AFGHANISTAN 08.11.2020 19:26
Von dem in Schinah bei Kabul geborenen deutsch-afghanischen Politikwissenschaftler
Dr. phil. Matin Baraki haben wir bereits zahlreiche Artikel
veröffentlicht. Der an der Philipps-Universität Marburg lehrende
Sachverständige für Afghanistan und für internationale Politik hat früh aufgezeigt,
wie die ›internationale
Gemeinschaft‹
bei ihrem zunächst verdeckten und danach offenen Krieg gegen Afghanistan das
gesamte gesellschaftliche Gefüge Afghanistans zerstört, die Infrastruktur, die
ökonomischen, politischen und sozialen Fundamente des Landes vernichtet resp. aus
dem Gleichgewicht gebracht hat, und dass es eine funktionsfähige Gesellschaft
am Hindukusch auf unabsehbare Zeit nicht geben wird.
In
seinem letzten Bericht
»Was können die
Afghanen nach 40 Jahren Krieg erwarten?«
befaßt er sich mit der Lage des Landes nach dem
US-Abkommen mit den Taliban und inmitten der direkten innerafghanischen
Friedensgespräche. Nach
über einer Dekade geheimer und offizieller Verhandlungen hatten sich die
Vereinigten Staaten und die Taliban am 29. Februar 2020 in Doha, der Hauptstadt
des Golf-Emirats Katar, auf ein ›Agreement
for Bringing Peace to Afghanistan‹
geeinigt. In diesem Zusammenhang gaben
die US- und die afghanische Regierung am selben Tag eine gemeinsame Erklärung
ab. Wie es hieß, handle es sich indessen noch nicht um ein umfassendes
Friedensabkommen, sondern lediglich um eine Art ›Türöffner‹ zum Einstieg
in innerafghanische Verhandlungen. Damit war ein erster Schritt hin zu einem
möglichen Frieden in Afghanistan getan. Aber der Weg dahin wird lang und
steinig sein. Als Barack Obama 2008 zum Präsidenten der
Vereinigten Staaten gewählt wurde,
signalisierten die Taliban ihre Bereitschaft, den Konflikt am Hindukusch
politisch lösen zu wollen. Doch seine Ankündigung, das CIA-Konzentrationslager
Guantánamo auf Kuba zu schließen und aus diesem Grund ab sofort keine
Gefangenen mehr zu machen, hatte zur Folge, dass die moderaten und verhandlungsbereiten
Taliban-Funktionäre nun per Drohneneinsatz physisch eliminiert wurden. Allein
2013 töteten US-Streitkräfte mehr als 8000 von ihnen.
Will
man das Abkommen zwischen der US-Administration und den Taliban vom 29. Februar
2020 in seiner Bedeutung einordnen, fällt einem die Redewendung nach dem
römischen Dichter Horaz ein: «Der Berg kreiste und gebar ein Maus». Das
Dokument wurde von Mullah Abdul Ghani Baradar, dem Leiter der
Taliban-Delegation, sowie dem US-Sonderbeauftragten Zalmay Khalilzad, einem
gebürtigen Afghanen, unterzeichnet. US-Präsident Donald Trump, der die Taliban ›große Kämpfer‹ nannte, schickte seinen Außenminister Mike Pompeo zur
Unterzeichnungszeremonie. Der Taliban-Verhandlungsführer Abbas Stanikzai hob
stolz hervor: «Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir den Krieg gewonnen haben».
Die islamistischen Taliban-Kämpfer sehen sich als die einzige dschihadistische
Bewegung, die der Supermacht die Stirn geboten und sie zum Abzug gezwungen hat.
Pakistan gilt als Hauptunterstützer der Taliban. Daher ist auch ein Erfolg des
Abkommens davon abhängig, wie sich die Verhältnisse zwischen den pakistanischen
und afghanischen Administrationen gestalten. Pompeo hatte im Vorfeld der
letzten Runde der Verhandlungen «viel Aufwand betrieben, um die pakistanische
Führung für das Abkommen zu gewinnen. Ihre Unterstützung ist jedoch weiterhin
fraglich.»
