Die Verdammung des Luiz Inácio Lula da Silva - Von Wolf Gauer 04.02.2018 16:34
Wir veröffentlichen hier einen weiteren Beitrag des in São Paulo
lebenden Journalisten, die dieser uns
zur politischen Lage in Mittel- und Südamerika jeweils übermittelt. Nicht
übersehen werden sollte, dass die darin zum Ausdruck gelangende Welt des
Aktienkapitals auch die Welt zahlreicher, das WEF in Davos besuchender
Teilnehmer ist.
Nach der Bestätigung und Verschärfung
der Erstverurteilung des ehemaligen
brasilianischen Präsidenten (2003 –
2011) am 24. Januar geriet Wall Street in Verzückung: Die Aktien des von der
fragwürdigen Regierung Temer zur völligen Privatisierung und Verschleuderung an
US- und EU-Interessenten bestimmten brasilianischen Volkseigentums legten
drastisch zu: 8,63 % bzw. 11,55 % im Falle der Öl- und Energieriesen Petrobras
und Eletrobras.
›Positiv‹ nannte auch Alberto Ramos, Lateinamerika-Chef von Goldman-Sachs,
die Entscheidung der drei Berufungsrichter, die Lulas Gefängnisstrafe von 9 auf
12 Jahre aufstockten, ›eine große Farce‹ dagegen der Diplomat und ehemalige Chef der Nationalen
Wahrheitskommission (CNV) Paulo Sérgio Pinheiro: Er bescheinigte dem
brasilianischen Rechtswesen die Rolle des ›Putsch-Beihelfers‹ der jetzigen Regierung (›Brasil de Fato‹, 26. 1. 18).
Landesweit aber herrschten Verzweiflung und bittere Tränen, wie ich am Tag des
Urteilspruchs auf dem Platz der Republik in São Paulo beobachten konnte.
Krokodilstränen weint die ›New York Times‹, die plötzlich Brasiliens Demokratie im Abgrund sieht (›Brazil’s Democracy
Pushed Into the Abyss‹, 23.1.18). Also dort, wo die US-amerikanischen
Regime-Change-Masche störende Demokratien zu entsorgen pflegt, und wo schon am
31. 8. 2016 die letzte legal gewählte brasilianische Regierung der Präsidentin
Dilma Rousseff deponiert worden ist.
Der britisch-australische
Menschenrechtler Geoffrey Robertson präsentiert die juristische Verfolgung
Lulas seit 2016 vor der UNO und konstatiert die ›traurige Erfahrung, internationale Rechtsnormen und das Recht auf
ein korrektes Verfahren vom brasilianischen System nicht befolgt zu sehen‹ (›Brasil247‹, 25. 1. 18). Lula
versichert, er habe ein besseres Gewissen als alle seine Richter, die lediglich
seine Vorverurteilung durch die bürgerlichen Leitmedien - an erster Stelle die allmächtige Fernsehkette
›TV Globo‹ - nachvollzögen.
Sachverständige stellen die
Zuständigkeit der damit bisher befassten Gerichte ohnehin infrage. Und sie
registrieren seit der grotesken Amtsenthebung von Lulas Nachfolgerin und
Parteigenossin Dilma Rousseff mittels gekaufter Hinterbänkler eine wachsende
Einflussnahme der Regierung auf die Justiz, die dritte Gewalt im Staate.
Beispielsweise durch taktische Neubesetzungen vakanter Posten und ein für
europäische Verhältnisse kaum vorstellbares medienwirksames embedding der
befassten Richter. Der Tod des gradlinigen Bundesrichters Teori Zavascki bei
dem ominösen Absturz eines Kleinflugzeugs am 4. 1. 17 hat weitere Fragezeichen
gesetzt.
