Unser europäischer Moment 08.12.2013 22:38
Jacques Cheminade ist Vorsitzender der französischen Partei »Solidarité et Progrès«
und
ehemaliger französischer Präsidentschaftskandidat. Die nachfolgenden Auszüge sind
seiner Rede beim Europarteitag der ›Bürgerrechtsbewegung Solidariät‹ entnommen:
Ich möchte
zunächst zwei Aussagen machen, die unsere politische Identität in diesem Moment
des 21. Jahrhunderts definieren. Erstens: Das Europa des Euros ist eine Falle, um uns
alle in Europa zu ruinieren. Aber ein nationaler Monetarismus ist keine
Lösung. Supranationaler Monetarismus und nationaler Monetarismus haben etwas
gemeinsam: nämlich den Monetarismus, der die Zerstörung der Menschen und ihres
politischen Ausdrucks, des Nationalstaats, bedeutet. Das Europa des Euros ist kein
Fehler oder Zufall; es ist das Ergebnis einer Gemengelage, die von der
britisch-holländisch-amerikanischen Oligarchie und deren Gefolgsmann Robert
Mundell geschaffen wurde, um die Finanzliberalisierung überall auf der Welt zu
verbreiten, die kulturellen und universellen Wurzeln Europas auszulöschen und
eine Entvölkerung der gesamten transatlantischen Welt voranzutreiben.
Zweitens:
Niemand, und ich betone niemand, hat das Recht, unter dem fadenscheinigen
Vorwand von Föderalismus, Europäertum oder falsch verstandenem Nationalismus
die historische Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich, eine der
vornehmsten Errungenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu
widerrufen. Es kann nicht darum gehen, nach hinten zu blicken, Vorurteile oder
Mißstände zu schüren und auf nationalen Demütigungen zu spielen, sondern wir
müssen die Zukunft aufbauen, unsere Identität in der Zukunft finden und zu den
besten Momenten unserer gemeinsamen Vergangenheit stehen. Wenn man eine Stütze
hat, baut man darauf auf, als Patriot, als wahrer Europäer und als Weltbürger.
Das heißt, wir müssen unsere Augen weit über unseren Tellerrand erheben und die
gesamte Welt im Blick haben: die USA, Rußland und Asien. In unserem Denken
müssen wir stets den Vorteil des anderen im Kopf
haben, nicht den Eigennutz, sondern das Prinzip der Entente, Détente und
Zusammenarbeit zwischen den Nationalstaaten, wie es im Westfälischen Frieden
von 1648 vorgesehen war.
Wir stehen
am Ende des Jahres 2013, dem 50. Jahr der deutsch-französischen Freundschaft
seit dem Elysée-Vertrag von De Gaulle und Adenauer. Was haben wir in diesen 50
Jahren geschafft? Fast nichts. Daran sind jedoch nicht nur die Deutschen und
Franzosen schuld; 1963 war auch das Jahr der Ermordung John F. Kennedys, das
Jahr, als in der transatlantischen Welt eine Zukunftsvision zusammenbrach. Aber
wir waren nicht nur Opfer dieses Zusammenbruchs, er geschah mit unserem Zutun.
Infolgedessen ist es in Europa nicht mehr möglich, einen neuen Vorstoß für die
Welt zu beginnen, da wir die Schändung Europas zugelassen haben. Deswegen
können wir im Chor der Völker und Nationen nicht die erste Stimme sein, dennoch
liegt eine
lange
Geschichte hinter uns, und diese Geschichte war nicht nur leerer Schall,
sondern auch voller Schönheit und Größe. Unter diesem Mandat der Geschichte und
weil die Vision unserer Vorfahren in uns nicht gestorben ist, sind wir noch am
Leben. Wir leben, wenn wir die Kraft aufbringen, etwas für die Zukunft
beizutragen. Das bedeutet zuerst, unsere Länder von der Diktatur der City und
der Wall Street sowie deren Kollaborateuren auf unserem Kontinent wie BNP
Paribas, Société Générale, Deutsche Bank und anderen Kasinobanken zu befreien.
