Historische, politische und wirtschaftliche Hintergründe des Ukraine-Kriegs 27.03.2022 19:12
«Die Politik der USA», legt Jacques Baud dar, «war es immer, zu verhindern,
dass Deutschland und Russland enger zusammenarbeiten». Baud war im Auftrag des EDA, des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten, im Kampf gegen die Proliferation von Kleinwaffen fünf Jahre lang zur NATO abkommandiert und kennt daher die Ukraine und das dazugehörige Umfeld sehr gut. Wie er in dem mit ihm diesbezüglich geführten Interview erklärt, hat er nach 2014 Projekte in der Ukraine betreut; ebenso gut kennt er Russland auf Grund seiner ehemaligen nachrichtendienstlichen Tätigkeit. Baud spricht Russisch und hat Zugang zu Dokumenten, die nur wenige Menschen im Westen anschauen. »Heute«,
erklärt er, »wenn die USA in Polen und Rumänien Raketensysteme stationieren,
dann sind das die sogenannten MK-41 Systeme. Die USA sagen natürlich, sie seien
rein defensiv. Man kann tatsächlich Defensivraketen von diesen Abschussrampen
loslassen. Aber man kann mit dem gleichen System auch Nuklearraketen verwenden.
Diese Rampen sind ein paar Minuten von Moskau entfernt. Wenn in
einer Situation der erhöhten Spannung in Europa etwas passiert und die Russen
aufgrund von Satellitenbildern merken, dass es bei den Abschussrampen
Aktivitäten gibt und irgendetwas vorbereitet wird, werden sie dann abwarten,
bis möglicherweise Atomraketen in Richtung Moskau abgeschossen werden? Natürlich
nicht. Sie würden sofort einen Präventivangriff starten. Die ganze Zuspitzung
entstand, nachdem die USA aus dem ABM-Vertrag ausgetreten waren. Unter der
Gültigkeit des ABM-Vertrags hätten sie ein solches System nicht in Europa
stationieren können.
Wenn
es um eine Auseinandersetzung geht, braucht man immer eine gewisse
Reaktionszeit. Nur schon, weil Fehler passieren könnten. Je
grösser die Distanz zu den Stationierungsorten ist, umso mehr Zeit hat man, zu
reagieren. Wenn die Raketen zu nahe am russischen Territorium stationiert sind,
gibt es bei einem Angriff keine Zeit mehr, darauf zu reagieren und man läuft
viel schneller Gefahr in einen Atomkrieg zu geraten. Das betrifft alle Länder
rundherum. Die Russen haben das natürlich realisiert, und auf Grund dessen den Warschauer
Pakt gegründet. Die NATO wurde 1949 gegründet, 6 Jahre später der Warschauer
Pakt. Die UdSSR wollte einen Sicherheitsgürtel um sich herum haben, deshalb
kreierte sie den Warschauer Pakt. Sie wollte ein Vorfeld sicherstellen, um
möglichst lang einen konventionellen Krieg führen zu können. Das war die Idee: So
lange wie möglich im konventionellen Bereich zu bleiben und nicht unmittelbar
in den nuklearen zu geraten.
Putin hat am 27. Februar seine Nuklearstreitkräfte in den
Alarmzustand Stufe 1 gesetzt. Das ist aber nur die Hälfte der Geschichte: Die 58.
Sicherheitskonferenz der NATO fand vom 18. bis 20. Februar in München statt; dort
befand sich auch Selenskyj,
der äusserte, dass er Nuklearwaffen beschaffen möchte.
Das wurde als eine potentielle Bedrohung interpretiert. Im Kreml ging natürlich
die rote Lampe an.
