Südamerika: Die neoliberale Reconquista - Von Wolf Gauer 17.06.2017 21:52
Der Journalist lebt seit 1974 in São Paulo; von ihm haben wir bereits mehrere
Berichte vorgestellt; wir
veröffentlichen hier seine jüngste Analyse:
Ich komme gerade aus Santiago de Chile
zurück. Wieder im heimatlichen Brasilien, wird mir klar, dass die
südamerikanischen Nationen zwar mehr und mehr konvergieren, jedoch keineswegs
so, wie wir uns das nach der bleiernen Zeit der Militärdiktaturen vorgestellt
haben. Beginnen wir mit Chile.
Ein Blick zurück: In der Calle Londres
Nr. 38, vor einem der geheimen Folter- und Liquidierungskerker der
Militärdiktatur (1973 –1990), erinnern Stolpersteine an einige der damaligen
Opfer. Darunter die beiden Kommunisten Pedro Rojas Castro und Alejandro Gomez
Vega. Mit 21 beziehungsweise 22 Jahren wurden sie hinter der biederen Haustür
zu Tode gebracht. Den ganzen Umfang der Unterdrückungssystematik jener Zeit
dokumentiert inzwischen das 2010 fertiggestellte Museum der Erinnerung und der
Menschenrechte. Unter persönlicher Anleitung des damaligen US-Außenministers
und Friedensnobelpreisträgers Henry Kissinger hatte der General Augusto
Pinochet einen bis dahin ungekannten Staatsterrorismus organisiert, der jede
Erinnerung an die sozialistische Regierung des Präsidenten Salvador Allende
Gossens auslöschen sollte. Pinochet schlug am 11. September 1973 los, am
südamerikanischen ›9/11‹. Rund 100.000 Menschen wurden inhaftiert, etwa die Hälfte
gefoltert, und 4000 verschwanden für immer. Hinweise auf Kissinger und die
Rolle der USA drängen sich den Museumsbesuchern nicht gerade auf.
Weniger Staat und weniger
Souveränität Die Methodik des chilenischen
Militärregimes perfektionierte diejenige der Militärdiktaturen Brasiliens (1964
–1985), Uruguays (1973 –1985) und Argentiniens (1976 –1983), alle in enger
Abstimmung mit den USA. Vor allem bei der Durchsetzung der
gesellschaftspolitischen Ziele und der Nichtachtung der Interessen der eigenen
Bevölkerung. Nach Pinochet kehrten zwar Chiles zivile Mitte-Links-Regierungen
zum demokratischen Ritual zurück, nahmen aber
– und nehmen weiterhin –
sozial-regressive Strukturveränderungen vor, die später auch in den als links
geltenden Staaten des Kontinents durchgesetzt werden sollten. Beispielsweise in
Argentinien nach der ›Erledigung‹ des ›kirchnerismo‹ (August 2015) und in Brasilien nach dem parlamentarischen Putsch
gegen die Präsidentin Dilma Vana
Rousseff am 17. April 2016 [1]. Nur
wenige Länder widerstehen noch der Sozialdemontage und ihren US-gesteuerten
Strategen: Bolivien, einstweilen erfolgreich, Ecuador mit ungewisser und
Venezuela ohne jede Prognose. Es geht dabei grundsätzlich um weniger Staat und
weniger Souveränität. Um den Abbau öffentlich-sozialer Verantwortlichkeit, um
die Einbindung des jeweiligen nationalen Marktes, der nationalen Ressourcen,
der Produktions- und Streitkräfte in die globalen Netze und
neokolonialistischen Konstrukte der USA und EU. Letztere firmieren meist unter
einem Etikett wie ›Freihandel‹, ›Verteidigungsorganisation‹ oder nett und verlogen ›Partnerschaft‹. Des weiteren werden militärische Standorte angestrebt, die
Neutralisierung kultureller Eigenständigkeit und die Angleichung der jeweiligen
Verbrauchergewohnheiten an diejenigen der imperialistischen Zentren. All dies
wird vor Ort betrieben und von Repräsentanten der lokalen ›Eliten‹ und Clans, deren
Oligarchie bis in die kolonialen Anfänge zurückreicht, vorgelebt. Nach der
Ausbildung in den USA oder Europa identifizieren sie sich mit deren Interessen
und monopolisieren die wichtigsten nationalen Wirtschaftszweige und Medien.
