WEF Davos 2022: »Geschichte an einem Wendepunkt« - Von Wolfgang Effenberger 02.06.2022 20:56
In der letzten Maiwoche fand die diesjährige Konferenz des Weltwirtschaftsforums
unter dem Motto »Geschichte an einem Wendepunkt« statt. Zum ersten Mal nach zweieinhalb Jahren Pandemiepause hatte sich die Elite aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht in verschneiter Berg-, sondern in einer regennassen Frühlingslandschaft getroffen. Reisten früher über 3.000 Exponenten der internationalen Führungsriege an, so waren es 2022 ein Drittel weniger.
Umso
höher waren dafür die Erwartungen des 84jährigen Gründers Klaus Schwab: «Unter
dem Motto »Geschichte
am Wendepunkt« wird das diesjährige Jahrestreffen das aktuellste und wichtigste
seit der Gründung des Weltwirtschaftsforums vor über 50 Jahren». [1] In Gedanken beim Krieg in der Ukraine,
postulierte Schwab: »Russlands Angriff wird als der Zusammenbruch
der Weltordnung nach dem II. Weltkrieg und dem Kalten Krieg in die Geschichtsbücher
eingehen«. [2] Nach dieser Definition war es geradezu
zwangsläufig, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zum Auftakt am 23. Mai in Davos auf einer übergroßen
Bildfläche zugeschaltet wurde und mit seiner Kriegs-und Kampfrethorik die
Teilnehmer auf schärfere Sanktionen gegen Russland einstimmte. Im Jahr zuvor
hatte kein geringerer als Chinas Staatspräsident Xi Jinping die damals
virtuelle WEF-Veranstaltung eröffnet. Den dominanten Auftritt Selenskyjs hat
der österreichische Zeichner Pepsch Gottscheber in seiner Karikatur in einen
Rahmen gestellt, der einen überdimensionalen und bedrohlich wirkenden Selenskyj
vor einer zwergenhaft wirkenden Tischrunde [3], die das WEF darstellt, zeigt. Die in der ›Süddeutschen
Zeitung‹ am 26. Mai veröffentlichte Karikatur entfachte ein Kreuzfeuer der
Kritik [4] und gipfelte in dem Vorwurf des Antisemitismus. [5] Einen
Tag darauf reagierte die Zeitung auf twitter mit einer kurzen Erklärung auf die
massive Kritik.
Während
2022 die Gäste aus Russland fehlten, reiste eine große Delegation aus der
Ukraine nach Davos, darunter mehrere Parlamentsabgeordnete und der
Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko. In Davos traf auch die 2014
gegründete und inzwischen weltweit agierende private britische TBD Media Group
auf die vermeintlichen Vordenker, die Entscheidungen für die Zukunft
vorbereiten. Nach eigenen Angaben unterstützt dieTBD
Media Group Unternehmen, Organisationen und Regierungen dabei, deren
Botschaften und Ziele auf »menschliche und direkte
Weise zu vermitteln«. [6]
Dazu werden globale Kampagnen durchgeführt, »die
sich mit wichtigen globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel und
technologischen Lücken auseinandersetzen«. [7] Zur
Bedeutung von Davos sagte Paolo Zanini, Gründer und CEO der TBD Media Group: »Davos
ist der Ort, an dem Entscheidungen über das Heute und Morgen unseres Planeten
getroffen werden«.
TBD Media sei stolz darauf, dazu beizutragen, die Philosophien und die
Entscheider auf ansprechende und aufschlußreiche Weise zugänglich zu machen. Es
käme darauf an, die Motivation der Menschen, die den Wandel vorantreiben, zu
verstehen, um positive Veränderungen zu bewirken: »Die
Geschichte steht wirklich an einem Wendepunkt: Die Schockwellen von Covid, dem
Konflikt in der Ukraine und der Klimakrise sind zu spüren, und wir haben mit
den Menschen gesprochen, die die Kontrolle über die Hebel des Handelns haben.
