Auschwitz war nicht in der Schweiz - Von Jean-Christian Lambelet

Wenige Themen beschämen uns mehr als die Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg. Dafür gibt es aber keinen Grund. Denn wer die Zahlen studiert, muss erkennen: Grosszügiger konnte das Land kaum sein.

Die erste Darstellung der Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs entstand gegen dessen Ende. Die Rede ist vom Film «Die letzte Chance», den der österreichische Regisseur Leopold Lindtberg, seinerseits ein Flüchtling, 1944/45 in der Schweiz drehte. Das Werk schildert, wie sich im Herbst des Jahres 1943 eine Flüchtlingsgruppe durch die Berge durchschlägt, um die Südgrenze der Schweiz zu erreichen. Nachdem sie der deutschen Grenztruppe knapp entkommen ist, erreicht sie endlich Schweizer Territorium, wo sie von einer Patrouille angehalten wird. Die drei Offiziere der Gruppe wissen, dass sie ein Anrecht darauf haben, aufgenommen zu werden. Wie aber steht es mit den anderen, die zivile und somit nach geltendem Gesetz «illegale» Flüchtlinge (d.h. ohne Einreiseerlaubnis) sind und deshalb abgewiesen zu werden drohen? Der Leutnant der Patrouille telefoniert mit «Bern», um ihre Aufnahme zu erwirken. Nach einem Moment der Spannung erhält er eine positive Antwort und der Film hat ein Happy End.
 
«Die letzte Chance», ein sehr gut gemachter und bewegender Film, hatte im Inland wie im Ausland enormen Erfolg. Es gab weder Einwände noch Proteste seitens des riesigen Publikums, das ihn sah und für welches er notabene direkteste, konkreteste und in manchen Fällen selbsterlebte Realität schilderte. Manche Filmkritiker meinten, es sei beinah ein Dokumentarfilm. Das erste Bild der Schweizer Flüchtlingspolitik war also ein absolut positives.
 
Auch ich habe mich geirrt
Danach begann eine Wende, die sich als eigentliche Kehrtwendung erweisen sollte. 1950 sprach Pierre Béguin in einem der ersten Bücher über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg von der «Abscheulichkeit mancher Abweisungen». Der 1957 veröffentlichte offizielle Bericht von Professor Ludwig hielt sich an die Tatsachen, zog aber ein Theaterstück von Max Frisch, «Andorra» (1961), einen Roman von Walter Matthias Diggelmann, «Die Hinterlassenschaft» (1963) und ein Buch von Alfred A. Häsler, «Das Boot ist voll» (1967), nach sich, dessen Titel Markus Imhoof 1980 für einen Film über die Flüchtlingsthematik aufgriff. Diese Werke sprachen von der Flüchtlingspolitik in einem zunehmend negativen anklagenden Ton. Ähnliches gilt von 1970 bis 2000 für die Arbeit von Historikern wie etwa Jacques Picard oder Edgar Bonjour, der so weit ging, vom «Versagen einer ganzen Generation» zu sprechen. Dies gipfelte im Abschlussbericht der Bergier-Kommission, die 2002 zum Schluss kam, durch eine allzu lang ausgeübte restriktive Praxis hätte die Schweiz dazu beigetragen, «dass die Nationalsozialisten ihre Ziele erreichen konnten» - womit im Klartext der Holocaust gemeint ist.
 
Das heute dominierende Bild der nationalen Flüchtlingspolitik - und im weiteren Sinn der Schweiz - im Zweiten Weltkrieg ist somit dasjenige eines kleinen, aber luxuriösen Ozeandampfers geworden, auf dem man komfortabel und in Sicherheit lebte; jedoch auch dasjenige eines Schiffs, das mit abgeschalteten Lichtern gefährliche Gewässer befuhr und dessen Mannschaft sich in egoistischer Weise weigerte, unzählige Schiffbrüchige an Bord zu nehmen, die im Meer um ihr Leben kämpften und um Rettung flehten. Das «weiss heute jeder» und ist fester Bestandteil des politisch korrekten Diskurses in Historikerkreisen und anderswo.
Nichts ist schwieriger, als seinen Geist von solchen «Wahrheiten» zu befreien, wenn diese so allgemein anerkannt sind. So habe auch ich in einem 1999 erschienenen Buch geschrieben, die Schweizer Flüchtlingspolitik sei «ein wenig ruhmvolles Blatt in der Geschichte unseres Landes». Dann allerdings begannen sich in manchen Köpfen, so auch in meinem, Zweifel zu regen, die wuchsen. So entstand eine neue Interpretation dieser Politik, eine Interpretation, die sich vom gegenwärtigen «herkömmlichen Wissensstand» radikal unterscheidet. Warum? Aus verschiedenen Gründen, darunter zuerst einmal aufgrund der Tatsache, dass die herrschende Orthodoxie mit einer entscheidenden Episode, die immer als «sinnbildlich» bezeichnet worden ist, schlicht nicht übereinstimmt.
 
