Südamerika: Die neoliberale Reconquista - Von Wolf Gauer

Der Journalist lebt seit 1974 in São Paulo; von ihm haben wir bereits mehrere

Berichte vorgestellt; wir veröffentlichen hier seine jüngste Analyse:

Ich komme gerade aus Santiago de Chile zurück. Wieder im heimatlichen Brasilien, wird mir klar, dass die südamerikanischen Nationen zwar mehr und mehr konvergieren, jedoch keineswegs so, wie wir uns das nach der bleiernen Zeit der Militärdiktaturen vorgestellt haben. Beginnen wir mit Chile.

Ein Blick zurück: In der Calle Londres Nr. 38, vor einem der geheimen Folter- und Liquidierungskerker der Militärdiktatur (1973 –1990), erinnern Stolpersteine an einige der damaligen Opfer. Darunter die beiden Kommunisten Pedro Rojas Castro und Alejandro Gomez Vega. Mit 21 beziehungsweise 22 Jahren wurden sie hinter der biederen Haustür zu Tode gebracht. Den ganzen Umfang der Unterdrückungssystematik jener Zeit dokumentiert inzwischen das 2010 fertiggestellte Museum der Erinnerung und der Menschenrechte. Unter persönlicher Anleitung des damaligen US-Außenministers und Friedensnobelpreisträgers Henry Kissinger hatte der General Augusto Pinochet einen bis dahin ungekannten Staatsterrorismus organisiert, der jede Erinnerung an die sozialistische Regierung des Präsidenten Salvador Allende Gossens auslöschen sollte. Pinochet schlug am 11. September 1973 los, am südamerikanischen 9/11. Rund 100.000 Menschen wurden inhaftiert, etwa die Hälfte gefoltert, und 4000 verschwanden für immer. Hinweise auf Kissinger und die Rolle der USA drängen sich den Museumsbesuchern nicht gerade auf.

Weniger Staat und weniger Souveränität
Die Methodik des chilenischen Militärregimes perfektionierte diejenige der Militärdiktaturen Brasiliens (1964 –1985), Uruguays (1973 –1985) und Argentiniens (1976 –1983), alle in enger Abstimmung mit den USA. Vor allem bei der Durchsetzung der gesellschaftspolitischen Ziele und der Nichtachtung der Interessen der eigenen Bevölkerung. Nach Pinochet kehrten zwar Chiles zivile Mitte-Links-Regierungen zum demokratischen Ritual zurück, nahmen aber  – und nehmen weiterhin  – sozial-regressive Strukturveränderungen vor, die später auch in den als links geltenden Staaten des Kontinents durchgesetzt werden sollten. Beispielsweise in Argentinien nach der
Erledigung des kirchnerismo (August 2015) und in Brasilien nach dem parlamentarischen Putsch gegen die  Präsidentin Dilma Vana Rousseff am 17. April 2016  [1]. Nur wenige Länder widerstehen noch der Sozialdemontage und ihren US-gesteuerten Strategen: Bolivien, einstweilen erfolgreich, Ecuador mit ungewisser und Venezuela ohne jede Prognose. Es geht dabei grundsätzlich um weniger Staat und weniger Souveränität. Um den Abbau öffentlich-sozialer Verantwortlichkeit, um die Einbindung des jeweiligen nationalen Marktes, der nationalen Ressourcen, der Produktions- und Streitkräfte in die globalen Netze und neokolonialistischen Konstrukte der USA und EU. Letztere firmieren meist unter einem Etikett wie Freihandel, Verteidigungsorganisation oder nett und verlogen Partnerschaft. Des weiteren werden militärische Standorte angestrebt, die Neutralisierung kultureller Eigenständigkeit und die Angleichung der jeweiligen Verbrauchergewohnheiten an diejenigen der imperialistischen Zentren. All dies wird vor Ort betrieben und von Repräsentanten der lokalen Eliten und Clans, deren Oligarchie bis in die kolonialen Anfänge zurückreicht, vorgelebt. Nach der Ausbildung in den USA oder Europa identifizieren sie sich mit deren Interessen und monopolisieren die wichtigsten nationalen Wirtschaftszweige und Medien. Hohe Mauern für einen indigenen Hütejungen wie Evo Morales, einen Dreher wie Lula da Silva oder einen Busfahrer namens Nicolás Maduro.