Die
Vereinbarungen zwischen den USA und den Taliban
Nach
19 Jahren Krieg, 1.968 toten US-Soldaten und 2 Billionen US-Dollar, die
Washington im Krieg gegen Afghanistan verpulvert hat, haben sich die US-Amerikaner
«nach Jahren voller Mißerfolge dazu verpflichtet, ihre Truppen aus Afghanistan
abzuziehen. Angesichts ihrer vollmundigen Ankündigungen im Jahr 2001 kommt dies einer Flucht gleich. Die USA haben
in Afghanistan ein Mini-Vietnam erlebt». Die Tinte auf dem Papier war noch
nicht trocken, als sich prompt der afghanische Präsident Ashraf Ghani am 1.
März zu Wort meldete und eine der wichtigen Komponenten der Vereinbarung
ablehnte. Danach sollten bis zum 10. März 5000 gefangene Taliban-Kämpfer
freigelassen werden. Es gäbe ›keine
Verpflichtung‹, betonte Ghani. «Die
Vereinigten Staaten vermittelten. Vermitteln heißt nicht, Entscheidungen zu
treffen». Die Taliban-Gefangenen sind ein wichtiges strategisches Faustpfand
für die Kabuler Administration, die sie als Teil der innerafghanischen
Verhandlungen ansah und nicht als Vorbedingung für die Verhandlung akzeptierte.
Die Entscheidung über die Freilassung der Taliban-Kämpfer stehe nicht den USA,
sondern seiner Regierung zu, hob Ghani hervor. Im Gegenzug müßten 1000
gefangengenommene Regierungskämpfer freigelassen werden. Als Reaktion auf
Ghanis Äußerung kündigte ein Taliban-Sprecher, Sabiullah Mudschahid, an, dass
die Kampfhandlungen bis zu einer innerafghanischen Einigung fortgeführt würden.
Bis
heute tötet der Krieg täglich Menschen in Afghanistan
Durch
zwei Anschläge der Taliban in Nordafghanistan wurden mindestens 20
Sicherheitskräfte getötet, 16 Mitglieder der nationalen Sicherheitskräfte kamen
bei einem Angriff auf die Militärbasis in der Stadt Kundus ums Leben. Bei einem
weiteren wurden vier Polizisten getötet und einer verletzt. «Die Taliban wollen
jetzt noch einmal militärische Stärke demonstrieren», stellte der deutsche
Kommandeur für Nordafghanistan, Brigadegeneral Jürgen Brötz fest. Sie wollten
die Kabuler Administration in die Knie zwingen. Nach Angabe der nationalen
Sicherheitsbehörde in Kabul haben die Taliban bis zum 26. April 2020 insgesamt
2804 Operationen durchgeführt. Daraufhin lenkte Ashraf Ghani ein und bot die Freilassung
von 1.500 Talibankämpfern an. Aber dies wurde von den Taliban umgehend
zurückgewiesen, indem ihr politischer Sprecher Suhail Shaheen betonte, dass «als
vertrauensbildende Maßnahme 5000 Gefangene freigelassen werden sollten, und das sollte vor inner-afghanischen
Gesprächen sein». Die Taliban bestanden also darauf, dass die Gefangenen gemäß
dem Abkommen mit den USA noch vor Beginn
der innerafghanischen Verhandlungen freigelassen werden müßten. Sie verlangten die Freilassung
von namentlich genannten 15 ihrer Funktionsträger. Ansonsten würde es keine
Verhandlungen mit der Kabuler Administration geben. Bis Mitte April hatten die
Taliban insgesamt 6.014 und die Regierung ihrerseits bis Anfang Mai 850
Gefangene freigelassen. Die US-Armee nahm die Anschläge der Taliban zum Anlaß,
unmittelbar am 4. März einen Luftangriff gegen die Taliban-Kämpfer zu fliegen.
Im Bezirk Nahr-e-Saraj in der südafghanischen Provinz Helmand, einer Hochburg
der Taliban, bombardierte die US-Luftwaffe deren Kämpfer, wie der US-Militärsprecher,
Sonny Leggett, auf Twitter mitteilte.