Gemeint ist der am 13. August 1942 verkündete berüchtigte offizielle Beschluss, für alle «illegalen» zivilen Flüchtlinge die Grenze völlig zu schliessen. Das Datum ist wichtig: Denn erst seit Frühling/Sommer 1942 wurde die Politik der Judenvernichtung im von den Nazis dominierten Westeuropa (Holland, Belgien, Luxemburg, Frankreich inklusive der sogenannten freien Zone) in die Tat umgesetzt. In den folgenden Monaten strömten Flüchtlinge, mit grosser Mehrheit jüdische, zur Schweizer Grenze, d.h. vor allem zur genferischen und jurassischen und der zu Savoyen. In dieser, der ersten von vier Wellen, waren die Flüchtlinge in erster Linie Juden. Davor, vom Ausbruch des Krieges bis zum Frühling/Sommer 1942, hatten nur sehr wenige Menschen um Asyl gebeten.
 
Wie die Grafik auf Seite 40 in «Wir ziehen Bilanz»* zeigt, wurde dem Beschluss an Ort und Stelle nicht Folge geleistet. (Die Zahlen sind diejenigen der Bergier-Kommission, die daraus aber nicht den augenfälligen Schluss zog.) Eine genauere Betrachtung zeigt, dass in den Tagen unmittelbar nach dem Beschluss die Praxis etwas restriktiver gehandhabt wurde, dass aber die grosse Mehrheit der «illegalen» Flüchtlinge, die danach kamen (und worunter, wie gesagt, vor allem Juden waren), aufgenommen wurde, nachdem die Grenze offiziell geschlossen worden war.
 
Mit anderen Worten: Zu dem Zeitpunkt, als erklärt wurde, das Boot sei voll, gab es einen wahrhaft eklatanten Gegensatz zwischen der offiziellen Linie der Behörden, die lange sehr hart blieb, und der tatsächlichen Praxis an der Grenze. Zum selben Zeitpunkt riet Bundesrat von Steiger (der für das Dossier zuständig war und von dem das Bild vom vollen Boot stammt) den Verantwortlichen der Region Genf inoffiziell, sich nicht an die offiziellen Verfügungen zu halten; was diese damals und später auch ausgiebig taten. Der gleiche Gegensatz lässt sich bei den drei folgenden Flüchtlingswellen feststellen, abgesehen davon, dass die offizielle Linie ab 1943 gemässigter wurde und damit der tatsächlichen Praxis weniger widersprach.
 
Auch die Gesamtzahlen der aufgenommenen und abgewiesenen Flüchtlinge passen überhaupt nicht zum geltenden Bild. «Die Zahlen, die Zahlen», mögen Sie nun vielleicht einwenden. Dazu muss gesagt werden, dass es während des Kriegs Zigtausende von Flüchtlingen gab. Es war also ein Massenphänomen, das sich einzig statistisch gut analysieren lässt. Mit Einzelfällen und persönlichen Aussagen, wie Hollywood und die Bergier-Kommission sie so gern mögen, lässt sich alles beweisen, auch das Gegenteil davon.
 
Die Zahl der «illegalen» zivilen Flüchtlinge, die während des gesamten Krieges in der Schweiz Zuflucht fanden, beläuft sich auf rund 51’100 Menschen, von denen 21’300 jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung waren, also 42 % oder etwas weniger als die Hälfte. Diese Zahlen bestreitet niemand, abgesehen davon, dass der Anteil der Juden wahrscheinlich etwas zu tief ist, weil sich nicht alle als solche zu erkennen gaben.
 