Hohe Mauern für einen indigenen Hütejungen wie Evo Morales, einen Dreher wie
Lula da Silva oder einen Busfahrer namens Nicolás Maduro.
Die systematische Demontage Erster Schritt nach einem
populistischen Wahlsieg oder notfalls Putsch ist die Neutralisierung von Legislative
und Judikative oder, wie in Brasilien, deren Instrumentalisierung mittels
kasuistischer Tricks, parlamentarischer Schliche oder Neubesetzung mit Marionetten.
Es folgt die Umstrukturierung der Wirtschaft, streng nach Milton Friedmans ultra-liberalistischem
Postulat ›Kapitalismus und Freiheit‹. Nämlich Freiheit zum Privatisieren von Erziehung und Bildung,
von Gesundheits- und Altersvorsorge und Freiheit von jeder Art
sozialstaatlicher Verantwortung. Freiheit auch für ausländisches Kapital bis
hin zum Verkauf ganzer Landstriche und angestammten Volkseigentums jeder Art. In
Chile existiert heute nur noch eine staatliche Bank, die BancoEstado; 19 der 25
Privatbanken sind Ableger ausländischer Finanzinstitute. Ein deutschstämmiger
Handwerksmeister erklärte mir, dass chilenische Kupfererzeugnisse längst keine
Chance mehr gegenüber ausländischen Produkten aus chilenischem Kupfer haben.
Die Deutsche Auslandshandelskammer Chile bestätigt die »hervorragende
Ausgangslage für hier produzierende deutsche Unternehmen, wenn sie zollfrei
exportieren wollen, schließlich habe das Land heute mehr als 90 % des Weltmarkts
mit Freihandelsabkommen abgedeckt.« (DIHK, 6. 4. 17)
Das bedeutet: Alles für die
Globalisierungs-Champions der EU und USA, die Chiles Mineral- und
Agrarressourcen absorbieren, und nichts für eine autochthone chilenische
Wertschöpfungskette, an der alle Chilenen Teil hätten. Es versteht sich von
selbst, dass Chile und auch Peru in die (lange vor Trump) von den USA forcierte
Transpazifische Freihandelspartnerschaft (TPPA) eintreten mußten. »Globalisierung«, lehrt Henry Kissinger, »ist ein anderer
Name für die Dominanz der USA.« (›Sens Public‹, 5. 3. 2005)
Unter den Regierungen der ›concertación‹ [Mitte-Links-Koalitionen
nach Pinochet] hat sich nur wenig geändert. Auf öffentliche Spitäler
angewiesene Kranke müssen laut Gesundheitsministerium durchschnittlich 492 Tage
auf eine Operation warten. Denn Ärzte verdienen 7mal mehr, wenn sie nach den
unterbezahlten, aber obligatorischen Anfangsjahren im öffentlichen Dienst in
den privaten Gesundheitsbetrieb wechseln. Ähnliche Verhältnisse im
Bildungsbereich: Chile ist in lateinamerikanischen Medien für endlose Konflikte
zwischen Schülern beziehungsweise Studierenden und Regierung bekannt. Seit 2011
wurden 800 öffentliche Schulen geschlossen, nur noch 36 % der SchülerInnen
besuchen öffentliche Lehranstalten. Pinochet hatte schon 1974 eine Reduzierung
der staatlichen Universitäten, Schulen und ihrer Lehrpläne dekretiert. Nach
mehreren seit 2009 erfolgten Reformanläufen nimmt Chiles Bildungswesen zusammen
mit dem von Argentinien und Uruguay wieder Spitzenplätze in Lateinamerika ein
(ohne Berücksichtigung Kubas). Das sagt allerdings weniger über den
tatsächlichen Bildungsstand dieser Länder aus als über die prekäre Lage in den
restlichen Staaten. Die kulturelle Übergletscherung aus dem Norden tut ein
Übriges. Time Warner/CNN mischt 24 Stunden auf der Mattscheibe mit, im Kino laufen
vorwiegend US-Produktionen, Fastfood-Ketten und Fettleibigkeit bei Jugendlichen
sind unübersehbar. Bildung ist neuerlich eine Geld- und Klassenfrage. »1972
[gegen Ende der sozialistischen Regierung Allende, W. G.] war Chile
hinsichtlich der Gleichstellung Nummer zwei in Lateinamerika, heute ist es
Nummer zwei bei der Nichtgleichstellung« (›Jornal Nova Pátria‹, 15. 3. 17).
