusatzprotokolls zur Genfer Konvention von 1949 die Angehörigen der Streitkräfte
einer am Konflikt beteiligten Partei und berechtigt, unmittelbar an Feindseligkeiten
teilzunehmen.
[5] www.amc.af.mil/News/Article-Display/Article/2740472/c-17-carrying-passengers-out-of-afghanistan/ (28.8.21)
[6] https://www.kobo.com/ww/en/ebook/2020-2040-u-s-army-operating-concept-aoc-win-in-a-complex-world-how-future-army-forces-prevent-conflict-win-wars-shape-security-environments-tenets-and-core-competencies
(27.8.21)
[7] Zitiert aus https://de.euronews.com/2021/08/02/nato-manover-vor-russlands-haustur (28.8.21)
[8] Der Autor hatte 1973/74 als junger Hauptmann
Einblick in die damalige Kriegsplanung der NATO. 1973 hatte die Nukleare
Planungsgruppe der NATO 2.200 Atomzielpunkte zwischen Weser und Weichsel
geplant.
[9] http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14162&css=print
(28. 8. 21)
[10] Vgl. Doering, Martina: Trostlose Lage in Pakistan
und Afghanistan, in ›Berliner Zeitung‹ vom 30. April 2009
[11] Dasenbrock, Dirk: Abmarsch, in Oldenburgische
Volkszeitung vom 7. August 2009, S. 2
[12] Zitiert aus Zeit-Fragen vom 24. August 2021
Nr. 19/20, Seite 1
[13] Ebenda
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