Brasilien - Dilma Rousseff abseits westlicher Berichterstattung 02.10.2016 20:25
d.a. Der in São Paulo beheimatete Autor und Journalist Wolf Gauer hat
uns
über Jahre hinweg zuverlässige und ungefärbte Analysen über Lateinamerika
zukommen lassen. Wir veröffentlichen hier seinen Bericht zur gegenwärtigen Lage
in Brasilien [1]:
Die
nationale Schande - Von Wolf Gauer Böllerschüsse
und teures Feuerwerk in den »besseren« Vierteln von São Paulo signalisierten am
31. August 2016 das Ergebnis der Schlussabstimmung des brasilianischen Senats
im beschämenden Amtsenthebungsprozess gegen Dilma Vana Rousseff, die legitime
Präsidentin Brasiliens: ›Dilma‹ ist abgewählt. Mit 61 Ja- und 20
Nein-Stimmen. Trotz ihrer fulminanten Verteidigungsrede, die so sicher in die
brasilianische Geschichte eingehen wird wie das vergleichbare ›Politische
Testament‹ des Präsidenten Getúlio
Vargas, der sich 1954 nach der Niederschrift erschoss.
Der
ungeliebte Interimspräsident Michel Elias Temer Lulia, vormals Rousseffs
Vize - eine Konzession an den
sozialdemokratischen Koalitionspartenr PMDB -
ist nunmehr Regierungschef bis zu den Präsidialwahlen von 2018. Einige
Senatoren geben zu, dass sie gegen ihre Überzeugung gestimmt haben, nämlich so, wie
es die extreme Hasskampagne der Medienkonzerne gegen die integre Nachfolgerin
von Präsident Lula da Silva diktierte. [2]
Ihre
politischen Rechte hat man Rousseff in separater Abstimmung überraschend
belassen, und sie kämpft weiter. Beim Obersten Bundesgericht ist schon
Beschwerde gegen das Verfahren eingelegt. Altpräsident Lula da Silva bemüht
sich um eine nationale demokratische Front gegen die Regierung der Putschisten.
Laut
Pressemitteilungen sind gegen 49 der 81 Senatsmitglieder Strafsachen anhängig,
bislang ohne praktische Folgen. Vierzehn Jahre sozialer Ausgleich durch die
Regierungen der Arbeiterpartei (PT) haben deutlich gemacht, dass Brasilien keine
Spielwiese der Eliten mit Offshore-Konto und obligatorischer Zweitwohnung in
Miami mehr sein kann. Lula da Silvas und Rousseffs Ausscheren aus der
US-hörigen Nord-Süd-Gefolgschaft und ihre Hinwendung zur Süd-Süd-Solidarität,
zur lateinamerikanischen Integration und schließlich zur BRICS-Gruppe waren die
logische Folge ihres Bemühens um eine multipolare, solidarische Welt. Die von
Rousseff angestoßene Offensive gegen die Korruption [›Aktion Waschstraße‹]
pervertierte in den Händen der bourgeoisen Justiz zur einer selektiven
Hexenjagd auf die Arbeiterpartei, vor allem auf Altpräsident Lula da Silva.
Seine für 2018 angekündigte erneute Kandidatur soll unbedingt verhindert
werden.
Der
peinliche Nachfolger und ›Rio 2016‹ Michel
Temer ist nun Präsident, obwohl er wegen Parteifinanzierungsvergehen in seinem
heimatlichen Bundesstaat São Paulo für 8 Jahre unwählbar ist; weitere
Korruptionsvorwürfe stehen an. Temer flieht sein Volk. Nach seiner
olympischen Eröffnungsansprache von ganzen 7 Sekunden [ohne namentliche Ansage]
war
er mit 105 Dezibel ausgebuht worden. Keines der 18 angereisten
Staatsoberhäupter - 45 hatte man
erhofft, bei der Olympiashow in London waren es 110 gewesen - akzeptierte die Ehrenplätze neben dem ›Usurpator‹, wie ihn die kritischen Medien nennen. Nur 13 % der Bevölkerung
würden ihn jemals wählen. Japans Regierungschef Shinzo Abe und Yuriko Koike,
Gouverneurin der Präfektur Tokio, beide Gastgeber der nächsten Spiele, mussten
sich bei der zeremoniellen Übernahme der olympischen Mission mit dem
Parlamentsvorsitzenden Rodrigo Maia begnügen. Das Staatsoberhaupt hatte
gekniffen, ein Skandalon in den olympischen Annalen. Temer schrieb den
versetzten Japanern unverfroren, sie könnten ihn ja gerne in Brasilia
aufsuchen. Präsident Lula da Silva hatte vormals den Olympiastandort Rio
durchgesetzt, und Dilma Rousseff bewältigte die innenpolitischen und
finanziellen Hürden. Brasiliens Olympioniken führen ihre Erfolge auf die
Sportförderung der PT-Regierungen zurück. Seit 2005 wurden 17.000 SportlerInnen
mit insgesamt 600 Millionen Real (rund 200 Mio. €) unterstützt. »Der Sport hat
mein Leben verändert, für mich ist er die weltweit größte soziale Einbindung«
versichert der Ringer Davi Albino, Afro-Brasilianer und vormals Straßenkind in
São Paulo (Vermelho, 9. 8. 16); Rafaela Silva, die die Goldmedaille im Judo
gewann, stammt aus einer Favela in Rio. ›Rafaela
- ouro na favela‹ (Rafaela - Gold in
der Favela) skandierten die erstmals einbezogenen Mitbewohner. Die
Sportbeihilfe ist nur eine der Errungenschaften, die nun der Sozialdemontage und
Privatisierungswut der neuen Machthaber ausgeliefert sind.