Angesehene brasilianische Juristen
bemängeln, dass sich Lulas Verurteilung nicht auf Fakten sondern auf ›Überzeugungen‹ bzw. ungeprüfte
Kronzeugen-Aussagen stütze. Auf Kronzeugen nämlich beruht im Wesentlichen der Anti-Korruptions-Feldzug
namens ›Waschstraße‹: Wer den meisten Dreck am Stecken hat, kann über die kontroverse ›delação premiada‹ [sinngemäß: ›belohnte Kronzeugen- Aussage‹] eine erhebliche Strafverminderung erreichen. Besonders dann,
wenn sich der Inhalt gegen Lula da Silva
richtet. Die Aussage eines schwer belasteten Direktionsmitglieds des
Baukonzerns OAS unterstellte dem Präsidenten Lula die unbezahlte Annahme einer
großen Eigentumswohnung. Der Konzern sollte damit an Großaufträge kommen. Fakt
ist jedoch, dass sich Lula und seine Frau für den Kauf der Wohnung zwar einmal
interessiert, davon aber längst wieder Abstand genommen hatten, während die
Baufirma unbeauftragt aber hoffnungsvoll schon mal eine teure Renovierung in
Angriff nahm. Lula hat diese Wohnung niemals betreten, eine notarielle
Eigentumsübertragung gibt es nicht. Die Immobilie wurde wenige Tage vor dem
Urteilsspruch gerichtlich als Eigentum des verschuldeten Konzerns gepfändet.
Trotzdem ist sie für Lulas erst- und zweitinstanzliche Richter Beleg seiner ›Bestechlichkeit‹. Der einfache
Lebensstil und der bescheidene Vermögensstand des Arbeiterpräsidenten und
seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff sind sprichwörtlich und kontrastieren mit
den enormen legalen und illegalen Kapitaltransaktionen und Geldkoffer-Affären
im Umfeld der Regierung Temer.
Sechs weitere Prozesse nach ›Waschstraße‹-Muster werden
gegen Lula vorbereitet. Der Regierungschef, so heißt es, muss ja von jedwedem
Unrecht gewusst haben. Die bürgerlichen Medien schreien inzwischen nach
Verhaftung. Nach einer zweitinstanzlichen Verurteilung ist sie trotz weiterer
Berufungsmöglichkeiten möglich. Lulas Pass wurde schon kassiert. Der siebte
Sohn analphabetischer Landarbeiter und ehemalige Dreher bei VW durfte der
Einladung der Afrikanischen Union nach Äthiopien, wo Ende Januar die
Ernährungslage der ärmeren Staaten diskutiert wurde, nicht mehr folgen.
Ausgerechnet Lula, der nach den Worten von Enrique Yeves, Chef der FAO, der Ernährungs-
und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen »mit der
Umverteilung des Reichtums in weniger als 10 Jahren 36 Millionen Brasilianer
aus der Armut geholt, die Kindersterblichkeit um 45 % verringert und die
Unterernährung um 82 % vermindert […] hat.« (Brasil247, 28. 12. 17)
Selbst Rechtslastige räumen ein, dass
mit der Verurteilung einzig und allein Lulas Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen
am 7. Oktober verhindert werden soll. Wählerumfragen zufolge würde er schon im
ersten Wahlgang mehr als 38 % erzielen. Und das gilt auch für ›seinen‹ Kandidaten, bzw.
seine Kandidatin einer linken Parteienfront, die Lula nun für den Fall des
Verlusts seiner Freiheit und seiner politischen Rechte anstrebt.
Lulas Arbeiterpartei kann dabei auf
mindestens 3 weitere Parteien zählen. Vor allem auf die beispielhafte
Solidarität der Kommunistischen Partei von Brasilien (PCdoB) und ihre
couragierten Vorkämpferinnen im Parlament. Die junge überparteilich beliebte
und respektierte Präsidentin des PCdoB, Manuela d’Ávila, gilt als
Hoffnungsträgerin der brasilianischen Linken, auch ihr Parteigenosse Flávio
Dino, derzeit Gouverneur des Bundesstaats Maranhão.
Unerwarteter Zuspruch kommt selbst von
ver.di, IG Metall und von einigen US-Abgeordneten. Dennoch gilt unterm Strich
und angesichts der Tatsache, dass in Brasilien die Hälfte aller Südamerikaner
leben, das Fazit des portugiesischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos: »Lula
war inakzeptabel für den US-Imperialismus«. (Sul21, 25. 1. 18).
Siehe hierzu
insbesondere http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1528
30. 5. 10 Militärische Kontrolle und Einkreisung Lateinamerikas durch die USA -
Von Wolf Gauer
Quelle:
https://www.seniora.org/politik-wirtschaft/politik/die-verdammung-des-luiz-in%C3%A1cio-lula-da-silva.html
|