Eine Chance von zwei zu drei
Die Gesamtzahl der Flüchtlinge, die während des Kriegs zumindest eine Zeitlang aufgenommen wurden, ist hingegen viel grösser: Es waren rund 300’000 Menschen. Abgesehen von den «illegalen» Zivilisten waren dies sehr viele Soldaten und Offiziere sowie Dienstverweigerer, Flüchtlinge auf der Durchreise, Ausländerkinder, die temporär aufgenommen wurden, und schliesslich Menschen, die grenznahe Gebiete bewohnten und beim Ausbruch der Kämpfe in die Schweiz flüchteten. Damit man sich einen Begriff davon machen kann, was diese 300’000 aufgenommenen Flüchtlinge damals bedeuteten, sei daran erinnert, dass die kleine Schweiz in jener Zeit kaum vier Millionen Einwohner hatte und ihre Bevölkerung nur 3 % derjenigen der Nachbarländer ausmachte. Schon in dieser Hinsicht ist ihre «Gesamtleistung» nicht so himmelschreiend, wie etwa das Bild vom Ozeandampfer glauben machen möchte.
 
Wenn also 51’100 «illegale» Flüchtlinge aufgenommen wurden, wie viele wurden dann abgewiesen? Die erste Schätzung dazu findet sich im Bericht von Ludwig (1957), der auf 10’000 abgewiesene Menschen kam, deren Namen aufgrund eines offiziellen Beschlusses vom August 1942 obligatorisch festgehalten wurden. In einer Studie aus dem Jahr 1996 kommt jedoch Guido Koller, ein Historiker des Bundesarchivs, auf eine Gesamtzahl während des Kriegs abgewiesener Flüchtlinge von zumindest 24’500 Personen. Zu den rund 10’000 Flüchtlingen von Ludwig hat er weitere 14’500 anonyme Abgewiesene addiert, auf die er in den Archiven gestossen ist. Da es auch Visaverweigerungen und einige nicht registrierte Abweisungen gegeben hatte, kam er auf eine geschätzte Gesamtzahl von mindestens 30’000 Abgewiesene und Abgeschobene. Diese Zahl stiess auf ein grosses Echo, ist seither immer wieder zitiert worden und wurde blindlings in einen ersten Bericht der Bergier-Kommission aufgenommen. Wie wir sehen werden, ist sie viel zu hoch.
 
Lassen wir diese Zahl von 30’000 Abgewiesenen aber erst einmal stehen und rufen wir uns in Erinnerung, dass um die 51’100 zivile «illegale» Flüchtlinge aufgenommen wurden. Eine einfache Bruchrechnung, welche die Bergier-Kommission aber nicht machen mochte, ergibt, dass durchschnittlich 63 % aufgenommen wurden [51100/51100 + 30000 = 63 %]. Mit anderen Worten: Die Chance, aufgenommen zu werden, war ungefähr gleich zwei zu drei. Finden Sie nicht auch, dass das dem vorherrschenden Bild, wie sich die Schweiz den Flüchtlingen gegenüber verhalten habe, nicht gerade gut entspricht?
 
Neun von zehn Juden durften ins Land
Entscheidend für die wachsende Skepsis angesichts der herrschenden Orthodoxie waren aber Forschungen über die Region Genf, die im Jahr 2000 erschienen, insbesondere eine Studie des Genfer Staatsarchivs. Im Gegensatz zu anderswo sind im Bezirk Genf alle Dossiers über die Flüchtlinge erhalten geblieben. Diese Archivbestände wurden per Computer erfasst und einer strengen Analyse unterzogen. Das Ergebnis war verblüffend: Nicht weniger als 86 % der «illegalen» Flüchtlinge, die sich an der Genfer Grenze meldeten, wurden aufgenommen! Und 92 % der Asylbewerber jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung! Eine weitere dieser Genfer Studien widersprach einem anderen verbreiteten Mythos, dass nämlich praktisch alle abgewiesenen Juden auf der anderen Seite der Grenze verhaftet und in Vernichtungslager geschickt worden seien. Die Studie zeigte nämlich, dass von der kleinen Zahl tatsächlich an der Genfer Grenze abgewiesener Juden nur etwas mehr als ein Zehntel auf den Listen der Deportationszüge figuriert.
 
