Brasilien - Dilma und die repräsentative Demokratie - Von Wolf Gauer 19.06.2016 22:23
1985 beendete Präsident Tancredo Neves glorios die zwanzigjährige Militärdiktatur Brasiliens.
2014
verlor sein Enkelsohn Aécio Neves die brasilianischen Präsidentschaftswahlen
und machte sich zum Anstifter eines perfiden Staatsstreichs. Beiden ist ein
Platz in der brasilianischen Geschichte sicher.
Mit
einem Vorsprung von 3,2 % hatte Dilma Vana Rousseff ihr zweites
Präsidentschaftsmandat gewonnen, zugleich das vierte für die Arbeiterpartei in
Folge. Am 12. Mai 2016 wurde sie, vorläufig, vom Amt suspendiert.
Vorausgegangen waren in Kongreß und Senat drei so fragwürdig wie groteske
Zustimmungsrituale zu einem Amtsenthebungsverfahren, das nur in Washington und
Berlin als verfassungskonform klassifiziert wird. In längstens 180 Tagen muß nun eine vom Obersten
Bundesgericht überwachte Untersuchung nebst neuerlicher Abstimmung im
Senat erweisen, ob der gegenüber Rousseff erhobene Vorwurf der verantwortungslosen
Verbuchung von Haushaltsmitteln zutrifft und ihre endgültige Ablösung so gerechtfertigt
ist.
Die unter Rousseffs Vize Michel Temer, dem Vorsitzenden der
ultra-liberalen
Partei der demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB) und vormaligen Informanten
der US-Botschaft konstituierte Interimsregierung ist schon dabei, regelwidrig
und unter dem Vorwand der ›nationalen
Rettung‹, sämtliche bisherigen
Funktionsträger gegen Parteigänger der totalen Liberalisierung, Privatisierung
und Neokolonialisierung auszuwechseln. Das Wirtschaftsministerium übernimmt
Henrique Meirelles, Brasilianer und US-Bürger, ehemaliger Präsident und Chief
Executive Officer von BankBoston sowie persönlicher Berater des US-Präsidenten
Bill Clinton. Zentralbankchef ist Ilan Goldfajn mit israelischem und
brasilianischem Paß, Teilhaber der größten brasilianischen Privatbank (Itaú
Unibanco) und ehemaliger Funktionär des Weltwährungsfonds. 2005 hatte Präsident
Lula da Silva Brasilien mühsam aus dieser Verschuldungsagentur freigekauft.
Unter
den 23 Ministern der Interimsregierung sind keine Frauen, auch keine
Afrobrasilianer, trotz deren Bevölkerungsquote von 50 %. Umverteilungsmechanismen
wie die Familienbeihilfe (Bolsa Familia) und die staatliche
Eigenheimfinanzierung ›Minha Casa,
Minha Vida‹ wurden drastisch
reduziert. Die Gebührenfreiheit des öffentlichen Gesundheitsdienstes und der
Bundes-Universitäten (19 davon sind von Lula da Silva und Dilma Rousseff
gegründet worden) ist in Frage gestellt. Vorrang hat unbestritten die
vollständige Privatisierung des halbstaatlichen und weltweit zehntgrößten
Ölproduzenten Petrobras und der wachsenden brasilianischen
Offshore-Ölförderung.
WikiLeaks
belegte am 12. Mai, daß der sozialdemokratische Abgeordnete José Serra schon
seit 2009 mit der US-amerikanischen Chevron Corporation entsprechende Pläne
aushandelt. Und nun ist Serra auf einmal Außenminister, und
US-Botschafts-Informant Temer Präsident. Ein weiterer US-Zuträger, Romero Jucá,
wurde Planungsminister, stürzte aber über aufgezeichnete Kungeleien, die ihn
und weitere hohe Chargen der Interimsregierung als Putschisten entlarven. Temer
und Serra beabsichtigen übrigens, die von da Silva und Rousseff in Afrika und
in der Karibik eröffneten brasilianischen Botschaften wieder zu schließen und
alle sonstigen lateinamerikanischen Integrationsmechanismen zu überdenken. Brasiliens
Zugehörigkeit zur BRICS-Gruppe bleibt vorerst unberührt. Denn China ist
Brasiliens größter Handelspartner und wird als Investor und Hauptaktionär der
Asiatischen Infrastruktur-Entwicklungsbank AIIB heftig umworben. Im Übrigen
sollen aber bilaterale Bindungen, nicht multilaterale, angestrebt werden.