Die systematische Demontage 
Erster Schritt nach einem populistischen Wahlsieg oder notfalls Putsch ist die Neutralisierung von Legislative und Judikative oder, wie in Brasilien, deren Instrumentalisierung mittels kasuistischer Tricks, parlamentarischer Schliche oder Neubesetzung mit Marionetten. Es folgt die Umstrukturierung der Wirtschaft, streng nach Milton Friedmans ultra-liberalistischem Postulat Kapitalismus und Freiheit. Nämlich Freiheit zum Privatisieren von Erziehung und Bildung, von Gesundheits- und Altersvorsorge und Freiheit von jeder Art sozialstaatlicher Verantwortung. Freiheit auch für ausländisches Kapital bis hin zum Verkauf ganzer Landstriche und angestammten Volkseigentums jeder Art. In Chile existiert heute nur noch eine staatliche Bank, die BancoEstado; 19 der 25 Privatbanken sind Ableger ausländischer Finanzinstitute. Ein deutschstämmiger Handwerksmeister erklärte mir, dass chilenische Kupfererzeugnisse längst keine Chance mehr gegenüber ausländischen Produkten aus chilenischem Kupfer haben. Die Deutsche Auslandshandelskammer Chile bestätigt die »hervorragende Ausgangslage für hier produzierende deutsche Unternehmen, wenn sie zollfrei exportieren wollen, schließlich habe das Land heute mehr als 90 % des Weltmarkts mit Freihandelsabkommen abgedeckt.« (DIHK, 6. 4. 17)  

Das bedeutet: Alles für die Globalisierungs-Champions der EU und USA, die Chiles Mineral- und Agrarressourcen absorbieren, und nichts für eine autochthone chilenische Wertschöpfungskette, an der alle Chilenen Teil hätten. Es versteht sich von selbst, dass Chile und auch Peru in die (lange vor Trump) von den USA forcierte Transpazifische Freihandelspartnerschaft (TPPA) eintreten mußten. »Globalisierung«, lehrt Henry Kissinger, »ist ein anderer Name für die Dominanz der USA.« (Sens Public, 5. 3. 2005)  

Unter den Regierungen der concertación [Mitte-Links-Koalitionen nach Pinochet] hat sich nur wenig geändert. Auf öffentliche Spitäler angewiesene Kranke müssen laut Gesundheitsministerium durchschnittlich 492 Tage auf eine Operation warten. Denn Ärzte verdienen 7mal mehr, wenn sie nach den unterbezahlten, aber obligatorischen Anfangsjahren im öffentlichen Dienst in den privaten Gesundheitsbetrieb wechseln. Ähnliche Verhältnisse im Bildungsbereich: Chile ist in lateinamerikanischen Medien für endlose Konflikte zwischen Schülern beziehungsweise Studierenden und Regierung bekannt. Seit 2011 wurden 800 öffentliche Schulen geschlossen, nur noch 36 % der SchülerInnen besuchen öffentliche Lehranstalten. Pinochet hatte schon 1974 eine Reduzierung der staatlichen Universitäten, Schulen und ihrer Lehrpläne dekretiert. Nach mehreren seit 2009 erfolgten Reformanläufen nimmt Chiles Bildungswesen zusammen mit dem von Argentinien und Uruguay wieder Spitzenplätze in Lateinamerika ein (ohne Berücksichtigung Kubas). Das sagt allerdings weniger über den tatsächlichen Bildungsstand dieser Länder aus als über die prekäre Lage in den restlichen Staaten. Die kulturelle Übergletscherung aus dem Norden tut ein Übriges. Time Warner/CNN mischt 24 Stunden auf der Mattscheibe mit, im Kino laufen vorwiegend US-Produktionen, Fastfood-Ketten und Fettleibigkeit bei Jugendlichen sind unübersehbar. Bildung ist neuerlich eine Geld- und Klassenfrage. »1972 [gegen Ende der sozialistischen Regierung Allende, W. G.] war Chile hinsichtlich der Gleichstellung Nummer zwei in Lateinamerika, heute ist es Nummer zwei bei der Nichtgleichstellung« (Jornal Nova Pátria, 15. 3. 17).  