Man schätzt, dass ungefähr 40 % aller zivilen «illegalen» Flüchtlinge sich an der Genfer Grenze gemeldet haben. Es handelt sich also um eine grosse Stichprobe, die hinsichtlich der Praxis an der gesamten Schweizer Grenze Schlüsse nahelegt. Extrapoliert man nun also auf das ganze Land, so bedeuten 86 % Aufgenommene umgekehrt 8’300 Abgewiesene, entschieden weniger also als Kollers 30’000.
 
Auch aus verschiedenen anderen Gründen ist anzunehmen, dass Kollers Zahl viel zu hoch ist. Aus Platzgründen können sie hier nicht im Detail dargelegt werden, weshalb auf die Angabe am Schluss des Textes verwiesen sei. Doch kurz gesagt: Man hat die Anzahl Abweisungen und Abgewiesener durcheinander gebracht (oft haben dieselben Menschen mehrmals einzureisen versucht), die so entstandenen Mehrfachzählungen blieben unbemerkt; zu Kollers anonymen Abgewiesenen gehören, vor allem an der Südgrenze in den Jahren 1943/44, mit Sicherheit sehr viele Soldaten und Offiziere, Dienstverweigerer und Menschen von unklarem Status (bei der Diskussion geht es aber nur um die zivilen Flüchtlinge) und so weiter.
 
Beim gegenwärtigen Wissensstand und solange keine neueren, besseren Informationen vorliegen, scheint es mir am vernünftigsten, auf die Zahl von Ludwig zurückzukommen, also auf rund 10’000 im Lauf des ganzen Krieges definitiv Abgewiesene, also etwas mehr als die aufgrund der Genfer Zahlen geschätzten 8’300. Damit käme man auf durchschnittlich 84 % Aufgenommene, also eine Chance von fast achteinhalb auf zehn. Für die Juden bleibt man am besten bei einer Aufnahmechance von über 90 %. Eine Einschränkung sei noch  gemacht: Im Tessin läuft zurzeit ein Forschungsprojekt über Flüchtlinge an der Südgrenze, wo die Situation oft sehr unklar war. Sollten die örtlichen Archive hinsichtlich jener Grenze eine ähnlich präzise Arbeit erlauben wie die Genfer Archive für die Genfer Grenze, müssten die eben gemachten Schätzungen vielleicht nach oben oder unten korrigiert werden. 
 
Bleibt das Schwierigste: Wie ist all das zu interpretieren? Wie soll man die Flüchtlingspolitik beurteilen? Hier in groben Zügen mein Vorschlag einer Interpretation. Um die Handlungen eines Landes beurteilen zu können, muss man sich ebenso wie bei einem Individuum die Frage stellen: Was hätte es anders machen können und sollen? Was dies betrifft, so ist eines unbestritten: Es war völlig ausgeschlossen, dass die Schweiz ihre Grenzen ganz öffnete und alle Zufluchtsuchenden aufnahm. In Westeuropa gab es damals Millionen potentieller Flüchtlinge, von denen viele, wären die Grenzen ganz geöffnet worden, versucht hätten, in der Schweiz unterzukommen. Dies hätte zu einer Flutwelle geführt, welche die Aufnahmekapazitäten eines so kleinen Landes völlig überfordert hätte. Es musste also irgendwo eine Limite festgelegt werden, wodurch Abweisungen unvermeidlich wurden, so schmerzlich es ist, dies zuzugeben. Schon gut, sagen Sie jetzt vielleicht, aber hätte die Schweiz, wenn sie sich schon nicht ganz öffnen konnte, sich nicht wenigstens weiter öffnen und mehr Flüchtlinge aufnehmen können, als sie tatsächlich aufgenommen hat? Dazu drei Bemerkungen.
 