Das
fünftgrößte Land der Welt, die neuntgrößte Wirtschaftsmacht, ordnet sich
bedingungslos der US-amerikanischen Geostrategie unter. Schon am Tag nach der
Impeachment-Zulassung im Kongreß erstattete der sozialdemokratische Senator
Aloysio Nunes bei Staatssekretär Thomas Shannon (Ex-US-Botschafter in
Brasilien) und Madeleine Albright, ehemals Bill Clintons Außenministerin, heute
Chefin des Lobbykonzerns Albright Stonebridge Group, dem auch Joschka Fischer
als Senior Strategic Counsel (Senior-Strategieberater) angehört,
Vollzugsmeldung in Washington.
Niemals
in meinen 42 Jahren in Brasilien, die Militärdiktatur ausgenommen, war mir so
bang um dieses Land. Wie konnte es so weit kommen?
Soviel
Rückschritt brauchte selbstverständlich mediale und parlamentarische Vorarbeit.
Als Speerspitze bot sich der besagte, intellektuell eher bescheidene, aber
rachsüchtige Wahlverlierer Aécio Neves an. Als
echter Sozialdemokrat und Chef der erzopportunistischen ›Partei der brasilianischen Sozialdemokratie‹ (PSDB) hatte er schon 2013 gefordert, die Macht der Arbeiterpartei
um jeden Preis zu brechen, dies ungeachtet der letztlich liberal geprägten
Wirtschaftspolitik von Präsident Lula da Silva (2003 – 2011) und seiner
Nachfolgerin Dilma Rousseff, der zufolge gerade Banken und Industrie mehr
verdienten als je zuvor. Neves setzte auf den Namen des Großvaters, auf den
Filz seiner Partei und die unversöhnliche Aversion der traditionellen
Oligarchien und ihrer töpfeklappernden, besserverdienenden Nacheiferer gegen
jedweden sozialen Ausgleich. Mithilfe jener fünf Familien, die die fast
ausschließlich die privatwirtschaftlich-kommerziellen und rechtsliberalen
Medien Brasiliens beherrschen, wurde eine beispiellose Haßkampagne inszeniert. Hilfreich
war dabei das Know-how der US-Botschafterin Liliana Ayalde, die, aus Bolivien
ausgewiesen, im Jahr 2012 in Paraguay den äußerst ähnlichen ›kalten Putsch‹ gegen Präsident Fernando Lugo koordiniert hatte. Die Medienbarone
schossen sich mit systematisch wiederholten Korruptionsvorwürfen,
Falschmeldungen und Verleumdungen auf die Präsidentin, die Arbeiterpartei und
den nationalen Ölkonzern ein. Und sie brachten die auch in deutschen
Konzernmedien hochgejubelten Demonstrationen eines Bürgertums zustande, das
sofort nach Militärregierung schrie. Die Militärs allerdings zeigten die kalte
Schulter und stellten sich ausdrücklich hinter die Verfassung. Indessen sucht die
Justiz mit bislang ungekannter Insistenz nach Korruptionsbelegen im Umkreis von
Rousseff, Petrobras und vor allem von Lula da Silva, der als erklärter Kandidat
der Präsidentschaftswahlen 2018 kaltgestellt werden soll. Man wurde fündig.
