Der NSU-Prozess 20.04.2013 18:10
Wer immer das Buch von Andreas von Bülow »Operationen unter falscher Flagge«
und die grossangelelgte Recherche von Daniele
Ganser »NATO-Geheimarmeen in Europa« gelesen hat, wird sich hinsichtlich des bevorstehenden
NSU-Prozesses seine eigenen Gedanken machen. Bei diesem Prozess muss bekanntlich
eine angemessene Zahl von Sitzplätzen an Vertreter ausländischer Medien, die
einen besonderen Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten haben, vergeben
werden. Die türkische Tageszeitung ›Sabah‹, die in dieser Sache eine Beschwerde eingelegt
hatte, nahm das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Platzvergabe im
NSU-Prozess mit Erleichterung auf: »Wir
haben uns nicht zu Unrecht ungleich behandelt gefühlt. Das Gericht hat ein ganz
klares Signal gesetzt.« Im ersten Verfahren hatte
Medien aus der Türkei keinen festen Platz bekommen. Der Vizechefredakteur von ›Sabah‹, Erel, hat die
Entscheidung begrüßt. Er sprach von einem fairen und transparentem Prozess, bei
dem jeder Pressevertreter jetzt die gleichen Chancen habe. Das Münchner
Oberlandesgericht wird die Presseplätze beim NSU-Prozess nun im Losverfahren
vergeben; für türkische Medien sind vier Plätze reserviert. Der Chefredaktor
der Zeitschrift ›COMPACT‹, Jürgen Elsässer, hat in seine Gedankengänge hierzu in dem
nachfolgenden Artikel niedergelegt:
Ergenekon-Phantom und
NSU-Phantom - Zwei parallele Prozesse in
der Türkei und in Deutschland sollen die Macht der Globalisten zementieren Nicht nur der NSU-Prozeß in Deutschland ist ein Jahrhundert-Prozeß. Noch
wichtiger ist das Ergenekon-Verfahren in der Türkei, und in vielem
vergleichbar. Doch während sich das Erdogan-Regime den Mund zerriß, weil
in München keine Prozeßplätze für türkische Medien reserviert worden waren,
läßt es im
eigenen Land die demokratische Öffentlichkeit beim Ergenekon-Prozeß
verprügeln und einschüchtern. Und vielleicht noch schlimmer: Kaum ein deutsches
Medium nimmt Notiz davon! Am Wochenende vom 6. und 7. April demonstrierten
10.000 türkische Demokraten in Berlin gegen die Ergenekon-Farce: Hat irgendeiner etwas davon gelesen?
In der deutschen Presse kommen nur pro-Erdogan-Medien aus der Türkei zu Wort,
wie die Tageszeitung ›Sabah‹, die aber im Ergenekon-Verfahren stramm an der
Seite des Regimes steht. Türkische Demokraten und Patrioten, die gegen Erdogan
stehen, werden in deutschen Medien allerdings ignoriert.
Um was geht es bei Ergenekon: Die Erdogan-Justiz wirft Hunderten von Personen die
Mitgliedschaft in einer Terror-Organisation vor. Die Staatsanwaltschaft
fordert für 64 Personen – unter ihnen Journalisten, Ärzte, Wissenschaftler,
Geschäftsleute und Militärs – lebenslange
Freiheitsstrafen. Der Prozeß in der Stadt
Silivri nähert sich dem Ende. Deswegen demonstrierten auch dort am 8. 4. Zehntausende. Die Polizei setzte neben
Wasserwerfern auch Tränengas ein, um die Proteste unter Kontrolle zu bringen. »Wir sind
hier, um unsere Stimme für die Gerechtigkeit zu erheben. Mehr wollen wir nicht«,
zitiert das Nachrichten-Portal ›Haber 7‹ den Abgeordneten der sozialdemokratischen CHP,
Mahmut Tanal. Bei Ergenekon geht es, oberflächlich betrachtet, um den ›tiefen Staat‹. Den
Angeklagten wird vorgeworfen, mit Terror und Attentaten einen Putsch
vorbereitet zu haben. Alle Angeklaten gelten als ›Ultranationalisten‹, weil sie den Nationalstaatsgedanken von Kemal
Atatürk verteidigen – gegen die
islamistischen Tendenzen von Erdogan und die Eingriffe von NATO und EU in die
nationale Souveränität der Türkei. Das Schema der Anklage und der öffentlichen
Kampagne ähnelt dem NSU-Verfahren: Der reale ›tiefe
Staat‹ aus Geheimdiensten, NATO-Militärs und Extremisten
baut – unter Hinweis auf einzelne Figuren auf der Anklagebank – einen imaginären
›tiefen Staat‹ zusammen,
der ersatzweise abgeurteilt
wird. Ergenekon ist ein Phantom-Konstrukt, so wie NSU auch. Die Kampagne zielt,
in der Türkei wie in Deutschland, gegen die ›Ultranationalisten‹, also gegen alle auf irgendeine Weise ›Rechten‹, die der neuen globalistischen
Ausrichtung des realen ›tiefen Staates‹ im Wege stehen.