Die neue Führungskaste Chiles Privatisierungsstand und
Wirtschaftsmonopolismus wurden von einer neuen Unternehmerspezies maximiert,
deren Macht weit über diejenige ihrer Parteien hinausgeht. Der Medien- und
Hedgefonds-Milliardär Sebastián Pinera, Präsident von 2010 bis 2014, ist ihr
ausgewiesener Repräsentant. Unter seiner Ägide wurde beispielsweise 2012 die
gesetzliche Grundlage zur Verpachtung mehrerer Tausend Kilometer Küste an 7 Reeder-Familien
geschaffen, lebenslang und vererblich, zu Fischfang und Fischzucht. Der
kleinen, traditionellen Fischerei verblieb nur ein schmaler Küstenstreifen.
Pinera wird im November neuerlich zu den Präsidentschaftswahlen antreten.
Selbst der rechts-liberale Mercurio wagte am 19. März die Frage, ob Pineras
»wundersame Fähigkeit zu Buchhaltungsfinten und zum Kauf inaktiver Unternehmen
zwecks Steuerersparnis der Regierung eines Landes von Nutzen sein kann«. Als
Nummer 688 auf der Forbesliste der Superreichen hat er gute Karten, auch Merkel
mag ihn. Die Privatisierung gehört weiterhin zu seinen Prärogativen.
Ähnliche in den USA aufpolierte
Dauerlächler mit identischer Zielsetzung sind Mauricio Macri und Pedro Pablo
Kuczynski, die Präsidenten Argentiniens und Perus. Kuczynski, Agent der
amerikanischen Ölriesen, Bilderberger und bis vor kurzem US-Bürger, durfte als
erster Statthalter Washingtons bei Trump vorsprechen. Wegen Machenschaften
zugunsten von Standard Oil ging Kuczynski schon 1968 ins US-Exil und wurde dort
direkt ins Direktorium der Weltbank gelotst. Seine letzte Wahlkampagne soll
laut aktuellem Verdacht der peruanischen Staatsanwaltschaft von dem
omnipräsenten brasilianischen Baukonzern Odebrecht, dessen Zahlungen an
brasilianische Politiker Fakten und Vorwände für die anhaltende Verfolgung der
Arbeiterpartei liefern, mitfinanziert worden sein. Kuczynski gilt unbestritten
als langer Arm des Weltwährungsfonds und dessen systematischer Verschuldungspolitik.
Peru bleibt weiterhin Standort US-amerikanischer Militärbasen und muß wie Chile von seinen Rohstoffen und Agrarprodukten leben. Trotz Washingtons
politischer Kontrolle ist China mittlerweile der größte Handelspartner der
beiden Länder und nimmt 25 % der peruanischen und 23 der chilenischen Ausfuhr
ab. Kuczynski, wen wundert’s, will das allerdings stoppen.
Weitaus heikler ist die sich täglich
verändernde Lage hier in Brasilien, wo die Hälfte der südamerikanischen
Bevölkerung lebt und mittlerweile alle Macht von Personen ausgeht, die nicht
von der Bevölkerung gewählt worden sind. Nach dem illegalen Sturz der Präsidentin
Dilma Vana Rousseff wird nun nach Gründen zur Inhaftierung ihres Vorgängers
Luiz Inácio Lula da Silva gesucht.
Lula ist trotz aller Anfeindungen und Diffamierungen mit 45 % der
Wählersympathien bisher aussichtsreichster Kandidat der Präsidentschaftswahl im
Jahr 2018.
Die Entwicklung Chiles nach der Militärdiktatur zeigt die
neue unblutige Strategie der neoliberalen Restauration in den sogenannten
linken Staaten Südamerikas exemplarisch auf. Sie entspricht weitgehend den
gravierenden Veränderungen in Argentinien seit dem Amtsantritt des Präsidenten
Mauricio Macri im Dezember 2015. Macri besuchte vom 27. bis 29. April die USA.
