Kräftezersplitterung als Demokratie-Fetisch? Zwiespältiger «Sieg» des Herrn Professor Pukelsheim - von Nationalrat Ulrich Schlüer

Es war das Bundesgericht, das ein historisch gewachsenes, durchaus bewährtes, im Stimmvolk solide verankertes und verstandenes, von Wahlverlierern naturgemäss zuweilen kritisiertes Wahlverfahren plötzlich und überraschend als «der heutigen Demokratie nicht mehr gewachsen» für nichtig erklärte. Nach anfänglicher Unschlüssigkeit berief der Kanton Zürich, also vom Bundesgericht zurechtgewiesen, den Augsburger Professor Friedrich Pukelsheim, auf dass er neue Berechnungsmethoden für eine angeblich gerechtere Sitzverteilung im Kantonsparlament erarbeite. Nachdem jetzt erstmals Resultate von Pukelsheims neuen Zählmethoden vorliegen, reiben sich einige ob der «neu gefundenen Gerechtigkeit» verwundert die Augen.

Verzerrende Resultate
Die stärkste Partei (Namen tun für einmal nichts zur Sache), welche die Politik zu den wesentlichen Fragen in den letzten Jahren bestimmt und die Verantwortung dafür getragen hat, wurde vom Wähler in ihrer Gesamtstärke präzise bestätigt: Sie hielt ihren Wähleranteil. Trotzdem wurden ihr fünf Mandate abgesprochen: «Neue Gerechtigkeit». Als «Nebenprodukt» wurde damit das Ende der bürgerlichen Mehrheit im Kantonsparlament durchgesetzt. Eine andere, kleine Partei vermochte ihren Stimmenanteil von 2,1 % auf 2,8 % Prozent auszuweiten. Dieser Gewinn von 0,7 % am Wähleranteil trug dieser Partei sage und schreibe vier Sitzgewinne (von einem auf fünf) ein. Noch grotesker ist das Resultat einer am äussersten linken Flügel angesiedelten Splitter-Partei. Sie vermochte ihren marginalen Stimmenanteil von 0,9 auf 1,3 % zu vergrössern - was ihr volle zwei Sitzgewinne sicherte. Eine andere Kleinpartei erreichte im kantonalen Durchschnitt haargenau gleiche 1,3 % Stimmenanteil. Trotzdem verlor sie ihren einzigen Sitz und ist im neuen Zürcher Kantonsrat nicht mehr vertreten. Der Unterschied: Die Linksextremen überschritten in einem Stadtzürcher Wahlkreis die Drei-Prozent-Marke deutlich, in einem zweiten sehr knapp; auf der Landschaft bewegten sich ihre Resultate dagegen im Bereich von Bruchteilen eines einzigen Prozents. Die andere Kleinpartei erreichte ihre 1,3 %, indem sie über den ganzen Kanton verteilt ein regelmässiges Resultat erzielte, allerdings in keinem Wahlkreis drei Prozent übertraf. Deshalb ist sie gemäss Professor Pukelsheim «parlamentsunwürdig». Wer dagegen all seine Kräfte auf einen einzigen Wahlkreis konzentriert, sich um den Rest des Kantons aber foutiert, der ist nach Urteil Pukelsheim «flächendeckend parlamentswürdig».
 
Reine Willkür
Ist solch ein Machtwort von Professor Pukelsheim etwas anderes als reine Willkür? Auch wenn Journalisten und Parteistrategen (vor allem Gewinner) daraus grossspurig angeblichen «Wählerwillen» ableiten. Sie schwadronieren von «Absage an die Verantwortung tragenden grossen Parteien» und vom Willen der Wähler, die Kleinen zu begünstigen. Aus den erfolgten Stimmabgaben lässt sich solches nirgends belegen. Allein die Manipulation am Wahlverfahren hat die erwähnten Sitzveränderungen bewirkt.
 