Die neue Führungskaste  
Chiles Privatisierungsstand und Wirtschaftsmonopolismus wurden von einer neuen Unternehmerspezies maximiert, deren Macht weit über diejenige ihrer Parteien hinausgeht. Der Medien- und Hedgefonds-Milliardär Sebastián Pinera, Präsident von 2010 bis 2014, ist ihr ausgewiesener Repräsentant. Unter seiner Ägide wurde beispielsweise 2012 die gesetzliche Grundlage zur Verpachtung mehrerer Tausend Kilometer Küste an 7 Reeder-Familien geschaffen, lebenslang und vererblich, zu Fischfang und Fischzucht. Der kleinen, traditionellen Fischerei verblieb nur ein schmaler Küstenstreifen. Pinera wird im November neuerlich zu den Präsidentschaftswahlen antreten. Selbst der rechts-liberale Mercurio wagte am 19. März die Frage, ob Pineras »wundersame Fähigkeit zu Buchhaltungsfinten und zum Kauf inaktiver Unternehmen zwecks Steuerersparnis der Regierung eines Landes von Nutzen sein kann«. Als Nummer 688 auf der Forbesliste der Superreichen hat er gute Karten, auch Merkel mag ihn. Die Privatisierung gehört weiterhin zu seinen Prärogativen.

Ähnliche in den USA aufpolierte Dauerlächler mit identischer Zielsetzung sind Mauricio Macri und Pedro Pablo Kuczynski, die Präsidenten Argentiniens und Perus. Kuczynski, Agent der amerikanischen Ölriesen, Bilderberger und bis vor kurzem US-Bürger, durfte als erster Statthalter Washingtons bei Trump vorsprechen. Wegen Machenschaften zugunsten von Standard Oil ging Kuczynski schon 1968 ins US-Exil und wurde dort direkt ins Direktorium der Weltbank gelotst. Seine letzte Wahlkampagne soll laut aktuellem Verdacht der peruanischen Staatsanwaltschaft von dem omnipräsenten brasilianischen Baukonzern Odebrecht, dessen Zahlungen an brasilianische Politiker Fakten und Vorwände für die anhaltende Verfolgung der Arbeiterpartei liefern, mitfinanziert worden sein. Kuczynski gilt unbestritten als langer Arm des Weltwährungsfonds und dessen systematischer Verschuldungspolitik. Peru bleibt weiterhin Standort US-amerikanischer Militärbasen und muß wie Chile von seinen Rohstoffen und  Agrarprodukten leben. Trotz Washingtons politischer Kontrolle ist China mittlerweile der größte Handelspartner der beiden Länder und nimmt 25 % der peruanischen und 23 der chilenischen Ausfuhr ab. Kuczynski, wen wundert’s, will das allerdings stoppen.

Weitaus heikler ist die sich täglich verändernde Lage hier in Brasilien, wo die Hälfte der südamerikanischen Bevölkerung lebt und mittlerweile alle Macht von Personen ausgeht, die nicht von der Bevölkerung gewählt worden sind. Nach dem illegalen Sturz der Präsidentin Dilma Vana Rousseff wird nun nach Gründen zur Inhaftierung ihres Vorgängers Luiz Inácio Lula da Silva gesucht. Lula ist trotz aller Anfeindungen und Diffamierungen mit 45 % der Wählersympathien bisher aussichtsreichster Kandidat der Präsidentschaftswahl im Jahr 2018. 

