Historische, politische und wirtschaftliche Hintergründe des Ukraine-Kriegs

«Die Politik der USA», legt Jacques Baud dar, «war es immer, zu verhindern,

dass Deutschland und Russland enger zusammenarbeiten». Baud war im Auftrag des EDA, des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten, im Kampf gegen die Proliferation von Kleinwaffen fünf Jahre lang zur NATO abkommandiert und kennt daher die Ukraine und das dazugehörige Umfeld sehr gut. Wie er in dem mit ihm diesbezüglich geführten Interview erklärt, hat er nach 2014 Projekte in der Ukraine betreut; ebenso gut kennt er Russland auf Grund seiner ehemaligen nachrichtendienstlichen Tätigkeit. Baud spricht Russisch und hat Zugang zu Dokumenten, die nur wenige Menschen im Westen anschauen.   »Heute«, erklärt er, »wenn die USA in Polen und Rumänien Raketensysteme stationieren, dann sind das die sogenannten MK-41 Systeme. Die USA sagen natürlich, sie seien rein defensiv. Man kann tatsächlich Defensivraketen von diesen Abschussrampen loslassen. Aber man kann mit dem gleichen System auch Nuklearraketen verwenden. Diese Rampen sind ein paar Minuten von Moskau entfernt. Wenn in einer Situation der erhöhten Spannung in Europa etwas passiert und die Russen aufgrund von Satellitenbildern merken, dass es bei den Abschussrampen Aktivitäten gibt und irgendetwas vorbereitet wird, werden sie dann abwarten, bis möglicherweise Atomraketen in Richtung Moskau abgeschossen werden? Natürlich nicht. Sie würden sofort einen Präventivangriff starten. Die ganze Zuspitzung entstand, nachdem die USA aus dem ABM-Vertrag ausgetreten waren. Unter der Gültigkeit des ABM-Vertrags hätten sie ein solches System nicht in Europa stationieren können.  

Wenn es um eine Auseinandersetzung geht, braucht man immer eine gewisse Reaktionszeit. Nur schon, weil Fehler passieren könnten. Je grösser die Distanz zu den Stationierungsorten ist, umso mehr Zeit hat man, zu reagieren. Wenn die Raketen zu nahe am russischen Territorium stationiert sind, gibt es bei einem Angriff keine Zeit mehr, darauf zu reagieren und man läuft viel schneller Gefahr in einen Atomkrieg zu geraten. Das betrifft alle Länder rundherum. Die Russen haben das natürlich realisiert, und auf Grund dessen den Warschauer Pakt gegründet. Die NATO wurde 1949 gegründet, 6 Jahre später der Warschauer Pakt. Die UdSSR wollte einen Sicherheitsgürtel um sich herum haben, deshalb kreierte sie den Warschauer Pakt. Sie wollte ein Vorfeld sicherstellen, um möglichst lang einen konventionellen Krieg führen zu können. Das war die Idee: So lange wie möglich im konventionellen Bereich zu bleiben und nicht unmittelbar in den nuklearen zu geraten.

Putin hat am 27. Februar seine Nuklearstreitkräfte in den Alarmzustand Stufe 1 gesetzt. Das ist aber nur die Hälfte der Geschichte: Die 58. Sicherheitskonferenz der NATO fand vom 18. bis 20. Februar in München statt; dort befand sich auch Selenskyj, der äusserte, dass er Nuklearwaffen beschaffen möchte. Das wurde als eine potentielle Bedrohung interpretiert. Im Kreml ging natürlich die rote Lampe an.    

