Das Entscheidungsjahr 1386 - Von Ulrich Schlüer 02.09.2013 01:02
Wer sich um die Geschichte des eigenen Landes foutiert, wird prägende Wesenszüge des eigenen Volkes nie wirklich verstehen können.
1386 – das Jahr der Schlacht bei
Sempach - wurde für die damals noch in der
Entstehung begriffene Eidgenossenschaft zum Jahr der entscheidenden
Weichenstellung. 1386 schlug diese eine Entwicklung ein, die sie dem ›Heiligen Römischen Reich Deutscher
Nation‹, dem sie bis zum Westfälischen
Frieden von 1648 noch angehörte, immer stärker entfremdete.
1386 standen sich bei Sempach zwei
Heere in feindlicher Absicht gegenüber: Das habsburgische Ritterheer
einerseits, die auf Nahkampf bedachten Eidgenossen andererseits. Letztere waren
von den 8 der damaligen Eidgenossenschaft angehörenden ›alten Orte‹ gestellt
worden. Die Entscheidung von Sempach war eine historische Weichenstellung, sowohl
bezüglich der Waffentechnik als auch bezüglich der politischen Entwicklung.
Die Österreicher Zunächst
ist eine wichtige Frage korrekt zu beantworten: Wie setzte sich das damalige
habsburg-österreichische Ritterheer überhaupt zusammen? Durch Eroberung, noch
ausgeprägter durch überlegte Heiratspolitik, hatte sich der Wirkungskreis der
Habsburger, die ihren Ursprung bekanntlich im Aargau haben, weit ins
Österreichische hinein verlagert. Wien wurde zum Zentrum des Habsburger
Reiches. Standen also im habsburgischen Heer vor Sempach die Bannerträger des
Hochadels von Wien, von Böhmen, von Kärnten – allesamt aus dem Osten – den
Eidgenossen gegenüber? Mitnichten! In der Schlachtkapelle zu Sempach sind noch
heute die Banner jener Geschlechter abgebildet, die für das Haus Habsburg die
Schlacht von Sempach bestritten: Da finden sich die Wappen der Herren von Seon,
der Freiherren von Baldegg, der Freiherren von Wildegg sowie die zahlreicher
anderer zum niederen Adel gehörender Geschlechter, die damals noch in den Diensten
der Habsburger standen: Im Bernbiet, im Aargau, im Luzernischen, im Zürichbiet,
in der Innerschweiz. Es standen also die Landleute aus den Vororten und den
diesen bereits zugehörenden Gebieten, die damals die Eidgenossenschaft
bildeten, den Adligen gegenüber, die sich im gleichen Gebiet zu behaupten
versuchten.
Kriegstaktik Das
habsburgische Heer, das die Schlacht von Sempach bestritt, war ein ›klassisches Ritterheer‹: In schweren Rüstungen traten die
Ritter auf teils ebenfalls gerüsteten Pferden an. Ihre Waffen waren die mehrere
Meter langen Lanzen. So traten sie zum ritterlichen Kampf an, gleichsam einen
langstachligen, aber nur schwer beweglichen Igel bildend. Diesem langstachligen
Igel standen die mit kurzen Hieb- und Stichwaffen ausgerüsteten Eidgenossen
vorerst ratlos gegenüber. Die Länge der Spiesse hinderte sie daran, mit den
Rittern den Nahkampf aufzunehmen. Entscheidend war deshalb, dass es den
Eidgenossen gelang, den kompakten Igel aufzubrechen. Mit dieser Tat ist jene
Überlieferung verbunden, die im Namen Winkelried personifiziert worden ist.
Tatsache
ist: Es gelang den Eidgenossen, in den Ring der Ritter einzubrechen. Von diesem
Moment an waren diese Ritter, als Gefangene ihrer schweren Rüstungen und durch
ihre viel zu langen Lanzen behindert, verloren. Fast hilflos fanden sie sich
den ihr brutales Werk unbeirrt vorantreibenden effizienten Kurzwaffen der
Eidgenossen ausgesetzt. Sempach bescherte der Kriegsgeschichte das Ende der
klassischen Ritterheere. Mochten die Ritter ob des rohen Zuschlagens der
eidgenössischen Kämpfer auch die Nase rümpfen, mochten sie diese der ›unedlen Kampfführung‹ beschuldigen, jedenfalls erwiesen
sich die Infanteriewaffen der Eidgenossen der ritterlichen Bewaffnung als weit
überlegen. Die Infanterie der Eidgenossen trug den Sieg gegen die alte
ritterliche Kavallerie davon.