Behördliche Zwänge
Erstens: Zu dieser Zeit sagte man: «Je mehr Flüchtlinge man aufnimmt, desto mehr kommen.» Es wäre deshalb durchaus möglich, dass eine grössere Öffnung der Grenzen paradoxerweise eine grössere Zahl von Abweisungen nach sich gezogen hätte. Wäre dies der Fall gewesen, hätten die Historiker mit der Vorliebe für moralische Urteile daraus den Schluss gezogen, dass die Schweiz ihre Grenzen noch weiter hätte öffnen müssen - und so weiter und so fort.
 
Zweitens: Hätte man sämtliche Menschen, denen der Tod drohte - also nicht nur Juden - aufnehmen wollen, hätte man die Schwierigkeit gehabt herauszufinden, auf wen dies wirklich zutraf, denn jeder wäre daran interessiert gewesen, die ihm drohenden Gefahren möglichst drastisch zu schildern. (Was oft auch heute bei Asylbewerbern der Fall ist, und zwar aus denselben Gründen: Man versucht seine Chance, nicht abgewiesen zu werden, möglichst zu vergrössern.) Automatisch alle Juden, aber nur diese, aufzunehmen, wäre gegenüber anderen Menschen, die ebenfalls in grosser Gefahr schwebten, ethisch nicht vertretbar gewesen. Und wären, überspitzt gesagt, dann nicht plötzlich alle zu Juden geworden?
 
Drittens: Es ist möglich und meiner Meinung nach höchstwahrscheinlich, dass im Falle einer immer grösseren Öffnung der Grenzen der Moment gekommen wäre, dass man überall in Europa das Gefühl gehabt hätte: Wenn ich bis zur Schweizer Grenze komme, werde ich fast sicher aufgenommen. Und dies hätte schlagartig eine auf keine Weise bewältigbare Massenbewegung ausgelöst.
 
Die eigentliche Frage lautet deshalb: Hat sich die Schweiz diesem Punkt höchster Belastung, von dessen Existenz ich überzeugt bin, so weit wie nur möglich angenähert? Auf diese kontrafaktische Frage kann niemand und wird niemand je mit Bestimmtheit antworten können. Man kann nur sagen, dass dies angesichts der beträchtlichen Höhe der damaligen Aufnahmewahrscheinlichkeit eine Hypothese ist, die nicht ausgeschlossen werden darf. Anders gesagt: Die von der Schweiz gegenüber den Flüchtlingen praktizierte Politik war sehr grosszügig. Ob wir grosszügiger hätten sein können, ist schwer zu entscheiden. Immerhin möchte ich nicht ausschliessen, dass wir alles getan haben, was möglich war.
 
Damit bleibt, den schreienden Gegensatz zwischen der offiziellen Linie, die unbestreitbar lange Zeit sehr hart blieb, und der tatsächlichen Praxis an Ort und Stelle zu erklären. Meine Interpretation ist die, dass die beiden einander ergänzten. Die objektive Funktion der offiziellen Linie war, auf die Masse potentieller Flüchtlinge abschreckend zu wirken. (Eine weitere war, jenen Teil der Bevölkerung zu beruhigen, der einen zu grossen Flüchtlingsstrom befürchtete.) Ausser gegen Ende des Kriegs war es den Behörden schlicht nicht möglich, zu verkünden oder auch nur zu verstehen zu geben, dass sie sich flüchtlingsfreundlich verhalten würden. Gleichzeitig gaben diese Behörden oft sehr unklare Anweisungen; oder sie milderten zuweilen diese Anweisungen, wie im Falle von Steigers, aufgrund oft vehementer Proteste der Bevölkerung; vor allem aber liessen sie den Ausführenden an Ort und Stelle immer grossen Handlungsspielraum. All diese Dinge ermöglichten die beschriebene tatsächliche Praxis.
 