Die Entwicklung Chiles nach der Militärdiktatur zeigt die neue unblutige Strategie der neoliberalen Restauration in den sogenannten linken Staaten Südamerikas exemplarisch auf. Sie entspricht weitgehend den gravierenden Veränderungen in Argentinien seit dem Amtsantritt des Präsidenten Mauricio Macri im Dezember 2015. Macri besuchte vom 27. bis 29. April die USA. Der Baulöwe traf sich mit seinem früheren Geschäftsfreund Donald Trump und war Ehrengast bei Ölkonzernen in Texas. Diese nämlich interessiert argentinisches Öl und Erdgas.   Schon im November 2015 hatte das Wirtschaftsblatt Forbes Magazine die US-amerikanischen Wünsche formuliert: Zugang zu den Öl- und Gasvorkommen in Patagonien. Das dortige Neuquén-Becken gilt als eines der reichsten   Erdölreservate Südamerikas. Das BASF-Unternehmen Wintershall ist bereits seit 1994 in Neuquén tätig. Mit Gas, allerdings Tränengas, hat Macri den landesweiten Streik vom 6. April bekämpft. Die Argentinier sorgen sich schließlich weniger um Macris Ölhändel als um ihre zunehmende Verarmung und Arbeitslosigkeit und um den Verfall ihrer Währung. Nach Informationen des Präsidialamts vom September 2016 lebt mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und 6,3 % aller Argentinier gelten als verelendet. Die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung muß mit etwa 16 € pro Kopf und Tag auskommen. Im ersten Regierungsjahr Macris nahm die Inflation um 45 % zu. Ausländische Investitionen sind rund 7mal geringer als in Brasilien. Noch aber erinnert sich Argentinien an seinen hohen Entwicklungsstand nach dem Zweiten Weltkrieg, der sich mit Ländern wie Australien und Kanada messen konnte. Man weiß im Gegensatz zu Chile, Peru oder Brasilien, dass es allen nicht nur besser, sondern viel besser gehen könnte.

Der kirchnerismo und Macri 
Mit dem Versprechen pobreza cero - null Armut - war Macri bei der Präsidentschaftswahl 2015 gegen den von Cristina Fernández de Kirchner vorgeschlagenen Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Daniel Scioli, angetreten. Und damit gegen 12 Jahre kirchnerismo, eine linke Variante des Peronismus, benannt nach dem Präsidentenehepaar Néstor und Cristina Kirchner und dessen Amtszeiten von 2003 bis 2007 (Néstor) und von 2007 bis 2015 (Cristina). Selbst die kommunistische Partei Argentiniens (PCA) unterstütze beide Präsidenten. Mit dem Namen Kirchner verbinden sich die Wiederherstellung der Menschenrechte, die Aufarbeitung der Folgen der Militärdiktatur (1976 –1983) und des ruinösen ultra-liberalen Regimes der Präsidenten Carlos Menem (1989 –1999). Néstor Kirchners legendärer Schlagabtausch mit George W. Bush (2005), der Argentiniens Beitritt in die Freihandelszone ALCA erzwingen wollte, ist ein Markstein im Bemühen um Eigenständigkeit der südamerikanischen Nationen. Bush, der Bush-Clan verfügt über riesige Ländereien über dem südamerikanischen Guarani-Grundwasserbecken, wollte aus allen 34 Staaten zwischen Alaska und Feuerland eine einzige Spielwiese für die Global Player der USA machen: Mit den schon am Beispiel Chile geschilderten Folgen. Beide Kirchners traten dagegen für eine unabhängige nationale Erneuerung Argentiniens ein, für den Ausbau der argentinischen Industrie, für gewerkschaftliche Repräsentanz der Arbeitnehmer und staatlich abgesicherte soziale Fürsorge. Die umfassende Privatisierung von Seiten der Regierung Menem wurde aufgehoben, Trinkwasser, Ölreserven, Bildung, Gesundheitsfürsorge und Kommunikation wieder unter öffentliche Kontrolle gebracht, darunter auch die nationale Fluglinie Aerolíneas Argentinas und die Flugzeugwerke von Córdoba. Während der Kirchner-Regierungen erreichte Argentiniens Handelsbilanz wieder einen nahezu ausgewogenen Stand. Die Vorwürfe der Korruption gegenüber den Regierungen Kirchner treffen in Einzelfällen zu, umso mehr, als Korruption ein Erbübel jeder (und nicht nur) lateinamerikanischer Administration ist und regelmäßig auch als Instrument der US-amerikanischen und europäischen Beeinflussung eingesetzt wird.  