US-Interessen
Man ist geneigt zu fragen, ob denn nun alles für die Katz gewesen ist? Der
US-Vertreter und die Taliban haben 12 Jahre lang geheime und 2 Jahre lang offizielle
Gespräche in Katar geführt, um Bedingungen für eine politische Lösung des
längsten Krieges der US-Geschichte auszuhandeln. Trump wollte zwei Fliegen mit
einer Klappe schlagen: Zum einen, sein Wahlversprechen, die US-Einheiten aus
Afghanistan abzuziehen, realisieren und die bevorstehenden Wahlen am 3.
November 2020 gewinnen. Zum anderen die Taliban in die kolonial-ähnlichen
Strukturen am Hindukusch integrieren und durch Vergabe von ein paar Posten
neutralisieren.
Er
bemängelte, dass in dem seit Ende 2001 währenden Krieg hohe Kosten für die
US-Truppen, für den amerikanischen Steuerzahler und für das afghanische Volk
verursacht worden seien. Dieser Krieg hat nach offiziellen Angaben in den
Hochphasen (2002 bis 2014) jede Woche 1,5 Milliarden US-Dollar gekostet. Im
Wahlkampf versprach er dem amerikanischen Volk, «dass ich damit beginnen werde,
unsere Truppen nach Hause zu bringen und zu versuchen, diesen Krieg zu beenden». Kann man dem launigen US-Präsidenten
glauben? Würden es die US-Strategen zulassen, die Truppen aus Afghanistan abzuziehen,
zumal NATO- Generalsekretär Jens Stoltenberg auf der Tagung der
Verteidigungsminister am 14. 2. 2020 die Volksrepublik China als Gegner - im
Kommuniqué diplomatisch als Herausforderung für den Westen verbrämt -
eingestuft hatte?
Afghanistan hat ganz im Norden eine
gemeinsame Grenze mit China. Genau dort befindet sich ein NATO-Stützpunkt. Das
Land am Hindukusch ist ein unsinkbarer Flugzeugträger der USA und der NATO.
Auch Barack Obama hatte den Abzug der US-Armee versprochen. Doch er reduzierte
lediglich die Kampftruppen und afghanisierte somit den Krieg. Seitdem kämpfen
überwiegend Afghanen, unter welchen Namen auch immer, gegen Afghanen.
Ein
Deal der Versprechungen
Das
Abkommen war also lediglich ›ein
Deal der Versprechungen‹, auf dessen
Grundlage noch weitere Maßnahmen verhandelt werden sollen. «Wir stehen erst am
Anfang», sagte Mike Pompeo. Die beabsichtigten innerafghanischen
Friedensverhandlungen würden «harte Arbeit und Opfer von allen Seiten» erfordern, bemerkte er. Nach der Umsetzung des
Abkommens würden die ausländischen Truppen bis Ende April 2021 vollständig
abgezogen werden. «Sollten schlimme Dinge passieren, werden wir zurückkehren»,
drohte der US-Präsident. Die USA könnten den Krieg in Afghanistan gewinnen,
dazu müßten sie aber «eine Million Leute töten».
Die Kernforderung der Taliban wäre erfüllt, wenn der Abzug der ausländischen ›Invasoren‹ tatsächlich erfolgen würde. Taliban-Chef Hibatullah Akhundzada nannte das Abkommen einen ›großen Sieg‹ seiner
Bewegung. Er meinte, dass das Abkommen ›zum Ende der Besatzung‹ Afghanistans führen werde. Die
Taliban verpflichteten sich unter anderem dazu, dass von Afghanistan keine
Terrorbedrohung gegen die USA und ihre Verbündeten mehr ausgehe. Das ist nichts
anderes als ein Alibi-Argument, denn von Afghanistan ist nie eine Terrorgefahr
für die USA und ihre Verbündeten ausgegangen.
Ein
weiterer Bestandteil des Abkommens ist die Festlegung, dass die Taliban
Verhandlungen mit der Kabuler Administration führen sollen. Das wären dann die
eigentlichen Friedensgespräche. Bisher hatten sie sich geweigert, direkt mit
der Kabuler Führung zu verhandeln, weil sie die Regierung für eine Marionette
der USA halten. Die Unterredungen sollen der Vereinbarung zufolge zu einem
dauerhaften Waffenstillstand und einem politischen Fahrplan für die Zukunft
Afghanistans führen. Es besteht die reale Möglichkeit, dass es zu einer
erneuten Spaltung der Bewegung der Taliban kommen könnte. Die Spaltergruppe
würde sich dann der in Afghanistan operierenden Da’esch, dem Islamischer Staat ›IS‹,
anschließen und zu de en Stärkung
beitragen. Dann wäre das Land am Hindukusch vom Regen in die Traufe gekommen.