Tatsächliches Ergebnis der Pukelsheim-Wahl ist die maximale Zersplitterung der politischen Kräfte - offensichtlich auch vom Bundesgericht als Nagelprobe für das Wesen echter Demokratie eingestuft. Ob die Kräfte-Zersplitterung wirklich das einzige Ziel einer demokratischen Wahl sein darf? Ob es nicht auch im Interesse der Bürger und der von ihnen demokratisch getroffenen Wahl ist, entscheid- und durchsetzungsfähige Mehrheiten entstehen zu lassen, damit Regierungen auf der Grundlage tragfähiger Mehrheiten im Parlament Stabilität sicherndes politisches Handeln entfalten können? Ist für unser nicht unwesentlich von links-grünen Tonangebern und pseudobürgerlichen Mitläufern geprägtes Bundesgericht die maximale Kräfte-Zersplitterung das für eine echte Demokratie wirklich einzig ausschlaggebende Attribut? Liegt Handlungsfähigkeit der Behörden tatsächlich nicht auch im Interesse der Bürger? Ist die vom Bundesgericht getroffene Abstufung bei der Qualifizierung von Demokratie etwas anderes als reine, allein politisch motivierte Willkür? Ist die Verurteilung einer Kleinpartei zum politischen Nonvaleur, nur weil sie ihr Resultat über den ganzen Kanton regelmässig verteilt erzielt hat, etwas anderes als nackte Willkür, wenn gleichzeitig einer anderen, das haargenau gleiche Resultat erzielenden Partei Parlamentsfähigkeit attestiert wird, selbst wenn diese bloss in einem einzigen von insgesamt 18 Wahlkreisen einigermassen markant in Erscheinung zu treten vermag? Als würde die schweizerische Demokratie denen, die sich bloss punktuell durchsetzen können oder wollen, nicht auf lokaler Ebene durchaus auch ausreichende politische Entfaltungsmöglichkeiten öffnen. Wie will das Bundesgericht anders als willkürlich-politisch begründen, dass allein Kräftezersplitterung, nicht aber Handlungsfähigkeit eine Eigenschaft sei, die der Bürger von einem gewählten Parlament erwartet?
 
Wähler als Einheitsmasse
Das Zaubermittel zur Herbeiführung angeblich ideal-demokratischer Zersplitterung der Kräfte besteht darin, die Stimmbürgerschaft eines Kantons allein als «Gesamtmasse» einzustufen. Dass in den Bezirken, solange sie als eigenständige, in sich geschlossene Wahlkreise behandelt werden, ganz selbstverständlich auch Minderheiten der Gesamtbevölkerung zum Zug kommen, die dann, wenn die Gesamtbürgerschaft bloss als Einheitsmasse gewertet wird, weitgehend chancenlos bleiben, wird ausgeklammert - von Pukelsheim wie vom Bundesgericht.Ob irgend jemand erkennt, welch bedeutende politische Wirkung von dieser Weichenstellung ausgeht? Weil die Schweiz in der Vergangenheit Wahlkreise auf Bundes- wie auf kantonaler Ebene immer sorgfältig aus historisch gewachsenen Amtsbezirken oder eben Kantonen heraus bildete, hatte sie es - im Gegensatz zu den meisten andern Ländern - nie nötig, gesetzliche Bestimmungen zum Schutz einzelner Minderheiten festzulegen. Die Minderheiten fanden in diesem aus historischen Gegebenheiten gewachsenen Aufbau unseres Staats ganz direkt Zugang zur Demokratie, Zugang ins Parlament - auf kantonaler wie auf Bundesebene. Eine föderalistische Errungenschaft, die weltweit bewundert wird - nur den Zentralisten (und neuerdings offenbar auch dem Bundesgericht) scheint sie nicht in den Kram zu passen. Professor Pukelsheim mag ein Zahlenvirtuose sein. Ob er die Idee, die hinter dem föderalistischen Aufbau der Schweiz steht, zu erfassen vermag, das steht allerdings auf einem anderen Blatt.
 