Konkret zur NSU: Der ›reale tiefe Staat‹ aus Leuten wie dem Agenten Andreas Temme
[hessischer Verfassungsschutz] projiziert alle Verbrechen, an denen er
beteiligt war, auf eine kleine Substruktur, die Zwickauer Zelle, die zwar Dreck
und Blut am Stecken haben, aber eben
nur eine weisungsgebundene Substruktur war. Näheres hierzu in ›COMPACT-Spezial zum NSU‹: Neonazis, V-Männer und Agenten. Wichtig ist
jedenfalls, daß die kritische Öffentlichkeit in der Türkei, die
sich bisher hauptsächlich für Ergenekon interessiert, und die [viel kleinere]
kritische Öffentlichkeit in Deutschland, die den Lügen der NSU-Ankläger nicht
glaubt, zusammenfindet. Das ist eine Kampagne, eine Front! Es geht nicht um die
Aburteilung von Angeklagten, die im Einzelfall durchaus schwere Schuld auf sich
geladen haben – es geht um die
Zerstörung aller patriotisch-republikanischen Kräfte durch die realen
Schattenmächte, den tiefen Staat der Globalisten.
Meine türkischen Freunde, endet Elsässer, die Ihr dies lest: Zur
Koordinierung unserer Anstrengungen bitte ich diejenigen unter Euch, die gut
deutsch sprechen, sich mit mir in Verbindung zu setzen: elsaesser@compact-magazin.com [1]
›Von Spitzeln umstellt‹ so
der Titel eines Beriches von German Foreign Policy [2], der sich mit dem NSU befaßt: Eineinhalb Jahre nach dem
Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bleibt die Aufklärung
über die Position staatlicher Stellen gegenüber der Nazi-Terrorgruppe weiterhin
aus. Mittlerweile ist bekannt, daß nicht nur
die Ursprungsorganisation des NSU zahlreiche V-Leute diverser Geheimdienste in
ihren Reihen hatte. Auch das Umfeld des NSU im Untergrund ist nach aktuellem
Recherchestand von mindestens zwei Dutzend Kontaktpersonen
staatlicher Stellen durchsetzt gewesen. Eine Einschätzung des
Landeskriminalamtes in Nordrhein-Westfalen, der NSU-Nagelbombenanschlag vom 9.
Juni 2004 in Köln habe einen ›terroristischen‹ Hintergrund, wurde innerhalb nur
einer halben Stunde auf Anweisung des nordrhein-westfälischen Innenministeriums
kassiert. »Der
Kern des NSU«
sei de facto »von bezahlten Kontaktpersonen
der Behörden umstellt gewesen«, urteilt Paul Wellsow, Mitautor mehrerer
Publikationen zur Thematik mit Blick auf die V-Leute im Umfeld der
Terrororganisation [3]. »Es sei ›unglaubwürdig‹, einfach ›nur‹ von Pleiten, Pech
und Pannen' zu reden.« Man müsse die Frage stellen, »welche
Beziehungen zwischen den Geheimdiensten, organisierter Kriminalität und der
extremen Rechten in Deutschland tatsächlich bestehen.«
V-Leute im Umfeld des
NSU Aktuelle
Recherchen belegen, daß sogenannte V-Leute
diverser staatlicher Behörden von Beginn an in engem Kontakt
zum ›harten Kern‹ des NSU standen. Bereits kurz nach dem Auffliegen des Terror-Trios
war bekanntgeworden, daß der ›Thüringer Heimatschutz‹ - die Neonazi-Truppe, der die drei
Anfang 1998 abgetauchten Neonazi-Terroristen entstammten - nicht nur in
beträchtlichem Maße von Geheimdienst-Spitzeln durchsetzt, sondern auch unter Nutzung von Verfassungsschutz-Honoraren
in sechsstelliger Höhe aufgebaut worden war. Auch nach dem Abtauchen
des NSU waren V-Leute verschiedener Behörden im Umfeld des Terror-Trios platziert
- mindestens ›zwei Dutzend‹, wie es in einem aktuellen Überblick
heißt. Ein V-Mann habe den Untergetauchten Geld zukommen lassen, ein weiterer
habe ihnen zunächst Sprengstoff und später ihre erste Untergrundwohnung
beschafft. Die Baufirma eines dritten V-Mannes habe schließlich ›im Zeitraum zweier Morde, die dem NSU
zugeschrieben werden, Fahrzeuge angemietet‹ - ein Zusammenhang zu den Taten sei
dabei, heißt es, nicht auszuschließen. [4]
Zurückgepfiffen Bemerkenswerte
Leistungen in Sachen Nicht-Aufklärung des Neonazi-Terrors haben im Laufe der