Die Bergier-Kommission fantasiert
Ist man bereit, die damalige Situation realistisch und emotionslos zu betrachten, auch wenn dies schwer fällt, so ist der Schluss vollkommen klar: Im Gegensatz zur offiziellen Linie entsprach die tatsächlich praktizierte Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs sehr wohl den humanitären Traditionen des Landes, und es besteht keinerlei Anlass, sich ihrer zu schämen. Einen Baum beurteilt man nach seinen Früchten und die Flüchtlingspolitik nach ihrer tatsächlichen Praxis und nicht nach der offiziellen Linie. Frappanterweise äussern selbst überzeugte Verteidiger des Verhaltens der Schweiz im Zweiten Weltkrieg öfter Vorbehalte, wenn es um die Flüchtlingspolitik geht. Warum? Meiner Meinung nach rührt dies zumindest teilweise von der Scham her, die fast alle von uns heute beim Gedanken empfinden, dass sich eine so schreckliche Tragödie wie der Holocaust im angeblich zivilisierten Europa ereignen konnte und dass alle mehr oder weniger mitverantwortlich waren. Tatsächlich hatte die Schweiz jedoch absolut nichts mit der Planung und der Durchführung des Genozids am jüdischen Volk zu tun. Durch ihre Flüchtlingspolitik trug sie vielmehr dazu bei, die Auswirkungen dieses Genozids, soweit ihre sehr beschränkten Mittel dies zuliessen und vielleicht so gut sie konnte, zu mildern. Dieser Schluss besagt das exakte Gegenteil desjenigen der Bergier-Kommission.
 
Warum hat diese Kommission keine der Studien, insbesondere die genferische, und keine der Interpretationen berücksichtigt, die in diese Richtung deuteten, obschon der grösste Teil davon öffentlich vorlag, lange bevor die Kommission ihre Arbeit abgeschlossen hatte? Man braucht darüber keine grossen Spekulationen anzustellen: Die Antwort findet sich in einem neueren Text von Georg Kreis (Revue Suisse d’Histoire, 2004, 54/3, S. 314–330), einem Text, den ich als geradezu unfassbar empfinde. Kreis, Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus und andere helvetische Makel; selbsternannter Hüter der Rechtschaffenheit des Schweizervolkes; vielschreibender und weitschweifiger Historiker, um nicht zu sagen: Hansdampf in allen Gassen; Anhäufer von Mandaten und Funktionen; Mitglied der Freisinnigen Partei (man fragt sich, wie und warum) - Kreis also war die treibende Kraft der Bergier-Kommission. Im erwähnten Text sagt er klipp und klar, der (seiner Meinung nach verfehlte) Zweck der Übung sei gewesen, die Schweiz mit ihrer mutmasslichen Verantwortung zu konfrontieren, ihre Bevölkerung hinsichtlich ihrer Schuld und so weiter historisch zu erziehen - nicht aber (muss man daraus schliessen) auf wissenschaftliche Art und vorurteilslos die historische Wahrheit zu erschliessen. Ohne Zweifel deshalb hat die Kommission eine Menge erhärteter Fakten und schlagender Interpretationen, die nicht in die gewünschte Richtung deuteten, ignoriert oder bagatellisiert.
 
Kurz: Im Schlussbericht hat uns die Bergier-Kommission nicht die Geschichte, sondern Geschichten erzählt, sowohl was die Flüchtlinge wie auch viele andere Gebiete betrifft. Clemenceau sagte, der Krieg sei eine zu ernsthafte Sache, als dass man ihn den Militärs überlassen dürfe. Ebenso ist die Geschichte unseres Landes zu wichtig, als dass man nur den Spezialisten, oder jedenfalls manchen von ihnen, vertrauen dürfte. Der Filmregisseur Leopold Lindtberg war da der bessere Historiker.
 
*«Wir ziehen Bilanz - Zur Haltung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg », Th.-Gut-Verlag, 2005, ISBN 3-85717-169-3
 
Jean-Christian Lambelet ist Ökonom. Lange Jahre hindurch war er ordentlicher Professor an der Universität Lausanne, wo er das Konjunkturforschungsinstitut Créa leitete. Der obige Text stützt sich auf seinen Beitrag zu dem neuen Buch des Arbeitskreises ‚Gelebte Geschichte’: «Wir ziehen Bilanz», sowie auf weitere historische Analysen, die sich grösstenteils unter http://www.hec.unil.ch/jlambelet finden lassen.
Aus dem Französischen von Thomas Bodmer
Hervorhebungen durch politonline
 
In diesem Zusammenhang verweisen wir insbesondere auf das heute auf politonline vorgestellte Buch von Harry Zweifel ‚Uns trifft keine Schuld’