Wie
viele US-Truppen werden tatsächlich abgezogen?
Die
USA sichern zu, die Zahl ihrer Soldaten binnen 135 Tagen von rund 13 000 auf 8 600
zu verringern. Die Stärke der internationalen Truppen soll proportional sinken.
Nur 5 von 16 großen und 12 kleineren US-Militär-Basen müßten demnach in diesem Zeitraum geschlossen werden. Sollte
das Abkommen halten, würden innerhalb von 14 Monaten, also bis Ende April
2021, alle ausländischen Truppen
abziehen. Dazu heißt es in der gemeinsamen Erklärung Washingtons und Kabuls vom 28. Februar 2020 einschränkend:
«Gemäß der gemeinsamen Einschätzung und Entscheidung der USA und Afghanistans»
sowie «in Abhängigkeit von der Erfüllung ihrer im Abkommen mit den USA
übernommenen Verpflichtungen durch die Taliban». In einer Erläuterung des US
State Departments zu dem Doha-Abkommen wird hervorgehoben, der Abzug der
US-Truppen sei ›conditions based‹ (bedingt) und ›wird davon abhängen, wie gut die Taliban sich an ihre Verpflichtungen
halten‹. Beurteilt wurden die
Erklärungen noch von keiner internationalen Instanz, sondern ausschließlich von
der US-Administration in Absprache mit der Kabuler Führung. Es wäre ein Wunder,
wenn Trump wirklich die Absicht hätte, seine Truppen aus dem längsten Krieg in
der Geschichte der Vereinigten Staaten herauszuholen. Es ist eher
wahrscheinlich, dass er nach dem Motto des deutschen Altkanzlers Konrad Adenauer handeln wird: ›Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern‹. Falls er am 3. November für eine
zweite Amtszeit gewählt werden sollte, könnte er ganz anders über einen
US-Militär-Abzug entscheiden. Außerdem kann er sich auf das 2012 abgeschlossene
›Strategic Partnership Agreement‹ berufen, das den USA erlaubt, bis 2024 Truppen in
Afghanistan zu stationieren. Darüber hinaus
gibt es ein geheimes Abkommen von 2002 zwischen der Kabuler Administration
unter Hamid Karzai und den USA, wonach die US-Einheiten für 99 Jahre in Afghanistan
bleiben dürfen. Es gibt also viele Imponderabilien, wodurch die ganze
Geschichte ad absurdum geführt werden könnte.
Erst
bringt man den Krieg, dann zieht man sich zurück?
Im
Zusammenhang mit dem IS-Anschlag am 6. März 2020 in der afghanischen Hauptstadt
Kabul, in dessen Folge mehr als 30 Menschen ums Leben kamen, wurde Trump darauf
angesprochen, wie die USA künftig für die Sicherheit Afghanistans sorgen
wollen, da die afghanische Regierung nach einem Abzug der US-Truppen nicht mehr
auf militärische Unterstützung der USA zur Abwehr der Taliban bzw. des IS bauen
könne. «Irgendwann müssen Länder für sich selber sorgen», sagte Trump am 6.
März im Weißen Haus auf die Frage eines Reporters, ob er eine Machtübernahme
der Taliban nach dem geplanten Abzug befürchte. «Irgendwann werden sie sich selber schützen
müssen». Die US-Soldaten seien inzwischen seit fast zwei Jahrzehnten in
Afghanistan im Einsatz. Es wurden nahezu 2.000 US-Soldaten getötet und mehr als
20.000 verletzt. «Wir können nicht die nächsten 20 Jahre dort sein». Ergänzend
stellte Zalmay Khalilzad Anfang März fest, dass die USA niemanden um Erlaubnis
gebeten hätten, als sie nach Afghanistan einmarschierten. Sie werden dies auch
nicht tun, wenn sie abziehen wollen.