Um das zu verstehen, muss man das Abkommen von Budapest 1994 im Hinterkopf haben. Dabei ging es darum, die Atomraketen in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu vernichten und nur Russland als Atommacht bestehen zu lassen. Auch die Ukraine übergab die Atomwaffen an Russland, und Russland sicherte als Gegenleistung die Unverletzlichkeit der Grenzen zu. Als die Krim 2014 zurück an Russland ging, sagte die Ukraine, sie würde sich ebenfalls nicht mehr an das Abkommen von 1994 halten. Nach dem Besuch von Macron gab es eine Pressekonferenz, und Putin sagte dort unmissverständlich, dass wenn der Abstand zwischen der NATO und Russland zu gering sei, dies ungewollt zu Komplikationen führen könne. Aber das entscheidende Element lag am Anfang des Krieges gegen die Ukraine, als der französische Aussenminister Putin drohte, indem er betonte, dass die NATO eine Nuklearmacht sei. Darauf reagierte Putin und versetzte seine Atomstreitkräfte in eine erste Alarmbereitschaft. Die Presse erwähnte das natürlich nicht. Putin ist ein Realist, er ist bodenständig und zielgerichtet. 

Was geschah im Februar?

Ende Januar scheint sich die Situation geändert zu haben; es scheint, dass die USA mit Selenskyj gesprochen haben, da eine Veränderung eintrat. Ab Anfang Februar haben die USA immer wieder gesagt, die Russen stünden unmittelbar davor, anzugreifen und sie verbreiteten Szenarien von einem Angriff. So hat Antony Blinken vor dem UNO-Sicherheitsrat gesprochen und dargelegt, wie sich der Angriff der Russen abspielen wird. Er wisse das von den Nachrichtendiensten. Das erinnert an die Situation 2002/2003 vor dem Angriff auf den Irak. Auch hier hat man sich angeblich auf die Analyse der Geheimdienste abgestützt. Das stimmte auch damals nicht. Denn die CIA war nicht von der Präsenz von Massenvernichtungswaffen im Irak überzeugt. Donald Rumsfeld stützte sich also nicht auf die CIA ab, sondern auf eine kleine vertrauliche Gruppe innerhalb des Verteidigungsministeriums, die eigens für diese Situation kreiert worden war, um die Analysen der CIA so zu umgehen. 

Im Zusammenhang mit der Ukraine hat Blinken genau das Gleiche getan. Man kann es daran feststellen, dass sich niemand aus der CIA dazu geäussert hat. US-amerikanische Analytiker haben gemerkt, dass die Nachrichtendienste in diesem Zusammenhang nicht in Erscheinung getreten sind. Alles, was Blinken erzählte, kam aus einer Gruppe, die er innerhalb seines Departements selbst zusammengerufen hatte: Ein sogenanntes «Tiger-Team». Diese Szenarien, die man uns vorgelegt hat, kommen nicht aus nachrichtendienstlichen Erkenntnissen. Sogenannte Experten haben also ein gewisses Szenario mit einer politischen Agenda erfunden. So entstand das Gerücht, die Russen würden angreifen. Joe Biden sagte also, er wisse, dass die Russen am 16. Februar angreifen würden. Als er gefragt wurde, woher er das wisse, antwortete er, dass die USA gute nachrichtendienstliche Kapazitäten hätten. Er erwähnte weder die CIA noch den nationalen Nachrichtendienst. 

