Kanzlervisite in Peking verstört Transatlantiker - Von Wolfgang Effenberger

Als sich Kanzler Scholz am Montag, dem 3. November 2022, mit den Chefs von BASF,

Deutsche Bank, Siemens, BMW, Volkswagen, Merck und Biontech aufmachte, um zum Antrittsbesuch nach Peking zu fliegen, empfing die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ihre G-7-Partner im Friedenssaal des Rathauses von Münster/Westfalen, in dem 1648 nach dem Dreißigjährigen Krieg der Westfälische Frieden besiegelt worden war.  [1]  Zuvor hatte  das Außenministerium das historische Kreuz für die G-7-Beratungen aus dem Friedenssaal abhängen lassen. Nicht nur die christlichen Kirchen, auch der Zentralrat der Muslime reagieren verständnislos.  [2]  Dafür zeigte ein vielsagendes Foto aus dem Friedensaal einen zufriedenen US-Außenminister Antony Blinken, der Baerbock am Haupttisch flankierte. Blinkens Unterstaatssekretärin Victoria Nuland, die Strippenzieherin beim Maidan-Putsch im Februar 2014, war ebenfalls im Bild.  [3]  Eine größere transatlantische Nähe und eine größere Dissonanz zur Politik des Kanzlers war nicht mehr zu demonstrieren.   

Zwei Tage zuvor hatte Baerbock bei einem Besuch in der zentralasiatischen Republik Usbekistan auf Änderungen in der deutschen China-Politik gepocht und deutlich gemacht, «dass wir als Bundesregierung eine neue China-Strategie schreiben, weil das chinesische Politiksystem sich in den letzten Jahren massiv verändert hat und sich damit   auch unsere China-Politik verändern muß».  [4]  Für diese neue China-Strategie hat die Konrad-Adenauer-Stiftung bereits im Juli 2022 das kriegstreibende Strategiepapier verfaßt: Ende der Naivität - Deutschland und die EU im globalen Wettbewerb zwischen den USA und China».  [5]  In diesem Wettbewerb geht es um nichts weniger als um den Gegensatz einer unipolaren oder multipolaren Weltordnung. Im ultimativen Tonfall hatte Baerbock weiter gefordert, dass Scholz in Peking die Botschaften des  Koalitionsvertrags übermittle: Anstatt Wirtschaftskooperation scharfe Menschenrechtskritik an China.  [6]  Wie kommt Frau Baerbock dazu, im Ausland den eigenen Regierungschef offen zu attackieren? Es ist weder ein entschuldbarer, noch ein hinnehmbarer Affront.

Wie Baerbock, die Befürworterin einer unipolaren, das heißt einer von den USA dominierten Welt, ferner darlegte, erwarte sie, dass Scholz Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping zentrale Botschaften der Bundesregierung übermittle. Peking müsse deutlich gemacht werden, «dass die Frage von fairen Wettbewerbsbedingungen, die Frage von Menschenrechten und die Frage der Anerkennung des internationalen Rechts unsere Grundlage der internationalen Kooperation ist».  [7]  Diesen Forderungen kann sicherlich die gesamte Weltgemeinschaft zustimmen, insofern sie von denjenigen, die sie fordern, auch ernst genommen und umgesetzt werden. Spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Angriff des werteorientierten Westens auf Restjugoslawien werden das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen von USA/NATO/EU jedoch mit Füßen getreten. 

Mit ihrem Auftreten in Usbekistan und wenige Tage später in Münster hat Frau Baerbock ihre Kompetenzen weit überschritten, denn nach Artikel 65 GG. [8]  bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Diese vom Grundgesetz vorgegebenen Grenzen hat Frau Baerbock derart überschritten, dass dem Kanzler nur die Entlassung der Außenministerin bleibt. Nun, das wird wohl Blinken nicht zulassen. Oder wird Scholz es Gerhard Schröder nachmachen, dem es im Frühjahr 2003 gelang, den eigenwilligen und selbstherrlichen Außenminister Joseph Fischer einzubinden und zugleich zu entmachten?  [9] 