›Rio 2016‹ war so fremdbestimmt, korporativ dirigiert und durchkommerzialisiert
wie die Fußball-WM 2014 - der Zugang unerschwinglich für die ärmeren
Brasilianer. Die elitären Sportarten der Kolonisatoren bis hin zu Golfspiel und
Reiten in Frack und Zylinder illustrierten die persistente Führungs- und
Normierungshoheit der reichen Länder. Das arrogante und unsportliche Verhalten
einiger US-Olympioniken gegenüber russischen SportlerInnen und dem Gastland
selbst spiegelte den hegemonialen Anspruch Supermacht im Norden. Die dennoch
hochgestimmte und hoffnungsvolle Atmosphäre der Spiele war vor allem den
teilnehmenden Frauen zu verdanken. Frauen sind dagegen im Kabinett Temer nicht
vertreten, da gibt es nur Männer, weiße, versteht sich. Umso bedeutsamer war demgegenüber
das Eintreten der Senatorinnen der Kommunistischen Partei (PCdoB) und der
Arbeiterpartei (PT) für Dilma Rousseff. Sie waren Glanzlichter in der ›Woche der nationalen Schande‹, wie Lula da Silva die Gerichtstage
im Senat etikettiert. (Brasil 247, 25. 8. 16).
Südamerika
unter US-Hegemonie In
Brasilien, im fünftgrößten Land und in der neuntgrößten Volkswirtschaft der
Welt, leben 206 Millionen Menschen, die Hälfte aller Südamerikaner. Rousseffs
ungerechtfertigte Ausschaltung - und
damit werden wir nun jeden Morgen wach -
bedeutet die endgültige Neokolonialisierung und den strategischen
Missbrauch ganz Lateinamerikas. Sie ist im Zusammenhang mit der 2015 erfolgten
fragwürdigen Wahl des US-hörigen Mauricio Macri in Argentinien zu sehen, Macri sagte umgehend zwei US-Militärbasen zu, ebenso
mit dem CIA-Monsanto Putsch gegen Präsident Fernando Lugo in Paraguay im Jahr 2012,
der eine Basis für die US-Airforce erbrachte, ferner mit dem anhaltenden
Wirtschaftsterror gegen Venezuela, der Wahl des US-Bürgers Pedro Pablo
Kuczynski in Peru, die zu 3 US-Basen und mehreren Radarstützpunkte führte, mit
den abstrusen Aktionen bolivianischer Bergleute, die sich auf einmal gegen die Gewerkschaften
und für die Privatisierung stark machen, mit den unsäglichen Gräueln in
Honduras und Mexiko und leider auch mit dem rätselhaften Weg, den Kuba
eingeschlagen hat.
Lula
da Silva hatte der US-Regierung während seiner Amtszeit einen Marinestandort in
Rio und die Nutzung einer Raumfahrtbasis in Alcântara (MA) verweigert - letztere
flog daraufhin in die Luft. Temers Außenminister José Serra hat entsprechende
Verhandlungen bereits wieder aufgenommen. Serra, selbst hochgradiger Korruption
verdächtigt, gilt als ›der
Mann Amerikas in der Regierung‹
(Brasileiros, 3. 6. 16), der in Zukunft gegen Brasiliens
BRICS-Zugehörigkeit eingesetzt wird. Bezeichnend für das Niveau der
neuen US-Handlanger: Serra war auf Befragen der Journalisten nicht in der Lage,
die einzelnen Mitglieder der BRICS-Staaten fehlerfrei zu benennen.
Der
US-gesteuerten Regierung Temer ist es gelungen, sämtliche
Wirtschaftsindikatoren rapid zu verschlechtern. Die Inflation ist auf 9 % und
das unter Rousseff kontrollierte Haushaltsdefizit von 70 Mrd. Real (20 Mrd. €) ist
in 3 Monaten auf 170 Mrd. Real (48,5 Mrd. €) angewachsen, unter anderem wegen
ebenso schamloser wie schlauer Gehaltsaufstockungen im oberen juristischen und
administrativen Bereich. Dagegen haben 1,5 Millionen Brasilianer seit Temer
ihre Stellung verloren.