Am 16. 2. 22 sehen wir eine extreme Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen durch das ukrainische Militär entlang der Waffenstillstandslinie, der sogenannten Kontaktlinie. Es gab in den letzten acht Jahren immer wieder Verletzungen, aber seit dem 12. Februar hatten wir eine extreme Zunahme, und zwar an Explosionen besonders im Gebiet von Donezk und Lugansk. Das ist nur bekannt, weil alles von der OSZE-Mission im Donbass protokolliert wurde. Man kann diese Protokolle in den «Daily Reports» der OSZE nachlesen. Es handelte sich sicher um den Anfang einer Offensive gegen den Donbass. Als der Artilleriebeschuss immer stärker wurde, begannen die Behörden der beiden Republiken, die Zivilbevölkerung zu evakuieren und nach Russland zu bringen. Sergej Lawrow sprach in einem Interview von 100.000 Geflüchteten. In Russland sah man die Anzeichen einer grossangelegten Operation. Dieses Vorgehen des ukrainischen Militärs hat im Grunde genommen alles ausgelöst. Zu diesem Zeitpunkt war es für Putin klar, dass die Ukraine eine Offensive gegen die beiden Republiken durchführen wollte. Am 15. Februar hatte das russische Parlament, die Duma, eine Resolution angenommen, die vorschlägt, die beiden Republiken anzuerkennen. Putin reagierte zunächst nicht darauf, doch als die Angriffe immer stärker wurden, entschied er sich am 21. Februar, die Forderung der parlamentarischen Resolution umzusetzen. In dieser Situation hatte er kaum eine andere Wahl, dies zu tun, da die russische Bevölkerung kaum verstanden hätte, wenn er nichts zum Schutz der russischstämmigen Bevölkerung im Donbass unternommen hätte. Für Putin war klar, dass  - wenn er darauf reagierte und intervenierte -  der Westen mit massiven Sanktionen reagieren würde, ganz unabhängig davon, ob er nur den Republiken helfen oder die ganze Ukraine angreifen würde. In einem ersten Schritt anerkannte er die Unabhängigkeit der beiden Republiken. Am gleichen Tag schloss er mit den beiden Republiken ein Abkommen über Freundschaft und Zusammenarbeit ab. Dadurch hat er gemäss Kapitel 51 der UNO-Charta im Sinne der kollektiven Verteidigung und der Selbstverteidigung das Recht, den beiden Republiken zu helfen. Damit schuf er die rechtliche Grundlage, den beiden Republiken mit militärischen Mitteln zu Hilfe zu kommen. Putin hatte zwei  Möglichkeiten: Erstens, mit der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass zusammen gegen die Angreifer, also gegen die ukrainische Armee, zu kämpfen; zweitens, an mehreren Stellen die Ukraine anzugreifen, um die ukrainischen Militärkapazitäten zu schwächen. Putin hat auch einkalkuliert, dass es, egal was er macht, Sanktionen hageln wird. Deshalb hat er sich sicher für die Maximalvariante entschieden, wobei man ganz klar sagen muss, dass Putin nie davon gesprochen hat, die Ukraine in Besitz nehmen zu wollen. Seine Zielsetzung ist klar und deutlich: Entmilitarisierung und Entnazifizierung. 

Seit 2014 wurden starke paramilitärische Kräfte ausgebaut, dazu gehört zum Beispiel das bekannte Asow-Regiment. Es besteht aus 19 Nationalitäten, darunter sind Franzosen, sogar Schweizer, etc. Es ist eine Fremdenlegion. Insgesamt sind diese rechtsextremen Gruppen laut der Agentur Reuters ungefähr 100.000 Kämpfer stark. 

Qualitativ konnte die Ukraine im Wettbewerb mit dem europäischen Markt nur schwer bestehen. Deshalb wollten die Behörden mit der EU kooperieren und gleichzeitig die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland aufrechterhalten». »Auf die Frage, ob das möglich gewesen wäre«, erklärte Baud: »Russland hatte seinerseits kein Problem mit den Plänen der Ukraine. Aber Russland wollte seine Wirtschaftsbeziehungen zur Ukraine behalten. Deshalb schlug es vor, mit einer trilateralen Arbeitsgruppe zwei Abkommen zu erstellen: Eines zwischen der Ukraine und der EU, und eines zwischen der Ukraine und Russland. Ziel war es, die Interessen von allen Beteiligten abzudecken. Es war die Europäische Union, die in der Person von José Barroso von der Ukraine verlangt hat, sich zwischen Russland und der EU zu entscheiden. Die Ukraine hat sich daraufhin Bedenkzeit ausbedungen und eine Pause im ganzen Prozess verlangt. Danach spielten die EU und die USA kein ehrliches Spiel«. »Warum?« »Die westliche Presse titelte: »Russland übt Druck auf die Ukraine aus, um den Vertrag mit der EU zu verhindern«. Das war falsch. Das war nicht der Fall. Die Regierung der Ukraine bekundete weiterhin Interesse an dem Vertrag mit der EU, aber sie wollte noch mehr Bedenkzeit und die Lösungen für diese komplexe Situation genau prüfen. Aber das sagte die Presse in Europa nicht. Am nächsten Tag tauchten Rechtsextreme aus dem Westen des Landes auf dem Maidan in Kiew auf. Was sich dort alles mit Billigung und Unterstützung des Westens abgespielt hat, ist grausig. Aber das alles aufzurollen, würde unseren Rahmen sprengen.  