Gespannt wartete die Welt am 4. November auf die Pressestatements von Bundeskanzler Scholz, Ministerpräsident Li Keqiang und Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping. Dieser ging in seinem kurzen Statement darauf ein, dass sie beide in engem Kontakt stehen und gemeinsam ein positives Signal setzen, «nämlich dass China, Deutschland und Europa jetzt stärker miteinander reden und kommunizieren wollen».  [10]  Auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und Deutschland vor 50 Jahren rückblickend, faßte Xi Jinping zusammen: «Solange wir uns zu gegenseitigem Respekt, zu Gemeinsamkeiten trotz der Unterschiede, zu Austausch und gegenseitigem Lernen sowie zur Win-win-Zusammenarbeit bekennen, können sich unsere Beziehungen stabil auf dem richtigen Kurs gestalten…… Gerade in einer Zeit von Wandel und Chaos sollten wir umso mehr gemeinsam aktuellen Schwierigkeiten begegnen und den Frieden und die Entwicklung der Welt noch mehr fördern».  [11]  In seiner Antwort hob Scholz den russischen Krieg gegen die Ukraine hervor, «der viele Probleme für unsere regelbasierte Weltordnung mit sich bringt». Unsere? China und der ganze globale Süden lehnen die von den USA definierte regelbasierte Weltordnung ab: Der Rest der Welt will die  Einhaltung des Völkerrechts und der Charta der Vereinten Nationen.

Anschließend betonte Ministerpräsident Li Keqiang die gute, aber noch verbesserungsfähige ergebnisorientierte Zusammenarbeit und resümierte: «China und Deutschland bekennen sich beide zur Wahrung der Multipolarisierung in Bezug auf den fairen und freien Handel».  [12]  Darin sieht Li Keqiang auch einen Nutzen für Frieden und Stabilität in der Region und darüber hinaus in der ganzen Welt. «Da können wir unsere gebührende Rolle spielen», so der chinesische Ministerpräsident. Scholz ging in seiner Antwort hier nochmals auf den russische Angriffskrieg auf die Ukraine ein, der «mit all seinen Konsequenzen nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger des Landes, sondern selbstverständlich auch mit Konsequenzen für Europa und die ganze Welt» gesehen werden müsse.  [13]    

Die Kanzlervisite wurde vor allem im transatlantischen Umfeld argwöhnisch beobachtet. So titelte das in den USA wöchentlich erscheinende politisch-konservative Nachrichtenmagazin Washington Examiner: «Walzer in Peking: Deutschlands Olaf Scholz hält die USA zum Narren». Wegen Scholz' Besuch in Beijing spuckt das Magazin Gift und Galle und ruft schon mal zum Boykott deutscher Autos auf. Laut dem Examiner kann Washington es sich nicht leisten, »den Verrat Deutschlands weiter zu ignorieren. Es steht einfach zuviel für die Interessen der USA und die demokratische Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Spiel».  [14]  Für den Deutschlandfunk sorgte der Alleingang des Kanzlers zu Recht für Verstimmung in Europa. Es wurde gefordert, dass die derzeit in der Automobilindustrie und im Mobilfunk bestehenden gefährlichen Abhängigkeiten dringend zu reduzieren sind. Zugleich müsse die EU in der Lage sein, «einen chinesischen Völkerrechtsbruch mit Sanktionen zu bestrafen, ohne die eigene Wirtschaft in die Krise zu stürzen».  [15]   

Wer wird sich im Konflikt zwischen Auswärtigem und Kanzleramt um die neue deutsche Chinastrategie durchsetzen? Wird Scholz zwischen Baerbocks aggressiven politischen Attacken und Washingtons Sabotage des deutschen Chinageschäfts einen geeigneten Weg finden? Die Hauptwaffe von Außenministerin Baerbock in ihren Attacken gegen Beijing ist der angebliche Kampf für Menschenrechte.  [16]  Dieser Kampf für Menschenrechte wurde, nachdem die USA das Schwert des Völkerrechts selbst stumpf werden ließen, seit dem Ende der bipolaren Welt (1991) verstärkt als politisches Instrument und sogar als Waffe im Irak, in Afghanistan und in Syrien bis hin zu den Farbenrevolutionen in Osteuropa und auf dem Balkan eingesetzt.  Dadurch wurden leidvolle Kriege und viele humanitäre Katastrophen verursacht.  [17]

