Libyen und die neue Kriegshetze - Von David Gibbs 15.01.2012 19:55
Die Intervention der NATO in Libyen wird voraussichtlich eine noch vermehrt militarisierte und unsichere Welt zur Folge haben,
und das wird ihr dauerhaftestes Vermächtnis sein. Der militärische »Erfolg« in Libyen hat die Möglichkeit neuer Kriege gestärkt. Es gibt die weit verbreitete Auffassung, daß die NATO einen leichten Sieg gegen Gaddafi errungen hat, und das daraus resultierende Gefühl des Übermuts vergrößert das Risiko zukünftiger militärischer Aktionen gegen den Iran, Syrien und andere mögliche Ziele. Zweifelsohne begrüßen Politiker in NATO-Ländern die Ablenkung der Öffentlichkeit durch Krieg, besonders in Zusammenhang mit dem weltweiten wirtschaftlichen Abschwung, und das könnte sich als zusätzliche Motivation für neue militärische Aktionen erweisen.
Der Erfolg in Libyen
wird zu höheren Stufen für Militärausgaben führen. Das britische Militär benutzte
die Intervention bereits als Argument für eine Budgetsteigerung, das Gleiche
wird zweifelsohne auch in Frankreich und in der USA stattfinden, wo die
Intervention den jeweiligen Militär-Komplexen der Länder politischen Nutzen
bringen wird. Ausgehend von den beschränkten Mitteln werden die relativ höheren
Ausgaben für Militär, die aus dieser Situation resultieren, wahrscheinlich die
Mittel für Bildung, Gesundheit, Umweltschutz und Seuchenbekämpfung, auch für die
Hilfe an Entwicklungsländer, darunter auch Libyen, verringern.
Eine
weitere Folge der Intervention ist die Erosion des internationalen Rechts, die
sich in der Nichtbeachtung der UNO-Charta und im Kriegsermächtigungsgesetz der
Vereinigten Staaten manifestiert; diese haben sich im Zuge der Bombenkampagne
und der Anstrengungen, einen Regimewechsel herbeizuführen, offen über die bestehende
Rechtslage hinweggesetzt. In früheren Zeiten hätten die Liberalen in der USA
wohl den unkontrollierten Einsatz der exekutiven Gewalt, den die
Obama-Administration vorführt, kritisiert. Derlei Bedenken sind jedoch eine
Sache der Vergangenheit. Mit Libyen haben sich die Liberalen mit einer ›imperialen Präsidentschaft‹ ganz und gar zufrieden gezeigt. Des
weiteren bedeutet die Intervention einen Rückschlag für die internationale
Zusammenarbeit, die die Einschränkung der Verbreitung von Atomwaffen zum Ziel
hat: die Entscheidung der NATO, Gaddafi zu stürzen, obwohl
er sich damit einverstanden erklärt hatte, sein Programm zur Entwicklung von
Atomwaffen einzustellen, wird mit Sicherheit andere Länder wie Nordkorea davon
abhalten, Gaddafis Fehler zu wiederholen. Die Bedeutung der Intervention wird
weit über Libyen selbst hinausreichen, und es ist diese höhere Ebene von
Auswirkungen, die die gefährlichste Auswirkung der Intervention darstellt.
Niemand denkt gerne an die langfristigen Konsequenzen politischer Handlungen,
besonders wenn ein ›Sieg‹ im Spiel ist; aber diese langfristigen
Konsequenzen werden bleiben und als Ergebnis wird die internationale Sicherheit
in Mitleidenschaft gezogen werden.
Auswirkungen auf das
Land Libyen
Wenden wir
uns nun den Auswirkungen des NATO-Sieges auf Libyen und seine Menschen zu.
Derzeit scheint das Ergebnis unsicher, da die Faktenlage mehrdeutig ist.
Einerseits hat der Nationale Übergangsrat (NTC) volle Kontrolle über das Land
erreicht und das Chaos, das viele befürchtet hatten, bisher vermeiden können.
Andererseits bleibt die Situation instabil, was sich in den häufigen
Zusammenstößen rivalisierender Milizgruppen zeigt, die um die Kontrolle über
Tripoli und andere Gebiete kämpfen. Die NATO-Intervention selbst kann ein
Problem für die zukünftige Stabilität bilden. Nachdem das neue Regime die Macht
mittels Unterstützung von außen erreicht hat, ist es für Vorwürfe anfällig, daß dies das Ergebnis einer fremden Intervention ist.