Jahre verschiedenste staatliche Stellen vollbracht. Ein Beispiel hierfür ist der
Nagelbomben-Anschlag in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004, bei dem 22
Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Jüngst haben Berichte für
Aufmerksamkeit gesorgt, daß unmittelbar nach
der Tat zwei Polizisten in Zivil am Tatort waren. Daß es nur ›ein Routineeinsatz‹ gewesen sei, sei ›unwahrscheinlich‹, äußert der CDU-Obmann im
NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestages,
Clemens Binninger, ein Ex-Polizist, und schließt nicht aus, es habe eventuell ›vage Hinweise‹ gegeben, daß ›etwas passieren‹ könne. Erstaunliche Entwicklungen sind vor allem aus dem
zuständigen NRW-Innenministerium bekannt. Berichten zufolge meldete das
Landeskriminalamt kurz nach dem Anschlag, dieser sei als ›terroristische Gewaltkriminalität‹ einzustufen. Keine 30 Minuten später wies das Ministerium das Landeskriminalamt
an, den Begriff ›terroristischer
Anschlag‹ aus dem Schriftverkehr zu
streichen. Nur einen Tag später dekretierte der damalige Bundesinnenminister
Otto Schily (SPD) offiziell, die Tat habe keinen Terrorhintergrund.
Gegenteilige Einschätzungen aus dem Verfassungsschutz, die sich auf identische
Nagelbomben-Anschläge von Neonazis in migrantisch geprägten Straßen in London
aus dem Jahr 1999 stützten, und die auch in der deutschen Neonazi-Szene mit
Aufmerksamkeit registriert worden waren, wurden von den Innenministern
Nordrhein-Westfalens sowie des Bundes ignoriert. Clemens Binninger urteilt, die
Terroristen hätten, da es aus Köln eine Videoaufnahme der Täter gab, durchaus
gefaßt werden können, hätte man die
Möglichkeit eines Terrorhintergrundes nicht ausgeschlossen.
Zu den
bemerkenswerten Fällen der Nicht-Aufklärung gehört auch der Kasseler NSU-Mord
vom 6. April 2006, bei dem Halit Yozgat, der Betreiber eines Internet-Cafés, in
seinem Geschäft mit zwei Kopfschüssen umgebracht wurde. Laut den polizeilichen
Ermittlungen hielt sich Andreas Temme, ein V-Mann-Führer des hessischen
Verfassungsschutzes, zur Tatzeit in dem Internet-Café auf. Der Mann, der als
Waffen-Spezialist gilt, will den dumpfen Knall nicht wahrgenommen haben, den
die anderen Anwesenden hörten; er will eine Münze auf die Ladentheke gelegt
haben, hinter der Yozgat unmittelbar zuvor erschossen worden war - ohne Blutspritzer oder die Leiche gesehen zu
haben. Kurz vor seinem Besuch in dem Internet-Café hatte Temme mit einem seiner
V-Männer, einem Neonazi mit Kontakten
nach Thüringen, telefoniert. Kurz nach dem Mord an Yozgat traf er sich mit
einer weiteren ›Quelle‹, die ihn als ungewöhnlich ›nervös‹ empfand. Seine Befragung durch die Polizei, die ihn im Verdacht
hatte, etwas mit dem Mord zu tun zu haben, wurde vom hessischen Innenministerium
verhindert; dabei war mittlerweile bekannt, daß
der Mann privat sowohl Waffen wie auch Nazi-Devotionalien besaß. Bekannte
hatten ihm den Spitznamen ›Klein
Adolf‹ verpaßt.
Es sollte,
so GFP, die Frage gestellt werden, »welche Beziehungen zwischen den
Geheimdiensten, organisierter Kriminalität und der extremen Rechten in
Deutschland tatsächlich bestehen.«
[1] http://juergenelsaesser.wordpress.com/2013/04/09/ergenekon-phantom-und-nsu-phantom/ Ergenekon-Phantom und NSU-Phantom
- Von Jürgen Elsässer Elsässer ist Chefredakteur der Zeitschrift COMPACT [2] Quelle: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58578 17. 4. 2013 Eigener Bericht - Von Spitzeln umstellt - gekürzte Wiedergabe [3] Paul Wellsow, Mitautor mehrerer Publikationen
zur Thematik und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion DIE LINKE im
Thüringer Landtag [4] Andreas Förster: Mindestens 24 Spitzel im
NSU-Umfeld; www.berliner-zeitung.de vom 3. 4. 2013
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