An der langen Leine   
Mauricio Macri wirft nun das Ruder wieder herum. Rund 500.000 Arbeitsplätze kostete bislang die neuerliche Auslieferung des argentinischen Marktes an die konkurrenzlose Produktschwemme aus den USA, China und der EU. Macris Pilgerfahrt in die USA machte das Maß voll: Statt Argentinien US-amerikanische Investitionen zu beschaffen, verbrachte sie argentinisches Investitionskapital in die USA: Der argentinische Milliardär Paolo Rocca, Hauptaktionär der Techint-Group, des weltgrößten Herstellers nahtloser Stahlrohre für die Ölindustrie, wird ein Röhrenwerk in den USA bauen und mit in Argentinien erwirtschaftetem Geld 1500 neue US-amerikanische Arbeitsplätze schaffen. Der Gipfel vaterlandsloser Gesinnung titelte das Internetportal Resumen Latinoamericano am 27. April. Argentinien ist seit 1998 ein Major non-NATO-ally, ein wichtiger Nicht-NATO-Verbündeter der USA. Macri hat unmittelbar nach seiner Wahl  - und als erster Präsident Argentiniens überhaupt - die US-Botschaft in Buenos Aires betreten, Vollzugsmeldung gemacht und als Morgengabe US-amerikanische Militärbasen auf Feuerland und in der Provinz Misiones genehmigt. Es ist anzumerken, dass Macri seinen Wahlvorteil von 2,8 % dem betrügerischen Kampfjournalismus des rechten und größten argentinischen Medienmonopolisten Grupo Clarín schuldet, außerdem der Tatsache, dass Cristina Kirchner verfassungsmäßig keine unmittelbar anschließende Kandidatur erlaubt war. Trotz ähnlichen Dauerfeuers der Konzernmedien in Brasilien und Ecuador konnten Dilma Rousseff (2014) und Lenín Moreno (2017) einen etwa gleichgroßen Vorsprung erzielen. Während die rechte Opposition in Brasilien und in Ecuador ihren Mißerfolg nicht anerkannte, akzeptierten die kirchneristas ihre Niederlage klaglos. Im Oktober muß die Hälfte des argentinischen Parlaments neu gewählt werden. Möglicherweise werden sich Rückschlüsse auf die Präsidentschaftswahlen 2019 ergeben. Dann nämlich könnte Cristina Kirchner erneut kandidieren. Sie zeigt sich neuerdings wieder häufiger in der Öffentlichkeit.  

Der nicht-erklärte Krieg gegen Venezuela  
Keine Regierung Südamerikas, die aus der imperialistischen Botmäßigkeit ausgeschert ist, war und ist derart extremen innen- und außenpolitischen Angriffen ausgesetzt wie die in Venezuela. Und kein anderes Land, allenfalls Evo Morales’ Bolivien und Chile in den kurzen Jahren der Regierung Allende (1970 –1973), hat so viel für eine gerechtere soziale Umstrukturierung getan wie Venezuela in den 14 Jahren der Präsidentschaft von Hugo Chávez Frias (1999 –2013). Chávez verknüpfte das revolutionäre antikolonialistische Denken des Aufklärers Simón Bolívar (1783 –1830) mit den Zielen des neuzeitlichen Sozialismus und der Lebensweise der originären Südamerikaner vor der europäischen Landnahme. Der Chavismus verbindet Bolívars visionäres Vaterland für alle mit den Zielen des Sozialismus, den Sozialismus mit dem buen vivir, dem guten Zusammenleben) der indigenen Kollektive und das buen vivir mit der Soziallehre der modernen Befreiungstheologie.

Die chavistischen Reformen eröffneten Zugang für alle zu Bildung und Gesundheitsfürsorge, zu Wohneigentum, zu Selbstverwaltung und direkter Demokratie auf allen Ebenen, die unter anderem auch eine Abwahl jedweden Funktionsträgers ermöglicht. Chávez initiierte eine enge politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Kuba, Rußland, China, Bolivien, mit Lulas Brasilien und dem Argentinien der beiden Kirchners, zum Mißfallen der bürgerlichen Eliten und ihrer nordamerikanischen Vordenker. Wie nicht anders zu erwarten, regnete es Sanktionen, Wirtschaftsblockaden, Medienboykott, Sabotage und Einmischungen jeder Art. Am heftigsten wirkte sich die Manipulation des Ölpreises aus, die Venezuelas Einnahmen auf ein Drittel ihrer früheren Höhe reduzierte. Für die inzwischen umgekrempelten südamerikanischen Schlüsselländer Brasilien und Argentinien ist Venezuelas politische Isolierung und sein Ausschluß aus den politischen und wirtschaftlichen Organisationen Lateinamerikas Chefsache. 