Es trifft zwar zu, daß die NATO-Mächte
zumindest unter denjenigen Libyern einigen Zuspruch erhalten werden, die den
Sturz Gaddafis betrieben haben, aber diese Unterstützung wird mit der Zeit
verblassen, wenn der traditionelle und tief verwurzelte Antikolonialismus des
libyschen Volkes sich wieder Geltung verschafft. Im Großen und Ganzen gibt es
wenig in der Geschichte Libyens, was auf ein glückliches Ende hinweisen würde.
Das Land ist aus über hundert eigenständigen Stammesgruppen zusammengesetzt,
mit einer zusätzlichen Trennlinie zwischen den östlichen und westlichen Teilen
des Landes, die auf die Zeit der ottomanischen Herrschaft zurückgeht.
Parlamentarische Demokratie hat es so gut wie noch nicht gegeben. Die einzige
nationale Einheit, die das Land je erreicht hat, ist weitgehend die Schöpfung
Muammar Gaddafis.
Niemand
sollte den Sturz Gaddafis betrauern, der (ungeachtet einiger Errungenschaften)
im Grund genommen eine zwielichtige und größenwahnsinnige Figur geblieben ist.
Die Frage ist, ob sich das neue Regime als besser oder schlechter erweisen wird
als das vorhergehende. Hier gibt es verschiedene mögliche Varianten. Die neue
Regierung könnte sich als eine relativ anständige und stabilisierende Kraft
erweisen, die den Menschen Libyens eine bessere Lebensqualität bietet, als sie
sie unter der Diktatur Gaddafis hatten. Vielleicht werden sie sogar eine Form
von repräsentativer Demokratie erreichen, mit unabhängiger Rechtssprechung und
Respekt für die Autonomie des Individuums. Jeder vernünftige Mensch würde auf
ein solches Ergebnis hoffen. Dennoch wird dies kaum ins Spiel treten. Ein
plausibleres Szenario ist, daß die
Zentralregierung auseinanderfallen wird, was einen neuerlichen Bürgerkrieg
zwischen den östlichen und westlichen Regionen auslösen wird. Alternativ dazu
könnte es zu einem allgemeinen Absturz ins Chaos kommen, ohne klare
Frontlinien, ähnlich dem, was in Somalia 1991 nach dem Sturz der Regierung Siad
Barre geschah.
Das
wahrscheinlichste Szenario wird vielleicht eine schwache und korrupte libysche
Zentralregierung beinhalten, die inmitten von regionaler Instabilität,
wirtschaftlichem Verfall und wachsendem sozialen Elend nominell herrscht.
Früher hätten die Mächte des Westens vielleicht ein Hilfsprogramm im Stil des
Marshallplans zusammengestellt, um den Erfolg der neuen Regierung zu
gewährleisten. Solche Programme sind allerdings weitgehend aus der Mode
gekommen und erscheinen derzeit überhaupt unwahrscheinlich, geht man von den
sparsam eingestellten Regimes in Europa und der USA aus. Die NATO-Mächte werden
sich sicher gegenseitig gratulieren, daß sie
die Bombenkampagne finanziert haben, werden aber kaum genügend Geld für den
Wiederaufbau des Landes auftreiben. Einfach gesagt wird das am ehesten
wahrscheinliche Ergebnis ein Libyen sein, das sich in einem noch viel
schlechteren Zustand befindet als vor dem Sturz Gaddafis.
›Humanitäre‹ Interventionen
Es besteht
also eine reale Gefahr, daß die
NATO-Intervention zu einer Verschlechterung der Situation der Menschen in
Libyen führen wird. Die vorgeblichen Bemühungen bei ›humanitären‹ Interventionen
haben in der Vergangenheit sicher die Dinge verschlimmert. Man nehme nur die
Interventionen im Irak und in Afghanistan, die beide von Regimes regiert worden
waren, die noch repressiver waren als das von Gaddafi und in moralischer
Hinsicht abstoßender. Interventionen des Westens stürzten beide Regimes, und das
geschah mit der Unterstützung von vielen der gleichen Intellektuellen, die vor
kurzem den Sturz Gaddafis unterstützten. Die Ergebnisse waren katastrophal.