Präsidentenfarce in Afghanistan
Nach langer Wartezeit hatten sich auf dem Gelände des
Präsidentenpalastes in Kabul die politischen Rivalen Ashraf Ghani und Abdullah
Abdullah am 9. März 2020 in getrennten Zeremonien zum Präsidenten Afghanistans
erklärt. Der US-Sondergesandte Khalilzad hatte nur an der Vereidigung Ghanis
teilgenommen, damit wurde signalisiert, dass die US-Administration ihn im
Machtkampf gegen Abdullah stützen wird. Während der Vereidigungszeremonien mit Hunderten
von Gästen waren in der afghanischen Hauptstadt zwei Explosionen zu hören. Mehrere
Gäste flüchteten. Ghani nutzte das zu einer Kampfansage. Unter dem Geheul von
Alarmsirenen sagte er vor den verbliebenen Gästen, er trage keine schußsichere
Weste. «Ich werde bleiben, selbst wenn ich dafür meinen Kopf opfern muß». Ghani
war Mitte Februar, fünf Monate nach der von Betrugsvorwürfen überschatteten
Präsidentenwahl, zum Wahlsieger erklärt worden. Sein unterlegener Kontrahent,
Regierungschef Abdullah, erkannte das Wahlergebnis nicht an und rief eine Gegenregierung
aus. Der Streit der Rivalen nährt die Angst vor einer abermaligen politischen
Krise in Afghanistan und überschattet zusätzlich das Ende Februar unterzeichnete
Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban. Schon bei der
vorangegangenen Präsidentenwahl vor fünf Jahren hatten sich sowohl Ghani als
auch Abdullah zum Sieger erklärt. Erst durch Vermittlung des damaligen US-Außenministers
John Kerry, der die Kontrahenten in der
Kabuler US-Botschaft eingesperrt hatte, einigten
sich die beiden auf einen Kompromiß: Ghani wurde Staatschef und Abdullah
Regierungschef, obwohl der Posten eines Regierungschefs in der afghanischen
Verfassung nicht vorgesehen ist. Im März hatte der Streit eine neue Stufe
erreicht. Zwei Tage nach seinem Amtsantritt hatte Präsident Ghani am 11. März
seinen Regierungsgeschäftsführer und Wahlrivalen Abdullah Abdullah abgesetzt.
Das Büro des Regierungsgeschäftsführers existiere nicht mehr in der Struktur
der afghanischen Regierung, sagte Ghanis Sprecher Sediq Sediqqi während einer
Pressekonferenz am 11. März. Abdullah erklärte daraufhin auf seiner offiziellen
Facebookseite, dass Ghani nicht länger Präsident sei und seine Dekrete keine
Gültigkeit mehr hätten. «Wir fordern zivile und militärische Mitarbeiter der
früheren Regierung auf, ihre täglichen Aufgaben und Verantwortungen wie früher
fortzusetzen», schrieb Abdullah.
Einigung
auf afghanisch
Nichtsdestoweniger
hatten sich Ghani und Abdullah am 17. Mai geeinigt, das Land künftig gemeinsam
zu regieren, was jedoch nur auf Grund des massiven Drucks der USA
zustandegekommen war. Für die Taliban änderte das nichts daran, dass sie aus
der zwischen den beiden Kontrahenten ausgetragenen Auseinandersetzung für die
beabsichtigten innerafghanischen Gespräche, mit denen eine politische Lösung
des Konflikts erreicht werden soll, einen strategischen Pluspunkt für sich
verbuchen konnten. Über einen so zerstrittenen Haufen können sie sich nur
freuen. Den Verhandlungen mit einer derartigen Kabuler Administration können
die Taliban ganz entspannt entgegensehen. Die USA sehen in der Unfähigkeit
Ghanis und Abdullahs, zusammenzuarbeiten, eine ›direkte Bedrohung‹ der
US-Interessen am Hindukusch. Am 23. März 2020 war Pompeo nach Kabul gereist, wo er den beiden ›Präsidenten‹, Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, begegnete. Der Außenminister
war nach seinen Gesprächen mit den
beiden so verärgert, dass die USA ihre Finanzhilfe um 1 Milliarde US-$ kürzen
wollten. Die US-Administration sei auch zu weiteren Einschnitten bereit, so
Pompeo. Ghani und sein Kontrahent Abdullah sollten sich ›am Riemen reißen‹, dann
würden die Einschnitte möglicherweise nicht nötig sein, drohte Pompeo vor
seiner Abreise. Die US-Administration befürchtete, dass der eingeleitete
Friedensprozeß am Hindukusch dadurch scheitern könnte.