Die
Aktion ›Lava Jato‹ [sinngemäß: Waschstraße] brachte Dutzende
von Unternehmern, Abgeordneten, Direktoren der Petrobras und der großen
Baukonzerne vor den Kadi – Korruption ist schließlich Teil aller
politischen Kultur – konnte aber weder Rousseff noch da Silva schlüssig
inkriminieren. Sie belastete dagegen ungewollt aber schwerstens die Gegner der
Präsidentin. Diese suchen nun erst recht den Regime Change, weil sie sich von
einer rechtslastigen, US-hörigen Regierung die Absolution versprechen.
Der niedere
Klerus und die bourgeoise Demokratie Das
höchst fadenscheinige Amtsenthebungsverfahren mußte also her, wie auch immer.
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Und dieser führt - formalistisch und äußerlich legal - durch den Irr- und Verwirrgarten der
parlamentarischen, indirekten, repräsentativen Demokratie, liturgische Ikone
der westlichen Wertegemeinschaft und Garantie dafür, daß Abstimmungen so
ausfallen wie vorher abgekartet. Im brasilianischen Unterhaus (Câmara dos
Deputados) sitzen derzeit 513 Abgeordnete aus insgesamt 25 Parteien. Gemeinsam
ist ihnen die Anonymität. Wer kennt schon ihre Kürzel oder Namen, wer weiß, was
sie außer Lobby tatsächlich beschäftigt, was sie eigentlich unter ihrem Mandat
verstehen? Nur 95 aus gerade vier Parteien stimmten gegen die Amtsenthebung
Dilma Rousseffs: Vollzählig ihre ›Partei
der Arbeiter‹ (PT), aber auch die ›Partei für Sozialismus und Freiheit‹ (PSOL) und in alter Treue die ›Kommunistische Partei von Brasilien‹ (PCdoB).
Nur
34 der 511 über Rousseff Votierenden haben ein Direktmandat, sind also
persönlich gewählt. Die Übrigen gelten als ›niederer
Klerus‹, als käufliche Mitläufer und
Manövriermasse auf den Listenplätzen. Mehr als 100 hatten vorgegeben, gegen das
Impeachment votieren zu wollen und somit als Sperrminorität die Amtsenthebung
zu blockieren. Die ausnahmsweise nicht geheime, mündliche und vom Fernsehen
übertragene Abstimmung offenbarte aber, wer das Volk wirklich vertritt. Da hieß
es nicht einfach ›ja‹ oder ›nein‹, sondern ›ja, im Namen der charismatischen
Erneuerung‹, ›ja, für meinen Enkel Pedro‹,
›ja, für alle Versicherungsvertreter‹ oder ›ja, weil gegen die
Geschlechtsumwandlung von Kindern in der Schule‹, selbstverständlich auch ›ja,
gegen den Kommunismus‹ (Época, 18.4.
und Vermelho, 17.4.). Betroffenheit löste der Abgeordnete Bolsonaro aus, der
sein Ja einem berüchtigten Folterer der Militärdiktatur widmete, unter dem auch
die junge Dilma Rousseff zu leiden hatte, wie Bolsonaro stolz betonte. Folgerichtig
knallten nach der Abstimmung Sektkorken und Böller auf den schicken Balkonen
von São Paulo, dort wo schon längst das Töpfeklappern an der Tagesordnung war. [1]
Der
Parlamentspräsident Eduardo Cunha, Neves’ Alter Ego und heute wohl der bestgehaßte
Mann Brasiliens, hatte die Hinterbänkler und den Abstimmungsmodus derart
präpariert, daß nur noch starke Charaktere ein öffentliches Nein riskierten.
Cunha ist die Identifikationsfigur der brasilianischen Rechten, Prototyp des
neuen smarten Technikers der Macht. Evangelikaler Opportunist [eines seiner Unternehmen
nennt sich Jesus.Com], mit nationalen und internationalen Korruptionsvorwürfen
belastet - die Schweiz wird demnächst
rund 8 Millionen Dollar seiner dort geparkten Schmiergelder an Brasilien
zurückerstatten - personifiziert er die
Klimax der abgehobenen abgekoppelten Abgeordnetendiktatur.