Um das zu verstehen, muss man das Abkommen von Budapest 1994
im Hinterkopf haben. Dabei ging es darum, die Atomraketen in den ehemaligen
Sowjetrepubliken zu vernichten und nur Russland als Atommacht bestehen zu
lassen. Auch die Ukraine übergab die Atomwaffen an Russland, und Russland sicherte
als Gegenleistung die Unverletzlichkeit der Grenzen zu. Als die Krim 2014 zurück an Russland ging, sagte
die Ukraine, sie würde sich ebenfalls nicht mehr an das Abkommen von 1994 halten. Nach dem Besuch von Macron gab es eine Pressekonferenz, und Putin sagte dort
unmissverständlich, dass wenn der Abstand zwischen der NATO und Russland zu
gering sei, dies ungewollt zu Komplikationen führen könne. Aber das
entscheidende Element lag am Anfang des Krieges gegen die Ukraine, als der
französische Aussenminister Putin drohte, indem er betonte, dass
die NATO eine Nuklearmacht sei. Darauf reagierte Putin und versetzte seine
Atomstreitkräfte in eine erste Alarmbereitschaft. Die Presse erwähnte das
natürlich nicht. Putin ist ein Realist, er ist bodenständig und zielgerichtet.
Was geschah im Februar?
Ende Januar scheint sich die Situation geändert zu haben; es scheint,
dass die USA mit Selenskyj gesprochen haben, da eine Veränderung eintrat. Ab
Anfang Februar haben die USA immer wieder gesagt, die Russen stünden
unmittelbar davor, anzugreifen und sie verbreiteten Szenarien von einem Angriff.
So hat Antony Blinken vor dem UNO-Sicherheitsrat gesprochen und dargelegt, wie
sich der Angriff der Russen abspielen wird. Er wisse das von den
Nachrichtendiensten. Das erinnert an die Situation 2002/2003 vor dem Angriff
auf den Irak. Auch hier hat man sich angeblich auf die Analyse der Geheimdienste
abgestützt. Das stimmte auch damals nicht. Denn die CIA war nicht von der
Präsenz von Massenvernichtungswaffen im Irak überzeugt. Donald Rumsfeld stützte
sich also nicht auf die CIA ab, sondern auf eine kleine vertrauliche Gruppe
innerhalb des Verteidigungsministeriums, die eigens für diese Situation kreiert
worden war, um die Analysen der CIA so zu umgehen.
Im Zusammenhang mit der Ukraine hat Blinken genau das Gleiche getan. Man
kann es daran feststellen, dass sich niemand aus der CIA dazu geäussert hat.
US-amerikanische Analytiker haben gemerkt, dass die Nachrichtendienste in
diesem Zusammenhang nicht in Erscheinung getreten sind. Alles, was Blinken
erzählte, kam aus einer Gruppe, die er innerhalb seines Departements selbst
zusammengerufen hatte: Ein sogenanntes «Tiger-Team». Diese Szenarien, die man
uns vorgelegt hat, kommen nicht aus nachrichtendienstlichen
Erkenntnissen. Sogenannte Experten haben also ein gewisses Szenario mit einer
politischen Agenda erfunden. So entstand das Gerücht, die Russen
würden angreifen. Joe Biden sagte also, er wisse, dass die Russen am 16.
Februar angreifen würden. Als er gefragt wurde, woher er das wisse, antwortete
er, dass die USA gute nachrichtendienstliche Kapazitäten hätten. Er erwähnte
weder die CIA noch den nationalen Nachrichtendienst.