Innerafghanischer
Dialog
Die
Tinte auf dem Papier, auf dem das Abkommen zwischen dem US- und dem
Taliban-Vertreter unterzeichnet wurde, war noch nicht trocken, da setzten die
Taliban ihre Angriffe auf die afghanischen Sicherheitskräfte in verstärktem Maß
fort. Es gab «innerhalb einer Woche in 32 der
34 Provinzen insgesamt 422 Angriffe der militant-islamischen Taliban. Dabei
seien 291 Soldaten und andere Sicherheitskräfte
getötet und 550 verletzt worden», meldete die Deutsche Presseagentur (dpa). Damit
wollten die Taliban ihre unangefochtene Stärke demonstrieren und aus dieser
Position heraus mit der Kabuler Administration in die innerafghanischen
Verhandlungen gehen. Darüber hinaus wollten sie die vollständige Freilassung
ihrer noch in Haft befindlichen Mitglieder erzwingen. Die afghanische
Administration weigerte sich zunächst, die 400 als besonders gefährlich geltenden
Gefangenen freizulassen. Darunter waren 156 Taliban, die wegen «ihrer
Verbrechen eigentlich zum Tode verurteilt waren, weitere 105 befanden sich wegen
eines Mordvorwurfs in Haft, ebenso 51 auf Grund von Drogenschmuggel», lautete
die Begründung von Sediq Sediqqi, des Sprechers des afghanischen Präsidenten.
Auch die Regierungen Frankreichs, Australiens und der Vereinigten Staaten haben
sich gegen die Freilassung derjenigen Taliban ausgesprochen, die an der Tötung
ihrer Soldaten beteiligt waren.
Nun befand sich Präsident Ghani in einer Zwickmühle. Mit einem geschickten
Schachzug übertrug dieser dann die Verantwortung den Repräsentanten der
afghanischen Völkerschaften und berief am 7. August 2020 die traditionelle
Ratsversammlung, die Loya Jirga ein, die über die Freilassung der als
gefährlich eingestuften Taliban entscheiden sollte. Wie erwartet sprachen sich
fast alle 3.400 Delegierten für die Freilassung der noch in Haft befindlichen
Taliban-Kämpfer aus. Die Abgeordnete Belqis Roschan sah die Zustimmung als ›nationalen
Verrat‹ an. Dafür wurde sie von der
Abgeordneten Schekeba Safi zu Boden
geworfen. Mit der Zustimmung der Loya Jirga zu der Freilassung der
Taliban-Gefangenen wurde der Weg für die sehnsüchtig erwarteten
innerafghanischen Friedensverhandlungen frei. «Innerhalb von einer Woche sind
wir bereit für einen Dialog», verkündete der Sprecher des politischen Büros der
Taliban, Suhail Schahin. Am 12. August
trafen die Abordnungen der Taliban und der afghanischen Administration in Doha
ein. In den Medien wird diesbezüglich fälschlicherweise von einer Verhandlung
der Taliban mit der afghanischen Regierung gesprochen. Da die Taliban die Regierung
in Kabul nicht anerkennen und sie als Marionette der USA einstufen, bestand die
Delegation aus Kabul nicht aus Regierungsmitgliedern, sondern aus
Parlamentariern, der Entourage der Warlords, der sogenannten Zivilgesellschaft,
usw. Den Vorsitz hatte Präsident Ghani seinem Rivalen Abdullah übertragen.
Sollten die als gefährlich eingestuften Taliban wieder in den Dschihad ziehen,
wird man die Loya Jirga als dafür verantwortlich benennen. Im Falle eines endgültigen
Scheiterns der Verhandlungen mit den Taliban wird Abdullah als gescheiterer
Politiker diskreditiert sein.