Wegweisender Sieg Die
Sempacher Schlacht bewirkte auch eine politische Weichenstellung von
grundlegender Bedeutung. Dies, weil die Eidgenossen, als sie mit ihren
Infanteriewaffen die Oberhand gewonnen hatten, nicht innehielten, vielmehr das
ritterliche Heer regelrecht niedermachten. Sie ruhten nicht, bis das
habsburgische Heer nicht nur geschlagen, sondern vernichtet war. Das hatte
Folgen: Der niedere Adel, der sich bis Sempach neben den Eidgenossen noch zu
behaupten vermochte, wurde zu Sempach buchstäblich ausgerottet. Es gab danach
auf dem Boden der Eidgenossenschaft, auf dem Boden der nachmaligen Schweiz,
kein adliges Geschlecht mehr, das imstande gewesen wäre, die Herrschaft
auszuüben. Die Feudalherrschaft, die Adelsherrschaft, hatte »mangels weiteren
Personals« zu existieren aufgehört. Damit konnte sich auf dem Boden der
Eidgenossenschaft innerhalb des deutschen Reiches eine für lange Jahrhunderte
einzigartige Herrschaftsform entwickeln: Der adelsfreie Territorialstaat. Er
ging von den Vororten der eidgenössischen Stände aus, insbesondere von den
Städten Zürich und Bern. Diese griffen mit Erwerbungen und Eroberungen weit in
die Landschaft aus. Bern wurde innerhalb des damaligen Deutschen Reiches zum
grössten Territorialstaat, der nicht einer Adelsherrschaft unterstand.
Während im
Deutschen Reich die Feudalherrschaft, die Herrschaft durch die Adelshäuser, bis
weit über die Zeit Napoleons hinaus überlebte, so verschwand die gleiche
Herrschaftsform ab 1386 vom Boden der Eidgenossenschaft, wie gesagt: aus ›Personalmangel‹. Damit nahm diese eine völlig andere Entwicklung als das übrige
Deutsche Reich, dem sie, wie schon erwähnt, völkerrechtlich noch bis 1648
angehörte, als sie im Rahmen des Westfälischen Friedens die von allen wichtigen
Staaten Europas damals verbriefte staatliche Unabhängigkeit von dem im dreissigjährigen
Krieg schwer geschwächten Deutschen Kaiserreich erlangte.
Auf dem Weg zur
Volkssouveränität Natürlich
vergingen noch Jahrzehnte, noch Jahrhunderte, und natürlich kam es noch zu
zahlreichen Wechselfällen, bis die in der Eidgenossenschaft 1386 durchgesetzte
Selbstverwaltung auch demokratische Züge annahm. Entscheidend war, dass ab
diesem Zeitpunkt auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft nicht mehr die adlige
Geburt darüber entschied, wer die politische Macht ausüben konnte; es bedurfte
einer persönlichen Leistung, beispielsweise des Erfolgs als Händler oder als
Kaufmann, bis jemand Regimentsfähigkeit erlangte. Dieser andere,
geburtsunabhängige Weg, zu politischem Einfluss zu gelangen, verlieh der
Eidgenossenschaft einen grundlegend anderen Charakter als dem im Feudalismus
verharrenden Deutschen Reich.
Auf ihrem
Weg zur Selbstverwaltung musste die Eidgenossenschaft noch eine schwere
Niederlage gegen Napoleon einstecken, bis dann Mitte des 19. Jahrhunderts aus
dem System der Selbstverwaltung die Idee der Volkssouveränität herauswachsen
konnte. 1848 war es soweit – die damals verabschiedete erste Bundesverfassung
des modernen Bundesstaats Schweiz schlug mit der Volkssouveränität als
Kernartikel endgültig den Weg in Richtung direkte Demokratie ein.
Begonnen
hatte die territoriale Selbstverwaltung 1386 nach der Schlacht von Sempach.
1648 errang die Eidgenossenschaft damit die staatliche Unabhängigkeit vom
Deutschen Reich. Die Vollendung erfuhr diese Selbstverwaltung durch Verankerung
der direkten Demokratie in der Bundesverfassung im 19. Jahrhundert – jener
direkten Demokratie, die den ›Sonderfall
Schweiz‹ im heutigen Europa prägt.
Quelle: http://www.schweizerzeit.ch/cms/index.php?page=/News/Entscheidungsjahr_1386-1243 2. 8.
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