Und die Bundesebene?
Überträgt man den Zahlenfetischismus von Professor Pukelsheim vom Kanton auf die Bundesebene, dann werden die Auswüchse der Pukelsheimer Berechnungsmethoden noch grotesker. Einerwahlkreise (wie heute in Uri, Glarus, Ob- und Nidwalden sowie beiden Appenzell) müssten mangels Masse als undemokratisch ausgemerzt werden. Es müssten dann entweder mehrere kleine Kantone zu einem grösseren Wahlkreis zusammengefasst werden (Innerschweiz, Ostschweiz), womit es zwangsläufig auch nationalratslose Kantone gäbe. Oder ein kleiner Kanton mit Einerwahlkreis müsste mit einem Kantonsfremden «beglückt» werden, der im Kanton, den er vertritt, nie gewählt wurde. Oder es müsste ein in einem anderen Kanton klar Gewählter auf sein Amt verzichten, weil ihm ein durch Sonderrecht privilegierter Kandidat aus einem kleinen Kanton vorgezogen werden müsste. Eine Lösung absurder als die andere. Für das neuerdings stur auf Zentralismus und Gesamtmasse eingeschworene Bundesgericht aber offenbar demokratisch.
 
Zum Glück sind Kantone und Wahlkreiseinteilung auf Bundesebene in der Bundesverfassung ausdrücklich verankert. Das lässt Veränderungen ohne Volksabstimmung nicht zu. Damit dürfte Herr Pukelsheim trotz bundesgerichtlichem Support noch für einige Zeit auf die Warteschlaufe verwiesen bleiben. So leicht wird sich der Souverän den gewachsenen, bewährten, Gerechtigkeit auch Minderheiten sichernden Föderalismus nicht aus der Hand schlagen lassen. Auch wenn dieser Föderalismus - vor allem gegenüber der EU - die Schweiz zum «Sonderfall» stempelt. Oder ist es gerade diese viele störende «Sonderfall»-Rolle, welche die Zentralisten in unserem Land besonders dazu antreibt, eine bewährte föderalistische Errungenschaft der Schweiz so verbissen zu bekämpfen?
 
Vorbild Weimar?
Herr Professor Pukelsheim ist Deutscher. Er mag ein gewiefter Zahlenakrobat sein. In der Geschichte seines Landes scheint er freilich weniger bewandert. Kein anderes Land in Europa hat mit Kräfteverzettelung im Parlament nämlich drastischere Erfahrungen gemacht als Deutschland. Dies in der Zeit der Weimarer Republik. Damals wurde durch das Wahlsystem die Zersplitterung der Kräfte im Deutschen Reichstag dermassen begünstigt, dass sich das Parlament schliesslich selbst blockiert hat. Das hat damals - in schwieriger Zeit und im Angesicht dringend der Lösung harrender Probleme - auch die Regierung zunehmend gelähmt, was nicht unwesentlich zum Aufstieg der Nationalsozialisten beitrug. Diese konnten damals das bis zur Wirkungslosigkeit blockierte Parlament skrupellos - und mit wachsendem Echo in der vom Parlamentarismus enttäuschten Öffentlichkeit - als nutzlose «Schwatzbude» diffamieren. Mit den bekannten Folgen. Deutschland hat - offenbar mit Ausnahme Pukelsheims - aus den negativen Erfahrungen der heillos zerstrittenen Weimarer Republik Konsequenzen gezogen. Die heute bundesweit für den Parlamentseintritt zu erreichende Fünf-Prozent-Hürde ist sichtbares Resultat davon. Niemand kritisiert dieses Erfordernis ernsthaft als undemokratisch, weil es wesentlich zur Entscheidungsfähigkeit des Deutschen Bundestags beiträgt.
 
Mehr als verwunderlich, dass das Schweizer Bundesgericht diese doch äusserst drastische Weimarer Erfahrung Deutschlands einfach in den Wind schlägt und allein jenem Zahlen-Fetischismus Demokratie-Würdigkeit zusteht, der in der Realität der maximalen Kräfte-Zersplitterung Vorschub leistet. Es wird sich zeigen, ob sich auch in der Schweiz um der Entscheidfähigkeit des Parlamentes willen die Fünf-Prozent-Klausel durchsetzt. Wenn gewachsene Wahlkreise schon mutwillig zerstört oder zumindest ihres wohldurchdachten politischen Gehalts beraubt werden, wäre diese Fünf-Prozent-Hürde im Dienst einer funktionsfähigen Demokratie eigentlich unverzichtbar.
 
Quelle: Schweizerzeit vom 20. April 2007