Am
16. 2. 22 sehen wir eine extreme Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen
durch das ukrainische Militär entlang der Waffenstillstandslinie, der
sogenannten Kontaktlinie. Es gab in den letzten acht Jahren immer wieder Verletzungen,
aber seit dem 12. Februar hatten wir eine extreme Zunahme, und zwar an Explosionen
besonders im Gebiet von Donezk und Lugansk. Das ist nur bekannt, weil alles von
der OSZE-Mission im Donbass protokolliert wurde. Man kann diese Protokolle in
den «Daily Reports» der OSZE nachlesen. Es handelte sich sicher um den
Anfang einer Offensive gegen den Donbass. Als der Artilleriebeschuss
immer stärker wurde, begannen die Behörden der beiden Republiken, die
Zivilbevölkerung zu evakuieren und nach Russland zu bringen. Sergej Lawrow
sprach in einem Interview von 100.000 Geflüchteten. In Russland sah man die
Anzeichen einer grossangelegten Operation. Dieses Vorgehen des
ukrainischen Militärs hat im Grunde genommen alles ausgelöst. Zu diesem
Zeitpunkt war es für Putin klar, dass die Ukraine eine Offensive gegen die
beiden Republiken durchführen wollte. Am 15. Februar hatte das russische Parlament,
die Duma, eine Resolution angenommen, die vorschlägt, die beiden Republiken
anzuerkennen. Putin reagierte zunächst nicht darauf, doch als die Angriffe
immer stärker wurden, entschied er sich am 21. Februar, die Forderung der
parlamentarischen Resolution umzusetzen. In dieser Situation hatte er kaum eine
andere Wahl, dies zu tun, da die russische Bevölkerung kaum verstanden hätte,
wenn er nichts zum Schutz der russischstämmigen Bevölkerung im Donbass unternommen
hätte. Für Putin war klar, dass - wenn
er darauf reagierte und intervenierte - der
Westen mit massiven Sanktionen reagieren würde, ganz unabhängig davon, ob er
nur den Republiken helfen oder die ganze Ukraine angreifen würde. In einem ersten
Schritt anerkannte er die Unabhängigkeit der beiden Republiken. Am gleichen Tag
schloss er mit den beiden Republiken ein Abkommen über Freundschaft und
Zusammenarbeit ab. Dadurch hat er gemäss Kapitel 51 der UNO-Charta im Sinne der
kollektiven Verteidigung und der Selbstverteidigung das Recht, den beiden
Republiken zu helfen. Damit schuf er die rechtliche Grundlage, den beiden
Republiken mit militärischen Mitteln zu Hilfe zu kommen. Putin hatte
zwei Möglichkeiten: Erstens, mit der
russischsprachigen Bevölkerung im Donbass zusammen gegen die Angreifer, also gegen
die ukrainische Armee, zu kämpfen; zweitens, an mehreren Stellen die Ukraine
anzugreifen, um die ukrainischen Militärkapazitäten zu schwächen. Putin hat auch
einkalkuliert, dass es, egal was er macht, Sanktionen hageln wird. Deshalb hat
er sich sicher für die Maximalvariante entschieden, wobei man ganz klar sagen
muss, dass Putin nie davon gesprochen hat, die Ukraine in Besitz nehmen zu
wollen. Seine Zielsetzung ist klar und deutlich: Entmilitarisierung und
Entnazifizierung.
Seit
2014 wurden starke paramilitärische Kräfte ausgebaut, dazu gehört zum Beispiel
das bekannte Asow-Regiment. Es besteht aus 19 Nationalitäten, darunter sind
Franzosen, sogar Schweizer, etc. Es ist eine Fremdenlegion. Insgesamt sind
diese rechtsextremen Gruppen laut der Agentur Reuters ungefähr 100.000 Kämpfer
stark.
Qualitativ
konnte die Ukraine im Wettbewerb mit dem europäischen Markt nur schwer
bestehen. Deshalb wollten die Behörden mit der EU kooperieren und gleichzeitig
die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland aufrechterhalten». »Auf die Frage, ob
das möglich gewesen wäre«, erklärte Baud: »Russland hatte seinerseits kein
Problem mit den Plänen der Ukraine. Aber Russland wollte seine
Wirtschaftsbeziehungen zur Ukraine behalten. Deshalb schlug es vor, mit einer
trilateralen Arbeitsgruppe zwei Abkommen zu erstellen: Eines zwischen der
Ukraine und der EU, und eines zwischen der Ukraine und Russland. Ziel war es,
die Interessen von allen Beteiligten abzudecken. Es war die Europäische Union, die
in der Person von José Barroso von der Ukraine verlangt hat, sich zwischen
Russland und der EU zu entscheiden. Die Ukraine hat sich daraufhin Bedenkzeit
ausbedungen und eine Pause im ganzen Prozess verlangt. Danach spielten die EU
und die USA kein ehrliches Spiel«. »Warum?« »Die westliche Presse titelte: »Russland
übt Druck auf die Ukraine aus, um den Vertrag mit der EU zu verhindern«. Das
war falsch. Das war nicht der Fall. Die Regierung der
Ukraine bekundete weiterhin Interesse an dem Vertrag mit der EU, aber sie
wollte noch mehr Bedenkzeit und die Lösungen für diese komplexe Situation genau
prüfen. Aber das sagte die Presse in Europa nicht. Am nächsten
Tag tauchten Rechtsextreme aus dem Westen des Landes auf dem Maidan in Kiew
auf. Was sich dort alles mit Billigung und Unterstützung des Westens abgespielt
hat, ist grausig. Aber das alles aufzurollen, würde unseren Rahmen sprengen.