Angesichts
der Invasion des Iraks 2003 lieferte Juan Cole folgende Unterstützung: »Ich bin
weiterhin davon überzeugt, daß ungeachtet der
Bedenken, die man anschließend haben könnte,
die Entfernung Saddam Husseins und des mörderischen Baath-Regimes von der Macht
die Opfer wert sein werden, die von allen Seiten zu bringen sind.« Es tut
weh, diese Art von Quatsch jetzt zu lesen, fast ein Jahrzehnt später, so daß man die Frage nach der Urteilsfähigkeit Coles
stellt. Die seinerzeitige Beurteilung des Irakkriegs ist es wert, im Lichte der
neueren Schriften Coles zu Libyen, in denen er erneut eine Intervention
befürwortet, ins Gedächtnis gerufen zu werden. Generell besteht eine Tendenz zu
der Annahme, daß Interventionen mit der
Bezeichnung ›humanitär‹ immer zu positiven Ergebnissen führen
müssen. Dies ist eine weit verbreitete Meinung und wird durch Samantha Powers
einflußreiches (schlecht recherchiertes) Buch ›A Problem from Hell‹ popularisiert. In der Geschichte gibt
es allerdings kaum etwas, was diese Auffassung unterstützt. In der
Tat verschlimmern militärische Interventionen typischerweise humanitäre
Situationen im Vergleich zu davor und verbessern sie nicht, was durch die
Hunderttausende Getöteter, die das Ergebnis der Interventionen im Irak und in Afghanistan
waren, dramatisch illustriert wird. Und entgegen den Märchengeschichten verschlimmerten auch
die vorhergehenden Interventionen in Bosnien und im Kosovo die humanitären
Krisen in diesen Gebieten, was gut dokumentiert, wenn auch wenig bekannt ist.
Erstes Gebot: Richte
keinen Schaden an!
In der
Medizin müssen die Ärzte unerwünschte Ergebnisse in Betracht ziehen, ehe sie
tätig werden: ›Richte keinen Schaden
an‹ ist der Grundsatz für ihr
Vorgehen. Wir können nicht alle Probleme lösen, aber das Mindeste, was wir tun
können, ist eine schlimme Situation nicht durch rücksichtslose oder schlecht
überlegte Interventionen zu verschlimmern. Dieses Prinzip findet in Bezug auf
medizinische Interventionen Anerkennung, warum sollte es also nicht genauso bei
militärischen Interventionen angewendet werden, diejenigen eingeschlossen, die
mit dem Etikett ›humanitär‹ versehen sind? Zu guter Letzt müssen
wir die Auswirkungen der Libyen-Intervention auf die liberale Linke bewerten.
Diese Intervention zeigt die Aufgabe ihrer traditionellen Friedensposition
durch die Liberalen. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich
viele Liberale in einer Weise für militärische Gewalt begeistert, die sich
nicht von den reaktionärsten und hurrapatriotischsten Elementen der Rechten
unterscheidet. Seien wir ehrlich und nennen wir die Dinge bei ihrem
richtigen Namen: die Bewegung für ›humanitäre‹ Interventionen war in Bezug auf
Libyen, Darfur, den Irak und den Balkan schon immer eine Bewegung für den
Krieg, denn Krieg ist es, wovon wir hier wirklich reden. Was den Ton betrifft,
so verkörpern die liberalen Interventionisten viel von der Hässlichkeit, die
die Geschichte hindurch mit militaristischen Bewegungen in Verbindung gebracht
wurde, einschließlich ihrer Haltung zu moralischer Selbstgerechtigkeit, ihrer
Neigung, abweichende Meinungen zu verteufeln und ihrer unbekümmerten
Geringschätzung der Risiken von militärischen Einsätzen. Da gibt es
auch ein bemerkenswertes Vertrauen in die guten Absichten von Militär,
Regierung und Koordinationsfunktionären der intervenierenden Mächte, verbunden
mit der Weigerung, das Eigeninteresse zu bedenken, welches diese Figuren für
die Durchführung von Intervention haben.
Heutzutage
ist Kriegshetze nicht länger auf politisch Konservative beschränkt. Auch
Liberale können sich der Spannung und des Gefühls der moralischen Erhabenheit
durch die Befürwortung des Kriegs erfreuen – aber ohne das Gefühl der
Verantwortlichkeit für die Konsequenzen ihres Dafürseins.
Quelle: http://www.antikrieg.com/aktuell/2012_01_14_libyen.htm 13. 1. 12
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