Dem biederen Präsidenten Nicolás Maduro wird es immer schwerer, sich gegen die inneren und äußeren Machinationen zu wehren, er muß ohne das Charisma und die sprichwörtliche Genialität seines Vorgängers Chávez auskommen. Die von den USA und auch von deutschen Parteienstiftungen unterstützte Opposition MUD [Mesa de la Unidad Democrática, Tisch der demokratischen Einheit] verfügt über die parlamentarische Mehrheit und beherbergt außerdem die Urheber undemokratischer Schurkenstücke im Interesse der nördlichen Hemisphäre. An erster Stelle zu nennen ist hier der frustrierte zweimalige Wahlverlierer und Nutznießer von Zuwendungen des brasilianischen Bauimperiums Odebrecht, Henrique Capriles Radonski, Gouverneur des Bundeslandes Miranda, der zuletzt 2013 gegen Nicolás Maduro unterlag. Eine Chronik seiner politischen Vergehen habe ich damals unter  www.hintergrund.de/politik/politik-eu/wer-ist-capriles-radonski/  zusammengestellt  [2].  Den Schlußstein zur Isolation des sozialistischen Venezuelas setzte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit ihrer Entscheidung, ohne Zustimmung und Anhörung ihres Mitglieds Venezuela über dessen Probleme in einer außerordentlichen Sitzung zu beraten. Venezuela ist konsequenterweise am 26. April aus dem von Washington gesteuerten Kartell ausgetreten. Angesichts der sich weiterhin verhärtenden innenpolitischen Konfrontation, der medialen Nachrichtenverfälschung und der von der imperialistischen Opposition provozierten gewaltsamen Ausschreitungen hat Präsident Maduro am 1. Mai den Beschluß zur Einberufung einer neuen verfassungsgebenden Versammlung veröffentlicht. Er verzichtet damit auf den Einsatz des loyalen Militärs und macht von einem dem Präsidenten zustehenden konstitutionellen Recht Gebrauch. Die Rechtmäßigkeit der Entscheidung wird in den deutschen und US-amerikanischen Konzernmedien konsequent verschwiegen und damit der Eindruck eines Staatsstreichs vermittelt. Die etwa 500 Delegierten sollen den chavistischen Prinzipen entsprechend nicht von den politischen Parteien, sondern von allen Bevölkerungsgruppierungen gestellt werden, beispielsweise von den kommunalen Räten, den Indigenen, den Arbeiterorganisationen und auch den Rentnern.

Maduros Entschluß hat Ratlosigkeit und Haßtiraden der politischen Gegner hervorgerufen, allen voran der OAS. Er entlarvt die fragwürdige Repräsentativität der westlichen Formaldemokratie und die Farce ihrer abgehobenen Volksvertretungen. Von Seiten der neoliberalen Opposition ist weiterhin mit systematischer Maidanisierung zu rechnen. Tote und Verletzte werden natürlich der legitimen Regierung Maduro angelastet.

 

[1]  Siehe hierzu von Wolf Gauer 
Brasilien - Dilma und die repräsentative Demokratie - Von Wolf Gauer

Brasilien - Dilma Rousseff abseits westlicher Berichterstattung 
Zum Ausgang der Wahlen in Brasilien - Von Wolf Gauer

[2]  Siehe hierzu von Wolf Gauer
Wer ist Radonski, der Gegenkandidat in den venezolanischen Wahlen, wirklich?  Zum Tod des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez Frías - Von Wolf Gauer

 

Quelle: https://www.seniora.org/de/1051 und
https://www.seniora.org/de/1054   Mai 2017 
resp.  http://www.ossietzky.net/9-2017&textfile=3929