Ab 1995 wurde die Krim per Dekret von Kiew aus regiert. Das stand im
völligen Widerspruch zum Referendum von 1991 und erklärt, warum die Krim 2014, nachdem
eine neue ultra-nationalistische Regierung, die total antirussisch war, durch
den illegalen Putsch in der Ukraine an die Macht gekommen war, ein erneutes
Referendum abhielt. Das Resultat war
sehr ähnlich wie 30 Jahre zuvor. Nach dem Referendum fragte die Krim an, ob sie
in die Russische Föderation eintreten könne. Es war nicht Russland, das die
Krim erobert hat, sondern die Bevölkerung hat die Behörden ermächtigt, Russland
um die Aufnahme zu bitten. Es gab 1997 auch ein Freundschaftsabkommen zwischen
Russland und der Ukraine, in dem die Ukraine die kulturelle Vielfalt der
Minderheiten im Land gewährleistet. Als im Februar 2014 die russische
Sprache verboten wurde, war das eine Verletzung dieses Vertrags.
Jetzt wird klar, dass man, wenn man das alles nicht kennt, Gefahr läuft,
die Situation falsch einzuschätzen.
Zurück zum Minsker Abkommen. Es waren neben der Ukraine und den
autonomen Republiken auch Garantiemächte anwesend, wie Deutschland und
Frankreich auf der Seite der Ukraine und Russland auf der Seite der Republiken.
Deutschland, Frankreich und Russland haben das als Vertreter der OSZE gemacht.
Die EU war daran nicht beteiligt, das war eine reine Angelegenheit der OSZE.
Direkt nach dem Minsk I Abkommen löste die Ukraine eine Anti-Terroroperation gegen
die beiden autonomen Republiken aus. Die Regierung ignorierte das Abkommen also
vollständig und führte diese Operation durch. Aber es gab wieder eine totale
Niederlage der ukrainischen Armee in Debaltsevo. Es war ein Debakel«. »Auf die
Frage, ob dies auch mit der Unterstützung der NATO stattfand, lautete die
Antwort«: »Ja, und man muss sich schon fragen, was die Militärberater der NATO
dort eigentlich gemacht haben, denn die Streitkräfte der Republiken hatten die
ukrainische Armee völlig besiegt. Das führte zu einem zweiten Abkommen, Minsk II,
das im Februar 2015 unterzeichnet wurde. Es diente als Grundlage für eine
Resolution des UNO-Sicherheitsrats. Damit ist dieses Abkommen völkerrechtlich
verpflichtend: Es muss umgesetzt werden«.
»Hat man das auch von der UNO her kontrolliert?« »Nein, niemand
hat sich darum gekümmert, und ausser Russland verlangte niemand die
Einhaltung des Minsk II Abkommens. Man sprach plötzlich nur noch vom
Normandie-Format. Aber das ist völlig unbedeutend. Das kam an der Feier des
D-Day im Juni 2014 zustande. Eingeladen waren die Veteranen des Kriegs, die Staatsoberhäupter
der Alliierten, sowie Deutschland, die Ukraine und die Vertreter anderer
Staaten. Im Normandie-Format waren nur die Staatschefs vertreten, die autonomen
Republiken sind dort natürlich nicht dabei. Nun will die Ukraine nicht mit den
Vertretern von Lugansk und Donezk reden; wenn man aber die Minsker Abkommen
anschaut, dann muss es eine Absprache zwischen der ukrainischen Regierung und
den Republiken geben, damit die ukrainische Verfassung angepasst werden kann.
Das ist ein Prozess, der innerhalb des Landes geschehen muss, aber das wollte
die ukrainische Regierung nicht«.
https://seniora.org/politik-wirtschaft/ukraine/die-politik-der-usa-war-es-immer-zu-verhindern-dass-deutschland-und-russland-enger-zusammenarbeiten 16. 3. 22 Historische, politische und wirtschaftliche Hintergründe des
Ukraine-Kriegs; Interview mit Jacques Baud Schweiz
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