Die
Automobilproduktion, wichtigster Industriewert, fiel allein im August um 18,4 %.
Die Privatisierung der Bundesuniversitäten ist angepeilt, die Ausgaben im
Schulbereich sollen um ein Drittel verringert werden, ›Schule ohne Staat‹ ist
die ausgegeben Losung, auch im öffentlichen Gesundheitswesen. Eine
grundsätzlich private Gesundheitsversicherung für alle ist angepeilt.
Argentiniens Präsident Mauricio Macri hat am 19. 9. 16 sein Land wieder der
Verschuldungsagentur IWF geöffnet, Brasilien wird folgen. ›Brazil open for business‹
konstatierte das Wall Street Journal am 15. 9. 16. In der Eröffnungsansprache
zur 71. UNO-Sitzung am 20. September wollte Präsident Temer brasilianisches
Volkseigentum zum Verkauf anbieten - ungeniert und am falschen Ort.
Wie
einem Bericht von ›Strategic Alert‹ vom 23. 9. zu entnehmen ist, hat Michel
Temer am 21. September bei einem Essen des ›Council
of the Americas‹ in New York ein
erstaunliches öffentliches Geständnis ausgesprochen: Er sagte, das
Absetzungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff, durch das er vor einem
Monat Präsident wurde, sei begonnen worden, weil sie sich weigerte, das
Austeritäts- und Privatisierungsprogramm der Banken durchzusetzen. Temer sagte,
vor etwa zehn Monaten, »als ich noch Vizepräsident war, veröffentlichten wir
ein Dokument mit dem Titel ›Eine
Brücke in die Zukunft‹. …… Wir
schlugen vor, daß die Regierung die in diesem Dokument vorgestellten Thesen
übernimmt. Als das jedoch nicht funktionierte und der Plan nicht angenommen
wurde, wurde ein Prozeß eingeleitet, der darin gipfelte, daß ich als Präsident
der Republik eingesetzt würde.« Bekanntlich ist Rousseff offiziell wegen
angeblicher Manipulation des Staatshaushalts abgesetzt worden und nicht, weil
sie eine Wirtschaftspolitik betrieb, für die sie gewählt wurde. Zu seinen den
Wall-Street-Investoren gegenüber erläuterten Plänen gehört neben den von Gauer
genannten Punkten auch eine Beschneidung der Arbeitsrechte. [3]
Bei
den Protesten gegen Rousseff, schrieb die Redaktion ›Konjunktion‹ [4] Anfang
Mai, hatten sich die Hinweise auf eine US-Einmischung gehäuft. »Washington hat
ein gerütteltes Maß an Interesse, daß Brasiliens erfolgreiche gemeinsame Arbeit
mit Rußland, China, Indien und Südafrika im Wirtschaftsbündnis der BRICS
scheitert. Und was könnte da besser helfen, als einen oligarchischen
Staatspräsidenten einzusetzen, dessen Partei die US-Interessen gutheißt und
sogar verfolgt. Als wichtiger Verbündeter Rußlands und als wichtige Säule des
BRICS-Wirtschaftsverbunds scheint Brasilien das nächste Opfer eines
US-induzierten ›regime change‹ zu werden. Der Hegemon kämpft an
allen Ecken und Enden um sein politisches und wirtschaftliches Überleben.
Anscheinend ziehen sich die Stricke um die USA immer enger, wenn man die vielen
Brandherde betrachtet, die die USA auslösen und stetig anfachen.« Rousseff hatte
während des Amtsenthebungsverfahren alle gegen sie gerichteten Vorwürfe
zurückgewiesen, vor einem Bruch der brasilianischen Demokratie gewarnt und in
ihrer Verteidigungsrede am 29. August erklärt: »Wir stehen vor einem
Staatsstreich.« Sie unterstellte den Senatoren und Michel Temer, daß sie sich
nicht mit einer Frau an der Staatsspitze abfinden könnten. Die frühere
Guerillakämpferin erinnerte auch an ihre Zeit im Folterkeller während der Militärdiktatur:
»Sie habe immer für eine freie und gerechte Gesellschaft gekämpft, eine solche
drohe nun durch eine illegitime Regierung abgelöst zu werden.«
[1] https://www.seniora.org/de/954
Die nationale Schande - Von Wolf Gauer [2] Brasilien
- Dilma und die repräsentative Demokratie - Von Wolf Gauer 19.
6. 16 Dilma und die repräsentative
Demokratie - Von Wolf Gauer [3]
Strategic Alert Jahrgang 29, Nr. 39 vom
23. September 2016 [4] http://www.konjunktion.info/2016/05/brasilien-welches-ziel-verfolgen-die-usa-beim-amtsenthebungsverfahren-gegen-rousseff-einen-regime-change/ 2.
5. 16
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