«Die
Forderung der Loya Jirga nach einer Waffenruhe» lehnten die Taliban umgehend
ab. Seit dem Abkommen am 29. Februar 2020 zwischen den Taliban und den
Vereinigten Staaten sind «mehr als 10 000 Angehörige der afghanischen
Sicherheitskräfte getötet oder verletzt
worden». Im Juli 2020 hatten die Aufständischen
sogar das Büro des afghanischen Vizepräsidenten Amrullah Saleh
angegriffen und am 9. September verübten sie ein Attentat auf seine Autokolonne. Bei dem ersteren wurden 24 und
bei dem letzteren 10 Menschen getötet. Da Saleh in der Regierungszeit von Hamed
Karsai Geheimdienstchef war und als einer von den gnadenlosen Folterern auch
der Taliban galt, ist er Zielscheibe der Angriffe der Aufständischen.
Die
Taliban bekräftigten ihre Forderungen, zunächst über die eigentlichen Gründe
des Krieges gegen Afghanistan zu sprechen. Danach könnte man eine Waffenruhe in
Erwägung ziehen. Als wichtigstes Ziel nannte der Sprecher ihrer Delegation, Mohammad
Naeem Wardag, «die Beendigung der ›Besatzung‹ Afghanistans und die Errichtung eines
›wahren islamischen Systems‹ am Hindukusch». Darüber hinaus wollen
die Taliban im Falle einer Regierungsbeteiligung die Leitung der
Schlüssel-Ministerien innehaben. Da allein die Verhandlungen zwischen den
Taliban und den USA über mehr als eine Dekade beanspruchten, kann man davon
ausgehen, dass die innerafghanischen Gespräche einer Arbeit ähneln, wie sie
Sisyphos aufgebürdet war.
Abzug
oder Wahltaktik?
Während
US-Verteidigungsminister Mark Esper am 8. August 2020 im US-Sender Fox News von
einer Reduzierung der US-Armee von derzeit 8.600 auf 5.000 bis Ende November
sprach, hat US-Präsident Donald Trump am 7. Oktober 2020 angekündigt, die
«tapferen Männer und Frauen, die noch in Afghanistan dienen», bis Weihnachten vom Hindukusch abzuziehen. In
dem Abkommen vom Februar 2020 zwischen den USA und den Taliban war von einem
vollständigen Abzug erst im Jahre 2021 die Rede. Ob dies wieder eine von seinen
20 000 Lügen, also ›fake news‹, ist, die die ›New York Times‹ und ›Washington Post‹ gezählt haben, oder eher
seine Wahltaktik darstellte, wird die Zukunft zeigen. Er hatte schon früher
seinen Wählern versprochen, die US-Armee aus Afghanistan abzuziehen. Da seine
Umfragewerte nicht gut aussehen, versucht er es mit neuen drastischen
Ankündigungen. Die Taliban jedenfalls haben Trumps Ankündigung mit Genugtuung
und als willkommen zur Kenntnis genommen. Am 8. Oktober 2020 begrüßte der
Sprecher der Taliban, Sabihullah Mujahed, diese «als positiven Schritt für die
Umsetzung des Friedensabkommens zwischen den USA und den Taliban. Die Taliban
fühlten sich dem Abkommen verpflichtet und hofften auf Beziehungen zu allen
Staaten, einschließlich den USA.»
Der
Vorsitzende des Hohen Rates für Versöhnung und Delegationsleiter bei den
Verhandlungen in Doha, Abdullah Abdullah, sagte nüchtern: «Es wird ein wenig
dauern, bis wir das verdaut haben.»
Würde
es tatsächlich zu einem Abzug der US-Einheiten kommen, könnte es sein, dass die
Taliban durch ihre militärische Stärke dazu motiviert werden, die Regierung in
Kabul zu stürzen. Das wäre dann die nächste Runde eines innerafghanischen
Krieges. Denn die Warlords werden nicht zulassen, dass man ihnen die Butter von
Brot nimmt.
Quelle: https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2020/nr-24-3-november-2020/was-koennen-die-afghanen-nach-40-jahren-krieg-erwarten.html Zeit-Fragen
Nr. 24 vom 3. 11. 20
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