Ab 1995 wurde die Krim per Dekret von Kiew aus regiert. Das stand im völligen Widerspruch zum Referendum von 1991 und erklärt, warum die Krim 2014, nachdem eine neue ultra-nationalistische Regierung, die total antirussisch war, durch den illegalen Putsch in der Ukraine an die Macht gekommen war, ein erneutes Referendum abhielt.  Das Resultat war sehr ähnlich wie 30 Jahre zuvor. Nach dem Referendum fragte die Krim an, ob sie in die Russische Föderation eintreten könne. Es war nicht Russland, das die Krim erobert hat, sondern die Bevölkerung hat die Behörden ermächtigt, Russland um die Aufnahme zu bitten. Es gab 1997 auch ein Freundschaftsabkommen zwischen Russland und der Ukraine, in dem die Ukraine die kulturelle Vielfalt der Minderheiten im Land gewährleistet. Als im Februar 2014 die russische Sprache verboten wurde, war das eine Verletzung dieses Vertrags.

Jetzt wird klar, dass man, wenn man das alles nicht kennt, Gefahr läuft, die Situation falsch einzuschätzen.        

Zurück zum Minsker Abkommen. Es waren neben der Ukraine und den autonomen Republiken auch Garantiemächte anwesend, wie Deutschland und Frankreich auf der Seite der Ukraine und Russland auf der Seite der Republiken. Deutschland, Frankreich und Russland haben das als Vertreter der OSZE gemacht. Die EU war daran nicht beteiligt, das war eine reine Angelegenheit der OSZE. Direkt nach dem Minsk I Abkommen löste die Ukraine eine Anti-Terroroperation gegen die beiden autonomen Republiken aus. Die Regierung ignorierte das Abkommen also vollständig und führte diese Operation durch. Aber es gab wieder eine totale Niederlage der ukrainischen Armee in Debaltsevo. Es war ein Debakel«. »Auf die Frage, ob dies auch mit der Unterstützung der NATO stattfand, lautete die Antwort«: »Ja, und man muss sich schon fragen, was die Militärberater der NATO dort eigentlich gemacht haben, denn die Streitkräfte der Republiken hatten die ukrainische Armee völlig besiegt. Das führte zu einem zweiten Abkommen, Minsk II, das im Februar 2015 unterzeichnet wurde. Es diente als Grundlage für eine Resolution des UNO-Sicherheitsrats. Damit ist dieses Abkommen völkerrechtlich verpflichtend: Es muss umgesetzt werden«.

»Hat man das auch von der UNO her kontrolliert?« »Nein, niemand hat sich darum gekümmert, und ausser Russland verlangte niemand die Einhaltung des Minsk II Abkommens. Man sprach plötzlich nur noch vom Normandie-Format. Aber das ist völlig unbedeutend. Das kam an der Feier des D-Day im Juni 2014 zustande. Eingeladen waren die Veteranen des Kriegs, die Staatsoberhäupter der Alliierten, sowie Deutschland, die Ukraine und die Vertreter anderer Staaten. Im Normandie-Format waren nur die Staatschefs vertreten, die autonomen Republiken sind dort natürlich nicht dabei. Nun will die Ukraine nicht mit den Vertretern von Lugansk und Donezk reden; wenn man aber die Minsker Abkommen anschaut, dann muss es eine Absprache zwischen der ukrainischen Regierung und den Republiken geben, damit die ukrainische Verfassung angepasst werden kann. Das ist ein Prozess, der innerhalb des Landes geschehen muss, aber das wollte die ukrainische Regierung nicht«.


 

https://seniora.org/politik-wirtschaft/ukraine/die-politik-der-usa-war-es-immer-zu-verhindern-dass-deutschland-und-russland-enger-zusammenarbeiten   16. 3. 22
Historische, politische und wirtschaftliche Hintergründe des Ukraine-Kriegs; Interview mit Jacques Baud Schweiz