Wir haben herausgefunden, was sie zu tun gedenken, wie sie es zu tun gedenken
und vor allem, warum sie die Entscheidungen treffen, die sie treffen. Wir alle
wollen eine sauberere, gerechtere und friedlichere Welt. Um das zu erreichen,
müssen wir die Menschen kennen, die an der Umsetzung beteiligt sein werden«. [8] Die
undurchsichtige TBD Media Group wirkt also als Sprachrohr, Verstärker und
PR-Manipulierer. Sie wurde im gleichen Jahr gegründet, als auf dem Maidan die
gewählte ukrainische Regierung durch einen vom Westen orchestrierten Putsch
fliehen mußte [9] und in den
USA das Langzeitstrategiekonzept TRADOC 525-3-1 ›Win
in a Complex World 2020-2040‹, das den Abbau der ›Bedrohung‹
durch Russland und China als oberstes Ziel der Streitkräfte formuliert, in
Kraft trat. Nach Meinung des unabhängigen geopolitischen Analysten und Autors
zahlreicher Bücher, Pepe Escobar, wird in Davos und darüber hinaus die
optimistische Erzählung der NATO wie eine kaputte Schallplatte gespielt, »die
nie ihre Melodie ändert, während Russland vor Ort Siege erringt, die die
atlantische Ordnung zu Fall bringen könnten«. [10]
Klaus
Schwab hatte den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Davos mit einer glühenden Hommage vorgestellt und
betont, dass Selenskyj von »ganz Europa und der
internationalen Ordnung« unterstützt wird. Dabei spitzt sich in der
Ukraine laut Escobar »der Kampf des Westens (12%) gegen den Rest
(88 %) weiter zu«.
[11] In Davos bezeichnete Bundeskanzler
Olaf Scholz (SPD) den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine als Fehlschlag
und sagte mit Blick auf Präsident Wladimir Putin: »Schon
jetzt hat er all seine strategischen Ziele
verfehlt«. [12] Doch
woher will Scholz die strategischen Ziele Putins kennen? Im Vergleich mit den
völkerrechtswidrigen Angriffskriegen der USA samt der Koalition der Willigen –
Jugoslawien 1999, Afghanistan 2001, Irak 2003…... - erscheint Putins Angriffskrieg als gescheitert.
Die ›Erfolge‹ der USA wurden
jeweils nach mörderischem Bombardement gemäß ›Shock
and Awe‹ aus der Luft erzeugt. Danach war der Widerstand am Boden
weitgehend gebrochen. Im Fall einer drohenden Niederlage Russlands befürchtet
Scholz zu Recht den Einsatz atomarer Mittel, und bei einem möglichen Sieg warnt
er vor den dramatischen Folgen: »Putin will zurück zu
einer Weltordnung, in der der Stärkere diktiert, was Recht ist; in der
Freiheit, Souveränität und Selbstbestimmung eben nicht allen zustehen«,
sagte er wörtlich und fügte hinzu: »Das ist Imperialismus!«. Es
sei der »Versuch,
uns in eine Zeit zurückzubomben, als Krieg ein gängiges Mittel der Politik war, als unserem
Kontinent und der Welt eine stabile Friedensordnung fehlte«. [13] Diese
Weltsicht von Olaf Scholz braucht in ihrer Oberflächlichkeit und
Geschichtsvergessenheit nicht kommentiert zu werden und läßt schlimmste
Befürchtungen keimen. Kam es im Kalten Krieg schon zu zahlreichen bewaffneten
Interventionen beider Supermächte, so nahm die Häufigkeit solcher Interventionen
nach Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation (Warschauer Pakt) und der
Sowjetunion sogar noch zu: »Die USA führten
Kriege in Serbien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien, Russland in Georgien, in
der Ukraine und in anderen Teilen von Syrien. In mehreren Fällen versuchte eine
dieser Mächte, die andere zu unterminieren, indem sie ihre militärischen Gegner
aufrüstete, oft in erheblichem Umfang«. [14]
Der
Krieg in der Ukraine hat einen langen Vorlauf. Am 11. Dezember 2017
unterzeichneten die Außen- und Verteidigungsminister von 25 europäischen
Mitgliedsstaaten die Vereinbarung zur ›Ständigen strukturierten
Zusammenarbeit‹ im Bereich der Sicherheit und Verteidigung, bekannt als ›Permanent
Structured Cooperation‹ (PESCO). Laut
Bundesverteidigungsministerium soll die EU »in
einem sicherheitspolitischen Umfeld handlungsfähig sein, das sich insbesondere
seit 2014 verschärft hat«. [15] Neben der regelmäßigen Erhöhung des
Verteidigungshaushalts haben sich die Unterzeichner der PESCO-Vereinbarung
unter anderem verpflichtet, die gemeinsame Nutzung bestehender Fähigkeiten zu
verbessern und die Interoperabilität der EU-Battlegroups weiter zu steigern. In
dem breiten zivil-militärischen Werkzeugkasten der EU hat der Ausbau der
militärisch nutzbaren Infrastruktur in Richtung Osten Priorität. So ist z.B.
die Modernisierung der Bahntrasse von Bremerhaven, wo US-Panzer vom Schiff auf
die Schiene verlegt werden, über die Neiße nach Breslau bis in die Ukraine nach
Kiew kein Zufallsprodukt. [16] Heute von einem Wendepunkt der Geschichte zu
sprechen, ist mehr als fahrlässig und wird jede Friedensbereitschaft
torpedieren. Der Wendepunkt kam nach der Auflösung des Warschauer Pakts und der
Osterweiterung der NATO, die schon sehr früh die Ukraine bzw. Georgien in das
Bündnis integrieren wollte.