Nach über 20 Jahren Krieg gegen Afghanistan hat der Wertewesten dort nur verbrannte Erde hinterlassen. Wahllos wurden afghanische Zivilisten mittels Drohnen gemordet. Anfang November 2001 ließ die mit den USA verbündete Nordallianz an die 3.000 Taliban in Containern qualvoll sterben. Bis heute keine Untersuchung. Empörung bei den westlichen Menschenrechtsverteidigern? Fehlanzeige. Für den kubanischen Außenminister Bruno Rodriguez benutzen die USA die Menschenrechte als Instrument, um Länder zu manipulieren und einzuschüchtern, die sich nicht den Interessen Washingtons unterwerfen. In der Zeitung India Times hieß es am Mittwoch, 13. 4. 22, beim Blick auf die USA sei man angewidert.  [18]  Viele von den in Afghanistan gefangenen islamischen Kämpfern, darunter auch über 20 Uiguren, mußten den Weg nach Guantánamo antreten, wo sie noch heute auf einen fairen Prozeß warten.

Die Instrumentalsierung der Uiguren als Menschenrechtswaffe   

Nach dem Amtsantritt der Regierung George W. Bush Junior wollte Amerika eine regionale Koalition mit Indien, Japan und Australien gegen das immer mächtiger werdende China bilden. Nicht zuletzt auch wegen der Konkurrenz um Energiequellen in Zentralasien, Saudi-Arabien, im Iran und im Sudan.  [19]  Doch seit dem Terroranschlag vom 11. September hatten sowohl China als auch die USA großes Interesse daran, im Krieg gegen den Terrorismus [War on Terror] zusammenzuarbeiten. So gab es auch bei der Beurteilung der uigurischen Terroristen vorerst keine Differenzen. Dann erkannte US-Außenministerin Condoleezza Rice in den im Westen Chinas lebenden Uiguren einen Hebel für eine neue China-Politik. 2005 machte Rice ihre Peking-Reise von der Freilassung der verhafteten Rebiya Kadeers abhängig. Sie saß als eine der reichsten Frauen Chinas bis Ende der neunziger Jahre im chinesischen Volkskongreß  [20]  und wurde dann zur Staatsfeindin Nummer eins. Der Vorwurf, Unruhen in Xinjiang angezettelt zu haben, brachte ihr 8 Jahre Isolationshaft ein. Dank der US-Außenministerin fand Frau Kadeer mit fünf ihrer Kinder Asyl in den USA, wo ihr Mann bereits im Exil lebte. Ein Jahr später wurde sie in München zur Präsidentin des Uigurischen Weltkongresses ernannt. Dieser Kongreß nimmt für sich in Anspruch, für alle Uiguren Xinjiangs zu sprechen.  [21]  Doch unter den Uiguren Xinjiangs gibt es deutliche Interessenunterschiede zwischen den uigurischen Intellektuellen, den Bauern und Händlern und den ärmeren Bauern in der Region um Kasghar. Während die mittellosen Bauern im konservativen Islam ihr Heil suchen  [22], sind die Intellektuellen sowohl gegen den Islam als auch gegen die Han-Chinesen eingestellt und orientieren sich eher an panturkischen Vorstellungen. Die Bauern und Händler der Mittelschicht haben dagegen von den Wirtschaftsreformen profitiert und dürften schwer zu instrumentalisieren sein.

Von diesem Zeitpunkt an sah die Bush-Administration ihre 22 uigurischen Guantánamo-Gefangenen mit anderen Augen. Im April 2008 brachte Frau Kadeer vor der Jahreshauptversammlung der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte ihr Anliegen auf den Punkt: «.... seitdem China unser weites, ressourcenreiches Heimatland annektiert und in die Volksrepublik eingegliedert hat, werden die Menschenrechte der Uiguren systematisch, tiefgehend und unerhört verletzt».  [23]  Sollen hier die Menschenrechte für andere, weitergehende Interessen instrumentalisiert werden? In diesem Zusammenhang sei an den Artikel Als die Menschenrechte schießen lernten  [24]  von Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung erinnert.   