Der Baulöwe traf sich mit seinem früheren Geschäftsfreund Donald Trump und war
Ehrengast bei Ölkonzernen in Texas. Diese nämlich interessiert argentinisches
Öl und Erdgas. Schon im November 2015
hatte das Wirtschaftsblatt ›Forbes
Magazine‹ die
US-amerikanischen Wünsche formuliert: Zugang zu den Öl- und Gasvorkommen in
Patagonien. Das dortige Neuquén-Becken gilt als eines der reichsten Erdölreservate Südamerikas. Das
BASF-Unternehmen Wintershall ist bereits seit 1994 in Neuquén tätig. Mit Gas,
allerdings Tränengas, hat Macri den landesweiten Streik vom 6. April bekämpft.
Die Argentinier sorgen sich schließlich weniger um Macris Ölhändel als um ihre
zunehmende Verarmung und Arbeitslosigkeit und um den Verfall ihrer Währung.
Nach Informationen des Präsidialamts vom September 2016 lebt mittlerweile ein
Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und 6,3 % aller Argentinier
gelten als verelendet. Die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung muß mit etwa
16 € pro Kopf und Tag auskommen. Im ersten Regierungsjahr Macris nahm die
Inflation um 45 % zu. Ausländische Investitionen sind rund 7mal geringer als in
Brasilien. Noch aber erinnert sich Argentinien an seinen hohen
Entwicklungsstand nach dem Zweiten Weltkrieg, der sich mit Ländern wie
Australien und Kanada messen konnte. Man weiß im Gegensatz zu Chile,
Peru oder Brasilien, dass es allen nicht nur besser, sondern viel besser gehen
könnte.
Der ›kirchnerismo‹ und Macri Mit dem Versprechen ›pobreza
cero‹ - null
Armut - war Macri bei der Präsidentschaftswahl 2015 gegen den von Cristina
Fernández de Kirchner vorgeschlagenen Gouverneur der Provinz Buenos Aires,
Daniel Scioli, angetreten. Und damit gegen 12 Jahre ›kirchnerismo‹, eine linke Variante des Peronismus, benannt
nach dem Präsidentenehepaar Néstor und Cristina Kirchner und dessen Amtszeiten
von 2003 bis 2007 (Néstor) und von 2007 bis 2015 (Cristina). Selbst die
kommunistische Partei Argentiniens (PCA) unterstütze beide Präsidenten. Mit dem
Namen Kirchner verbinden sich die Wiederherstellung der Menschenrechte, die Aufarbeitung
der Folgen der Militärdiktatur (1976 –1983) und des ruinösen ultra-liberalen
Regimes der Präsidenten Carlos Menem (1989 –1999). Néstor Kirchners legendärer
Schlagabtausch mit George W. Bush (2005), der Argentiniens Beitritt in die
Freihandelszone ALCA erzwingen wollte, ist ein Markstein im Bemühen um
Eigenständigkeit der südamerikanischen Nationen. Bush, der Bush-Clan verfügt
über riesige Ländereien über dem südamerikanischen Guarani-Grundwasserbecken, wollte
aus allen 34 Staaten zwischen Alaska und Feuerland eine einzige Spielwiese für
die Global Player der USA machen: Mit den schon am Beispiel Chile geschilderten
Folgen. Beide Kirchners traten dagegen für eine unabhängige nationale
Erneuerung Argentiniens ein, für den Ausbau der argentinischen Industrie, für
gewerkschaftliche Repräsentanz der Arbeitnehmer und staatlich abgesicherte
soziale Fürsorge. Die umfassende Privatisierung von Seiten der Regierung Menem
wurde aufgehoben, Trinkwasser, Ölreserven, Bildung, Gesundheitsfürsorge und
Kommunikation wieder unter öffentliche Kontrolle gebracht, darunter auch die
nationale Fluglinie Aerolíneas Argentinas und die Flugzeugwerke von Córdoba.
Während der Kirchner-Regierungen erreichte Argentiniens Handelsbilanz wieder
einen nahezu ausgewogenen Stand. Die Vorwürfe der Korruption gegenüber den
Regierungen Kirchner treffen in Einzelfällen zu, umso mehr, als Korruption ein
Erbübel jeder (und nicht nur) lateinamerikanischer Administration ist und
regelmäßig auch als Instrument der US-amerikanischen und europäischen
Beeinflussung eingesetzt wird.