Bis
jetzt ist es jedoch noch nicht zu einem direkten Konflikt zwischen den
Streitkräften gekommen. Nun findet aber die Auseinandersetzung direkt vor der
russischen Haustüre statt (Erinnerungen an die Kubakrise seien hier erlaubt).
Die US-Unterstützung der Ukraine durch gezielte Aufklärung,
Führungsunterstützung sowie Berater bei den ukrainischen Streitkräften, wenn
nicht sogar durch den verdeckten Einsatz von Söldnern, hat eine andere
Dimension geschaffen. Russland fühlt sich nun existenziell bedroht. Der Schritt
zur Ausweitung des Krieges bis hin zu einem möglichen Atomkrieg ist nicht mehr
weit. Für den Sekretär des russischen Sicherheitsrats Nikolai Platonowitsch
Patruschew, vom 9. 8. 1999 bis 12. 5. 2008 Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB,
»verursachen
die vom Großkapital kontrollierten Regierungen der USA und Großbritanniens eine
Wirtschaftskrise in der Welt und lassen Millionen von Menschen in Afrika, Asien
und Lateinamerika hungern, indem sie ihren Zugang zu Getreide, Düngemitteln und
Energieressourcen beschränken. Durch ihr Handeln provozieren sie
Arbeitslosigkeit und eine Migrationskatastrophe in Europa. Sie sind am
Wohlstand der europäischen Staaten nicht interessiert und tun alles, um sie vom
Sockel der wirtschaftlich entwickelten Länder zu stoßen; und um die Region
bedingungslos zu kontrollieren, setzen sie die Europäer auf einen zweibeinigen
Stuhl namens NATO und EU, auf dem sie verächtlich balancieren«. [15] Laut Patruschew
geht es nur darum, den Reichtum einer Gruppe von Tycoons in der Londoner City
und an der Wall Street zu mehren. Ein Blick auf die aktuellen Finanzströme
scheint das zu bestätigen. So scheinen die Finanzeliten in den USA und in
Großbritannien wenig Interesse an einer Beilegung des Konflikts zu haben. Seit
dem Angriff Putins auf die Ukraine haben die USA fast alle ihre Ziele erreicht:
- Das NATO-Bündnis ist gefestigt wie noch nie
und eine Norderweiterung steht bevor
- Aufstockung der US-Truppen in Europa
- Die Rüstungsausgaben beflügeln den
militärisch-industriellen Komplex
- Die Entwicklung deutsch-französischer
Kampfflugzeuge ist gestoppt
- Das Projekt Nord-Stream 2 ist beendet
- Die Annäherung Deutschlands an Russland ist
langfristig torpediert
- Deutschland wird teures Flüssiggas aus den
USA kaufen
- Deutschland verzichtet auf russisches Gas, Öl
und Kohle
- Russland wird durch den Krieg und die
Sanktionen geschwächt
- Ein Regime-Change in Russland wird möglich
Im
bekannten Stil der Angelsachsen, so Patruschew, diktieren heute die USA der
Welt ihre Bedingungen und missachten die souveränen Rechte der anderen Staaten.
»Sie
verschleiern ihre Taten mit Worten über den Kampf für Menschenrechte, Freiheit
und Demokratie«,
in Wirklichkeit verträten sie jedoch die Interessen einer kleinen Geldelite. Nach
dem Auftritt von Selenskyj erinnerte der 98jährige ehemalige US-Außenminister
und Politikwissenschaftler Henry Kissinger in Davos daran, dass er beim
Ausbruch der Ukraine-Krise durch den bewaffneten Staatsstreich in Kiew vor acht
Jahren dafür eingetreten sei, dass die Ukraine ein neutraler Staat und eine »Brücke
zwischen Russland und Europa und nicht eine Frontlinie von Gruppierungen
innerhalb Europas« [16] werden
sollte. Das hatten die Drahtzieher des mit 5 Milliarden US-Dollar finanzierten
Putsches aber gar nicht vor. Unabdingbares Ziel war schließlich die Einbindung
der gesamten Ukraine in den Westen. Gegenüber der ›Daily
Mail‹ äußerte sich Kissinger zudem dahingehend, dass der
Westen nichts zu der Niederlage Russlands beitragen solle. Er warnte vor
weiteren Eingriffen des Westens in den Ukraine-Krieg und vor einer sich
zuspitzenden Konfrontation zwischen Peking und Washington.