Angesichts der orchestrierten Ereignisse im Iran und in der Provinz Xinjiang lohnt es sich, die Rolle der angeblich unabhängigen amerikanischen Nichtregierungsorganisationen‹   etwas genauer zu hinterfragen. Haben im Iran nachweislich staatliche wie nicht- oder halbstaatliche Organisationen ihre Hände im Spiel, so erkennt William F. Engdahl auch Anzeichen dafür, dass die US-Regierung durch ihre  demokratiefördernde Stiftung National Endowment for Democracy (NED) massiv auf die innere Politik Chinas Einfluß   nimmt.  [25]  Nach veröffentlichten Berichten des NED wird der World Uyghur Congress jährlich mit 215.000 US-$ unterstützt. Daneben erhält die in Washington beheimatete Uyghur America Association über die US-Regierung via NED bedeutende Mittel. Aktive Unterstützung ließ die NED im März 2008 auch der Purpurroten Revolution in Lhasa zukommen, des weiteren der Safran-Revolution in Birma/Myanma im August 2007, sowie allen anderen Regime-Änderungsversuchen in Osteuropa seit Ende des Kalten Krieges: Von Serbien über die Ukraine bis Georgien, von Moldawien über Kirgistan bis Teheran. Bei all den Interventionen waren die Gründe für Washingtons Eingreifen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten weniger von den Sorgen um Menschenrechtsverletzungen geleitet als vielmehr von US-strategischen Zielen diktiert. 

Der durch die Medien bekannt gewordene Gesinnungswandel der US-Regierung bei der Behandlung der 22 uigurischen Gefangenen in Guantánamo wird damit begründet, dass man sich bei deren Inhaftierung auf Material aus China bezogen habe. Dort gehörten die Festgenommenen der Islamischen Bewegung Ostturkestan (ETIM) an, die von Peking  als terroristische Vereinigung eingestuft wurde. Keine Rede mehr davon in den Medien, dass ETIM auch von der UNO und den USA auf die Liste internationaler Terrororganisationen gesetzt worden war. Vergessen ist auch, dass die Uiguren nach dem 11. September 2001 überwiegend kämpfend oder in den Ausbildungslagern Afghanistans oder Pakistans aufgegriffen worden waren. In Deutschland kann der Besuch terroristischer Ausbildungslager mit bis zu 10 Jahren Haft bestraft werden, selbst die Absicht ist strafbar! So wundert es einerseits nicht, dass die USA sie nicht haben wollen; mit einer Auslieferung an China würden jedoch andererseits die uigurischen Exil-Organisationen aufgebracht, denn 1997 hatte Pakistan 12 uigurische Extremisten aus Afghanistan an den chinesischen Geheimdienst ausgeliefert, und dort wurden sie gehängt. Fünf der 22 Uiguren aus Guantánamo fanden inzwischen Asyl in Albanien  [26], und es begannen Verhandlungen darüber, einige von ihnen in Deutschland aufzunehmen. [27]  Der Inselstaat Palau erklärte sich bereit, Uiguren aufzunehmen, nachdem US-Außenminister Hillary Clinton sich mit einer formellen Bitte an dessen Regierung gewandt hatte. Dabei versprach sie, dass durch die Aufnahme «die bereits starken und besonderen Beziehungen noch vertieft werden könnten». Aus US-Regierungskreisen verlautete, Washington werde Palau für die Aufnahme der Uiguren bis zu 200 Millionen $ Auslandshilfe zukommen lassen.  [28]  Vier Uiguren wurden am 11. Juni 2009 an die britische Kronkolonie Bermuda überstellt.  [29]   Als sich eine Woche vorher die deutsche Innenministerkonferenz mit dem Aufnahmewunsch der US-Administration befaßte, erklärte Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU): «Die Uiguren aus Guantánamo, die wir aufnehmen sollen, waren alle in Terrorcamps» und deshalb sei eine Aufnahme von Guantánamo-Gefangenen ein hohes Sicherheitsrisiko: «Wer in  Terrorcamps aufgegriffen worden ist, kann nicht als ungefährlich gelten».  [30]  Weiter folgte ein Hinweis auf die dauernde Observation von bundesweit 70 islamistischen Gefährdern. Also wäre die Aufnahme weiterer gefährlicher Uiguren schlicht unverantwortlich, so Schünemann. Auch schließen die deutschen Sicherheitsbehörden nicht aus, dass die Gefangenen während ihrer Haft auf Guantánamo eine weitere Radikalisierung erfahren haben und künftig in Deutschland als Identifikationsfiguren für radikal-islamische Gruppierungen dienen könnten. Aus welchen Gründen lehnten also die so nachdrücklich für die Menschenrechte eintretenden USA eine Aufnahme ab? Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Hövelmann (SPD) jedenfalls fand es «ausgesprochen merkwürdig, dass ein Land von der Größe der USA nicht in der Lage sein soll, ein paar Dutzend Personen sicher aufzunehmen».  [31]  Hier schimmert die Politik des America First mit allen ihren Doppelstandards und ihrer Bigotterie durch.