Ziel
und Endstadium der indirekten, repräsentativen Demokratie: Mit bösartiger
Virtuosität hat er die integre, direkt gewählte Hoffnungsträgerin der Armen zur
Strecke gebracht und Brasilien zurück in den Hinterhof der USA. Inzwischen - und zu spät - vom Obersten Bundesgericht suspendiert,
manipuliert er nun den Kongreß über seine parlamentarischen Zeloten. Die
schweizerische Historikerin Henriette Hanke Güttinger schrieb mir dieser Tage:
»Ob Militärputsch oder smart power im Gewande der repräsentativen Demokratie,
was dann folgt ist gleich: Es wird auf Kosten der einheimischen Bevölkerungen
schamlos geplündert.« Und das gilt nicht nur für Lateinamerika. [2]
Zu
Michel Temer schreibt Peter Steiniger in der ›Jungen Welt‹: Mann für Mann - Die Einschläge um Brasiliens Interimspräsidenten
Michel Temer kommen ihm immer näher. Globo-Medien rücken bereits ab. Und
weiter geht’s: Brasiliens Kabinett hat binnen eines Monats bereits den dritten
Mann verloren. Nun trat Tourismusminister Henrique Eduardo Alves die Reise ins
politische Aus an. Auch sein Rücktritt steht im Zusammenhang mit Aussagen des
früheren Ölmanagers Sérgio Machado. Dieser plaudert gegenwärtig im Rahmen eines
Deals mit der Justiz munter aus, wie die Netzwerke von Politik und Wirtschaft
seit Jahrzehnten funktionieren und die schwarzen Kassen der Parteien mit
Schmiergeldern gefüllt werden. Millionen an cash wechselten demnach den
Besitzer, auch Alves soll die Hand aufgehalten haben. Zuvor hatten bereits die Ressortchefs
für Planung und für Transparenz das Feld räumen müssen. Alle drei gehören der
Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) von Interimspräsident Michel Temer
an. Auch für diesen wird es immer enger. Neben den Namen von etlichen
Gouverneuren und Parlamentariern taucht auch sein Name auf Zahlungslisten auf,
die die Korruptionsermittlungen der »Operation Lava Jato« zu den Skandalen um
Petrobras und den Baukonzern Odebrecht ans Licht bringen. Machado belastet
Temer nun direkt, nennt Summen, Orte und Zeiten ihrer Treffen. In einer eilig
einberufenen Pressekonferenz wies Interimspräsident Temer am 16. Juni alle
Vorwürfe zurück. Machados Äußerungen seien »unverantwortlich, leichtfertig,
verlogen und kriminell«. Auf konkrete Vorwürfe gegen ihn ging er nicht ein.
Würden diese zutreffen, wäre er nicht in diesem Amt, betonte Temer allerdings.
So jemand »wäre nicht geeignet, das Land zu führen«.
Von
Temers Führungsqualitäten nicht mehr restlos überzeugt scheint auch der
Globo-Konzern. In dessen Leitmedium, der Nachrichtensendung »Jornal Nacional«,
wird er bereits demontiert. Für Brasiliens Weichensteller aus Medien, Kapital,
Justiz und konservativen Kreisen ist die PMDB - ein Sammelbecken meistbietend zu habender
Politik-Entrepreneure - ohnehin nur
Mittel zum Zweck. Gut genug für den parlamentarischen Putsch, der am 12. Mai
zur Suspendierung der Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT)
führte, doch an der Spitze des Staates nur dritte Wahl.
Rousseff
kämpft um ihre Wiedereinsetzung und wirbt für vorgezogene
Präsidentschaftsneuwahlen noch in diesem Jahr. [3]
[1] Siehe http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2452
26. 9. 15
Der große Happen - Von Wolf Gauer
[2] Quelle: https://www.seniora.org/de/home/uebersicht-aller-beitraege-politik/906-dilma-und-die-repraesentative-demokratie?highlight=WzkwNl0= Erschienen
in Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft, Heft
12/2016
[3] https://www.jungewelt.de/2016/06-18/008.php Peter Steiniger
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