Die
Angst derjenigen, die das Menetekel an der Wand bemerken, dass sich der Krieg
in die Länge ziehen und sich womöglich ausweiten wird, ist berechtigt. Parallel
dazu steigt die Inflation in bis dahin kaum gekannte Höhen. Das Gespenst der
Verarmung geht wieder um. Anfang der 80er Jahre haben die Menschen in
Deutschland die von der Pershing-II-Aufstellung ausgehende Bedrohung erkannt. Millionen
demonstrierten in den Städten oder bildeten Menschenketten. Obwohl heute die
Kriegsgefahr deutlich gestiegen ist, ist kaum jemand auf der Straße zu sehen.
Liegt das an der fehlenden Aufklärung durch die Medien? Ist die subtile
öffentliche Propaganda so erfolgreich oder sind die Menschen einfach nur müde? Oscar
Lafontaine jedenfalls ist davon überzeugt, dass es in der jetzigen Situation
notwendig wäre, »in
der Tradition der Friedensbewegung der 80er Jahre oder der Demonstrationen vor
dem Irak-Krieg wieder in großer Zahl auf die Straße zu gehen«. [17]
[1] Kathrin Hondl: Zeitenwende in Davos
22.05.2022 https://www.tagesschau.de/ausland/europa/weltwirtschaftsforum-davos-121.html [2] Ebd. [3]
Hat sich der Zeichner hier vom Cover
„Die unterschätzte Macht“ inspirieren lassen? [4]
https://meedia.de/2022/05/27/sz-wegen-selenskyj-karikatur-in-der-kritik/ [5]
https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/id_92263686/sz-karikatur-vorwurf-des-antisemitismus-das-gehoert-nicht-in-eine-zeitung-.html [6] https://www.presseportal.de/pm/136020/4834593 [7] https://www.tbdmediagroup.com [8] Der Welt ein Fenster zu den Diskussionen in
Davos öffnen https://www.wallstreet-online.de/nachricht/15516897-welt-fenster-diskussionen-davos-oeffnen [9] Sowohl in der Ukraine als auch in Serbien
arbeitete Freedom House eng mit lokalen Gruppen zusammen, die für friedliche
demokratische Revolutionen verantwortlich waren Zitiert aus
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=13484 (Original unter
http://www.freedomhouse.org/template.cfm?page=249 (abgerufen am 18. Mai 2008; nicht
mehr im Netz). Das überparteiliche Freedom House wurde am 10. November 1941,
einen Monat vor Kriegseintritt der USA, von Eleanor Roosevelt, Frau des
demokratischen Präsidenten Franklin Roosevelt, und dem republikanischen Kandidaten
von 1940, Wendell Willkie, gegründet. Als Ursache gibt Freedom House die zu
dieser Zeit hoch im Kurs stehenden isolationistischen Tendenzen an. Zunächst
sollte der Nazismus, das totalitäre Böse in Deutschland, abgewehrt werden. Mit Kriegsende
wurde der Kampf gegen das totalitäre Böse in der Sowjetunion aufgenommen, wobei
Freedom House aggressiv den McCarthyism unterstützte. Auf der anderen Seite
setzte sich Freedom House für den Marshall-Plan und die NATO ein. Nach
Beendigung des Kalten Krieges bemühte man sich vor allem um die »fragile
democracies« im ehemaligen Ostblock. Seit 2001 konnten Büros in der Ukraine,
Polen, Ungarn, Bosnien, Serbien, Jordanien, Mexico, und einer Vielzahl von
Ländern in Central Asia eröffnet werden [10] NATO gegen Russland: Was passiert als
Nächstes? https://thecradle.co/Article/columns/10803 [11] Ebd. [12] https://web.de/magazine/politik/russland-krieg-ukraine/strategischen-ziele-verfehlt-scholz-rechnet-davos-putin-36969696 [13] Ebd. [14] Malcolm Chalmers: This War Still Presents Nuclear
Risks – Especially in Relation to Crimea
https://rusi.org/explore-our-research/publications/commentary/war-still-presents-nuclear-risks-especially-relation-crim [15] https://aif.ru/politics/world/pravda_na_nashey_storone_nikolay_patrushev_o_srokah_specoperacii [16] https://www.bmvg.de/de/themen/gsvp-sicherheits-verteidigungspolitik-eu/pesco [17] Ein Gespräch mit Oskar Lafontaine: http://www.defenddemocracy.press/die-usa-wollen-keinen-frieden/
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