An der langen Leine Mauricio Macri wirft nun das Ruder wieder herum. Rund 500.000
Arbeitsplätze kostete bislang die neuerliche Auslieferung des argentinischen
Marktes an die konkurrenzlose Produktschwemme aus den USA, China und der EU.
Macris Pilgerfahrt in die USA machte das Maß voll: Statt Argentinien
US-amerikanische Investitionen zu beschaffen, verbrachte sie argentinisches
Investitionskapital in die USA: Der argentinische Milliardär Paolo Rocca,
Hauptaktionär der Techint-Group, des weltgrößten Herstellers nahtloser
Stahlrohre für die Ölindustrie, wird ein Röhrenwerk in den USA bauen und mit in
Argentinien erwirtschaftetem Geld 1500 neue US-amerikanische Arbeitsplätze
schaffen. ›Der Gipfel
vaterlandsloser Gesinnung‹ titelte
das Internetportal ›Resumen
Latinoamericano‹ am 27.
April. Argentinien ist seit 1998 ein ›Major
non-NATO-ally‹, ein wichtiger
Nicht-NATO-Verbündeter der USA. Macri hat unmittelbar nach seiner Wahl - und als erster Präsident Argentiniens
überhaupt - die US-Botschaft in Buenos Aires betreten, Vollzugsmeldung gemacht
und als Morgengabe US-amerikanische Militärbasen auf Feuerland und in der
Provinz Misiones genehmigt. Es ist anzumerken, dass Macri seinen Wahlvorteil
von 2,8 % dem betrügerischen Kampfjournalismus des rechten und größten
argentinischen Medienmonopolisten Grupo Clarín schuldet, außerdem der Tatsache,
dass Cristina Kirchner verfassungsmäßig keine unmittelbar anschließende
Kandidatur erlaubt war. Trotz ähnlichen Dauerfeuers der Konzernmedien in
Brasilien und Ecuador konnten Dilma Rousseff (2014) und Lenín Moreno (2017)
einen etwa gleichgroßen Vorsprung erzielen. Während die rechte Opposition in
Brasilien und in Ecuador ihren Mißerfolg nicht anerkannte, akzeptierten die ›kirchneristas‹ ihre Niederlage
klaglos. Im Oktober muß die Hälfte des argentinischen Parlaments neu gewählt
werden. Möglicherweise werden sich Rückschlüsse auf die Präsidentschaftswahlen
2019 ergeben. Dann nämlich könnte Cristina Kirchner erneut kandidieren. Sie
zeigt sich neuerdings wieder häufiger in der Öffentlichkeit.
Der nicht-erklärte Krieg gegen Venezuela Keine Regierung Südamerikas, die aus der
imperialistischen Botmäßigkeit ausgeschert ist, war und ist derart extremen
innen- und außenpolitischen Angriffen ausgesetzt wie die in Venezuela. Und kein
anderes Land, allenfalls Evo Morales’ Bolivien und Chile in den kurzen Jahren
der Regierung Allende (1970 –1973), hat so viel für eine gerechtere soziale Umstrukturierung
getan wie Venezuela in den 14 Jahren der Präsidentschaft von Hugo Chávez Frias
(1999 –2013). Chávez verknüpfte das revolutionäre antikolonialistische Denken
des Aufklärers Simón Bolívar (1783 –1830) mit den Zielen des neuzeitlichen
Sozialismus und der Lebensweise der originären Südamerikaner vor der europäischen
Landnahme. Der Chavismus verbindet Bolívars visionäres ›Vaterland für alle‹ mit den
Zielen des Sozialismus, den Sozialismus mit dem ›buen vivir‹, dem guten Zusammenleben) der indigenen
Kollektive und das ›buen vivir‹ mit der Soziallehre der modernen Befreiungstheologie.
Die chavistischen Reformen eröffneten Zugang für alle
zu Bildung und Gesundheitsfürsorge, zu Wohneigentum, zu Selbstverwaltung und
direkter Demokratie auf allen Ebenen, die unter anderem auch eine Abwahl
jedweden Funktionsträgers ermöglicht. Chávez initiierte eine enge politische
und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Kuba, Rußland, China, Bolivien, mit
Lulas Brasilien und dem Argentinien der beiden Kirchners, zum Mißfallen der
bürgerlichen Eliten und ihrer nordamerikanischen Vordenker. Wie nicht anders zu
erwarten, regnete es Sanktionen, Wirtschaftsblockaden, Medienboykott, Sabotage
und Einmischungen jeder Art. Am heftigsten wirkte sich die Manipulation des
Ölpreises aus, die Venezuelas Einnahmen auf ein Drittel ihrer früheren Höhe
reduzierte. Für die inzwischen umgekrempelten südamerikanischen Schlüsselländer
Brasilien und Argentinien ist Venezuelas politische Isolierung und sein
Ausschluß aus den
politischen und wirtschaftlichen Organisationen Lateinamerikas Chefsache.
