Israels unterschiedliche Maßstäbe - Von Evelyn Hecht-Galinski

Der Geschichtsverdrehung und Mystifizierung einer Staatsgründung im Beitrag »Ein Kampf für Sicherheit und Frieden« von Shimon Stein in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. Juli möchte ich vehement widersprechen, gerade auch angesichts der für mich schmerzlichen Tatsache, daß er 2008 der Heinz-Galinski-Preisträger sein wird. Solange die Vertreibung und Enteignung der Palästinenser, die mit der Gründung des Staates Israel einherging, ignoriert wird, ist eine Lösung des Nahost-Konflikts nicht möglich.

Die zionistische Ideologie und später die israelische Politik haben 1948 zum Untergang der Palästinenser beigetragen. Seit die zionistische Bewegung im späten neunzehnten Jahrhundert nach Palästina kam, träumte sie davon, soviel Land wie möglich zu erobern, um darauf einen jüdischen Staat zu gründen. Ein wichtiges Ziel war es, in diesem Staat so wenig Palästinenser wie möglich zu belassen. Diese Vision wurde zur Realität, als die israelische Armee in weniger als einem Jahr, zwischen Februar und Oktober 1948, systematisch 500 palästinensische Dörfer zerstörte. Die Hälfte der einheimischen Bevölkerung wurde in dieser Zeit vertrieben, ihr Besitz beschlagnahmt, um palästinensische Spuren zu verwischen. So ist der Staat Israel eine Ethnokratie, also eine Demokratie nur für Juden geworden.
 
Stein vertritt mit seinen Ausführungen genau diese jüdische autistische Gesellschaft Israels, die ihre Verantwortung für das Leid der palästinensischen Bevölkerung nicht wahrnehmen will. In welchen Grenzen sollen denn die Palästinenser den Staat Israel anerkennen? Tatsache ist, daß es die israelische Führung bei der Staatsgründung absichtlich unterließ, die Staatsgrenzen zu definieren. Seither hat Israel das, was es als sein Staatsgebiet betrachtet, kontinuierlich und mit Gewalt ausgeweitet. Israel glaubt, es könne mit diesen Maßnahmen die Zeit verrinnen lassen und einen lebensfähigen Palästinenserstaat verhindern. Wenn wir Israel weiterhin die Behauptung abnehmen, eine Zweistaatenlösung scheitere an den Palästinensern, machen wir uns mitschuldig an diesem Unrecht. Doch die Weltgemeinschaft hofiert einen Staat, der über die besetzten Gebiete einen in seiner Grausamkeit fast einmaligen Belagerungszustand verhängt hat, offiziell eine Politik des Tötens durch Exekutionen praktiziert und in den palästinensischen Gebieten weiterhin ungebremst siedelt. Checkpoints werden nicht abgebaut, durch das Westjordanland führt eine »Apartheidautobahn«, die nur von israelischen Staatsbürgern benutzt wird, und die Annexionsmauer ragt tief in besetztes palästinensisches Gebiet hinein - nicht aus Sicherheitsgründen, sondern wegen der Ansprüche auf eine Gebietserweiterung.
 
Wo bleibt der Aufschrei der Welt, wo der Hinweis auf die Verpflichtung Israels, nach internationalem Recht ohne Diskriminierung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit in den besetzten Gebieten zu sorgen? Das Völkerrecht sichert den Palästinensern auch das Recht zu, ihre natürlichen Ressourcen gebrauchen zu können. Das heißt zum Beispiel auch, daß alle Bewohner der Westbank regelmäßig mit der gleichen Menge von Wasser zu versorgen sind wie die Siedler in ihren Luxussiedlungen. Wo bleibt die Empörung, wenn der amerikanische Präsidentschaftskandidat Barack Obama sagt, daß Jerusalem in alle Ewigkeit die ungeteilte Hauptstadt Israels zu bleiben habe? Und wie lange nimmt die Weltöffentlichkeit noch Israels militärische Drohungen als kriegsbereite Atommacht hin?
 
Diese neue, menschenverachtende Kriegslogik, die Atomschläge oder Präventivkriege rechtfertigt, macht mich betroffen und zeigt, daß Israel bei der Bewertung menschlichen Lebens unterschiedliche Maßstäbe anwendet. Shimon Stein schreibt: »Die Bewahrung des jüdischen und des demokratischen Charakters unseres Staates ist für die Israelis ein wesentlicher Grund, den israelisch-palästinensischen Konflikt beizulegen.« Diese Bemerkung ist eine Verhöhnung der palästinensischen Bevölkerung, die von einem demokratischen Zusammenleben mit Israel weit entfernt ist. Gerade im Angesicht unserer gemeinsamen Vergangenheit müssen kritische Anmerkungen zu begangenem Unrecht möglich sein, auch wenn sie Israel betreffen.
 
Quelle: http://www.faz.net/p/Rub9B506AD2540F4501B13AD51619B2B99B/Dx1~E06284DE5C9972AC84F2755597C7BD8B4~ATpl~Ecommon~Scontent.html; Text: F.A.Z. 173 vom 26. 07. 2008, Seite 19