Sie haben die Kontrolle über alle unsere großen Unternehmen. Wenn wir nicht
kämpfen, um mit Hilfe des Glass-Steagall-Prinzips diese Kontrolle zu brechen,
werden wir untergehen. [1]
Cheminade
hatte bereits im Juni 2011 konkrete Vorschläge gemacht:
- Stopp von Biotreibstoffen. Der Staat muß jegliche Umwandlung von Getreide, besonders
Weizen und Mais, in Biotreibstoff blockieren. Ihre Produktion muß der
Viehfütterung vorbehalten bleiben. Wenn notwendig, können zu diesem Zweck auch
an bestimmten Exporten Abstriche gemacht werden. Diese Maßnahme wird die
Weltmarktpreise nicht in die Höhe treiben, wenn sie von Maßnahmen gegen die
Spekulation begleitet wird, wie wir sie vorschlagen.
- Die Spekulation mit landwirtschaftlichen
Produkten muß verboten werden, insbesondere die der an den Börsen gehandelten
Fonds (ETF) mit Tracker-Zertifikaten, die eine große Hebelwirkung haben. Ist es
nicht unerträglich, daß eine Bank wie die Crédit Agricole (um nur sie zu
nennen), die sich so großzügig gibt, wenn sie den Opfern der Trockenheit
Kredite anbietet, über ›Aumundi‹ [die gemeinsame Spekulationsabteilung
von Crédit Agricole und Société Générale] fortfährt, auf Agrarpreise zu
spekulieren? Wenn dieses Spiel nicht beendet wird, dann sind alle Erklärungen
unserer Politiker höchstens Heuchelei und im schlimmsten Fall Verrat. Auch muß
die Landwirtschaftspolitik gemäß dem absoluten Prinzip der
Nahrungsmittelsouveränität umgehend neu durchdacht werden, um sie der
malthusianischen Macht der Öko-Spekulanten zu entreißen.
- Statt unsere Produzenten dazu zu zwingen,
sich gegen das Auf und Ab der Preise auf undurchsichtigen Märkten durch im
außerbörslichen Verkauf (OTC) erworbene Finanzderivate abzusichern, ist jetzt
die Zeit gekommen, sowohl in den Produzentenländern als auch in den fortgesetzten
Importländern, besonders im Maghreb, wieder öffentliche Lagerbestände zur
Preissteuerung einzurichten, pro Land oder geographischem Gebiet. Wie zu Beginn
der europäischen Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) erlaubt eine intelligente
Verwaltung öffentlicher Lagerbestände die Begrenzung physischer Verknappung und
das Vereiteln spekulativer Kurssteigerungen durch staatliche Käufe oder
Verkäufe. Wir sollten uns daran erinnern, daß die ›Finanzprodukte zur
Absicherung‹ letztendlich Kosten von nahezu 40 € pro
Tonne tatsächlich verkauften Getreides nach sich ziehen, während die jährlichen
Kosten der Lagerhaltung von Getreide in einem Genossenschaftssilo in
Frankreich nur 10 € pro Tonne betragen. Überlassen wir die Landwirtschaft nicht den Händen gieriger Interessen, die sich nur dem
Besitz und nicht der Produktion verschrieben haben. Um unsere Nahrung zu
erhalten, müssen wir den Spekulanten den Wind aus den Segeln nehmen!
- Im Rahmen einer neuen, auf dem staatlichen
produktiven Kredit (und nicht auf monetären Spielchen) beruhenden
internationalen Ordnung bedarf es einer Einrichtung zur Beobachtung des
weltweiten Verbrauchs und der weltweiten landwirtschaftlichen Lagerbestände.
Beenden wir den skandalösen neokolonialen Ansturm auf bebaubares Land; Verträge
müssen zu Preisen abgeschlossen werden, die sich aus den Bedürfnissen der
physischen Ökonomie herleiten und nicht aus denen der Finanzmärkte.
Abschließend
bleibt festzustellen, daß die Herausforderung, im Jahr 2050 9 bis 12 Mrd.