Dem biederen Präsidenten Nicolás Maduro wird es immer
schwerer, sich gegen die inneren und äußeren Machinationen zu wehren, er muß
ohne das Charisma und die sprichwörtliche Genialität seines Vorgängers Chávez
auskommen. Die von den USA und auch von deutschen Parteienstiftungen unterstützte
Opposition MUD [Mesa de la Unidad Democrática, Tisch der demokratischen
Einheit] verfügt über die parlamentarische Mehrheit und beherbergt außerdem die
Urheber undemokratischer Schurkenstücke im Interesse der nördlichen Hemisphäre.
An erster Stelle zu nennen ist hier der frustrierte zweimalige Wahlverlierer
und Nutznießer von Zuwendungen des brasilianischen Bauimperiums Odebrecht,
Henrique Capriles Radonski, Gouverneur des Bundeslandes Miranda, der zuletzt
2013 gegen Nicolás Maduro unterlag. Eine Chronik seiner politischen Vergehen
habe ich damals unter www.hintergrund.de/politik/politik-eu/wer-ist-capriles-radonski/
zusammengestellt [2]. Den
Schlußstein zur
Isolation des sozialistischen Venezuelas setzte die Organisation Amerikanischer
Staaten (OAS) mit ihrer Entscheidung, ohne Zustimmung und Anhörung ihres
Mitglieds Venezuela über dessen Probleme in einer außerordentlichen Sitzung zu
beraten. Venezuela ist konsequenterweise am 26. April aus dem von Washington
gesteuerten Kartell ausgetreten. Angesichts der sich weiterhin verhärtenden
innenpolitischen Konfrontation, der medialen Nachrichtenverfälschung und der
von der imperialistischen Opposition provozierten gewaltsamen Ausschreitungen
hat Präsident Maduro am 1. Mai den Beschluß zur Einberufung einer neuen
verfassungsgebenden Versammlung veröffentlicht. Er verzichtet damit auf den
Einsatz des loyalen Militärs und macht von einem dem Präsidenten zustehenden
konstitutionellen Recht Gebrauch. Die Rechtmäßigkeit der Entscheidung wird in
den deutschen und US-amerikanischen Konzernmedien konsequent verschwiegen und
damit der Eindruck eines Staatsstreichs vermittelt. Die etwa 500 Delegierten
sollen den chavistischen Prinzipen entsprechend nicht von den politischen
Parteien, sondern von allen Bevölkerungsgruppierungen gestellt werden,
beispielsweise von den kommunalen Räten, den Indigenen, den
Arbeiterorganisationen und auch den Rentnern.
Maduros Entschluß hat Ratlosigkeit und Haßtiraden der
politischen Gegner hervorgerufen, allen voran der OAS. Er entlarvt die
fragwürdige Repräsentativität der westlichen Formaldemokratie und die Farce
ihrer abgehobenen Volksvertretungen. Von Seiten der neoliberalen Opposition ist
weiterhin mit systematischer Maidanisierung zu rechnen. Tote und Verletzte
werden natürlich der legitimen Regierung Maduro angelastet.
[1] Siehe hierzu von Wolf Gauer Brasilien
- Dilma und die repräsentative Demokratie - Von Wolf Gauer Brasilien
- Dilma Rousseff abseits westlicher Berichterstattung Zum
Ausgang der Wahlen in Brasilien - Von Wolf Gauer
[2]
Siehe hierzu von Wolf Gauer Wer ist
Radonski, der Gegenkandidat in den venezolanischen Wahlen, wirklich? Zum Tod
des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez Frías - Von Wolf Gauer
Quelle: https://www.seniora.org/de/1051 und https://www.seniora.org/de/1054 Mai 2017 resp. http://www.ossietzky.net/9-2017&textfile=3929
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