Menschen zu ernähren, mit dem Infragestellen der verrückten
Finanzwelt beginnt, die seit mehr als 40 Jahren die Welt regiert, und
ihrer Ersetzung durch eine Weltordnung, die auf gemeinsamen Projekten und dem
Vorrang für die menschliche Schöpferkraft beruht. [2]
Indessen
greifen die sozialen Proteste, wie Edgar Gärtner festhält, weiter um sich. Die Sozialisten
haben es in Rekordzeit geschafft, ihre Regierung in eine Sackgasse zu
manövrieren. Alles, was François Hollande und sein Premierminister jetzt tun,
um ihrer mißlichen Lage zu entkommen, macht
die Probleme noch schlimmer. Nach einer Umfrage des Instituts ›Ifop‹, die im ›Journal du
Dimanche‹ veröffentlicht wurde, hat
der Sieger der Stichwahl vom 6. Mai 2012 jetzt nur noch ein Fünftel seines
Volkes hinter sich. Keiner seiner Vorgänger erlitt jemals in so kurzer Zeit
einen vergleichbaren Popularitätsverlust. Hollande, der angetreten war, den
verfetteten und überschuldeten Wohlfahrtsstaat durch Reformen zu retten, sieht
sich auf einmal mit mehr oder weniger gewaltsamen Protesten aus allen Schichten
der Gesellschaft konfrontiert, auch in Regionen, denen er seinen Wahlsieg
verdankt. Dazu gehört die Bretagne, die seit längerem sozialistisch wählt. Die
Halbinsel in äußersten Westen des annähernd sechseckigen Landes leidet nicht
nur unter der großen Entfernung von der
Hauptstadt Paris, sondern auch an einer besonders ungünstigen
Wirtschaftsstruktur. Vor allem die Vieh- und Fleischwirtschaft erweist sich auf
Grund des vergleichsweise großzügigen gesetzlichen Mindestlohns und hoher
Steuern und Sozialabgaben als kaum noch wettbewerbsfähig. Die Einführung einer
Lkw-Maut für Schnellstraßen nach deutschem Vorbild [euphemistisch »Ecotaxe«
genannt] brachte dann bekanntlich das Faß zum
Überlaufen. Es rächt sich, daß Hollande
von vornherein entschieden hat, der EU-Vorgabe der Rückführung der
Staatsschuldenquote von bald 95 % des BIP und des Haushaltsdefizits von über 4
auf 3 % des BIP nicht durch eine Verkleinerung des aufgeblähten Apparats von
über fünf Millionen Beamten und des Staatsanteils an der Wirtschaftsleistung
von über 57 % zu folgen. Hollande will vielmehr eine Erhöhung von Steuern und
Abgaben in der Größenordnung von 30 Milliarden €. Die durchschnittliche
Abgabenlast auf Einkommen liegt in Frankreich inzwischen bei 46 %; Premierminister
Ayrault hat für das kommende Jahr eine Neuordnung des gesamten Systems der
Besteuerung, das mindestens so unübersichtlich ist wie das deutsche angekündigt;
erwogen ist auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 20 % angekündigt. Die Wirtschaft stagniert und die
offizielle Arbeitslosenquote erreicht bald 11 %. Interessant ist, daß die rasch anschwellende Protestbewegung gegen die
unerträglich werdende Steuerlast der konservativen Oppositionspartei UMP indessen
keinen Zulauf bringt. Seit ihr Führer Sarkozy seine Wiederwahl verpaßt hat, ist die Partei zerstritten. Links und rechts,
legt Gärtner abschließend dar, sind sich in
Frankreich in der Anbetung des Götzen Sozialstaates einig. ›Liberal‹ gilt als
Schimpfwort. Umso interessanter sind spontane Bewegungen wie die der ›roten Mützen‹, die sich schlicht auf den gesunden Menschenverstand berufen. Sie
spielt auf eine Massenbewegung gegen eine schmerzhafte Steuererhöhung durch den
letzten französischen König wenige Jahre vor der großen Revolution an. In gewisser
Weise ist die neue Bewegung eine Fortsetzung des Widerstands gegen die
Einführung der Homo-Ehe durch die sozialistische Justizministerin Christiane
Taubira, die in der ersten Jahreshälfte Millionen Franzosen auf die Straße
trieb. Historiker sehen darin bereits den Beginn eines »1968 à l'envers«. Und
jetzt warnen die Präfekturen vor einer unkontrollierbaren Ausweitung
gewaltsamer Proteste. [3]
[1] Strategic Alert Jahrgang 26, Nr. 49 vom 4.
Dezember 2013 [2] http://www.bueso.de/node/9932 3. 6. 11
Jacques Cheminade zur Dürre in Frankreich: »Die Produktion schützen und den Augiasstall der Spekulanten
ausmisten!« [3] Edgar Gärtner - Steht Frankreich vor dem
Bürgerkrieg? Kopp exklusiv 48/13
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