Unmittelbar vor dem Kanzlerbesuch in Peking forderte in Berlin der Präsident des Weltkongresses der Uiguren, Dolkun Isa: «Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für einen Besuch in China oder Geschäfte mit China».  [32]  Vor diesem Hintergrund und unter dem Vorwand, für Menschenrechte zu kämpfen, attackiert Baerbock nun Peking. Darüber hinaus behauptet sie, die Volksrepublik sei «in zunehmendem Maße systemischer Rivale» geworden, den man künftig in klare Schranken zu setzen habe. Noch seien aber die Sanktionen gegen die Volksrepublik noch nicht besprochen worden, hieß es nach den G-7-Außenministergesprächen in Münster.  [33]  Parallel dazu intensivieren die USA den Druck auf Berlin, die deutsche Wirtschaftskooperation mit Peking zurückzufahren, und scheuen sich nicht, sich dabei unmittelbar in konkrete deutsch-chinesische Geschäfte einzumischen. US-Präsident Joe Biden sieht Washington vor dem entscheidenden Jahrzehnt im Machtkampf gegen China. In dieser Situation kündigt Berlin somit für das erste Quartal 2023 eine neue Chinastrategie an.  [34]

Der US-Druck auf Deutschland steigt damit zu einem Zeitpunkt, an dem die Vereinigten Staaten selbst ihre politischen und ökonomischen Angriffe gegen China ausbauen. Bereits in der Nationalen Sicherheitsstrategie, die die Biden-Administration am 12. Oktober publizierte, hieß es, die Volksrepublik sei der einzige Wettbewerber, der «sowohl die Absicht» habe, «die internationale Ordnung neu zu gestalten», als auch das politische, ökonomische und militärische Potential dazu besitze. Für die USA gelte es deshalb, China niederzukonkurrieren.  [35]  Inhaltlich identische Passagen sind auch in der neuen US-Militärstrategie (National Defense Strategy) enthalten, die US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am 27. Oktober vorgelegt hat.  

In dem von der der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung verfaßten Strategiepapier vom Juli 22 werden Optionen zur Verschärfung der Konfrontation mit China skizziert, die dabei beträchtliche Schäden für die deutsche Industrie nicht ausschließen. Zu den dort gemachten Vorschlägen gehören verstärkte Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der Volksrepublik, der Desinformation und Propaganda vorgeworfen werden. Um die Stellung der Volksrepublik in der Weltwirtschaft zu schwächen, könne man die global verankerte WTO durch einen neuen Zusammenschluß der G-7 mit der OECD (WTO des Westens) ersetzen. Auch könnten sich, heißt es, «Vertreter der EU  und ihrer Mitgliedstaaten in Hongkong verstärkt koordinieren», um abgestimmt Partei für die Opposition in der südchinesischen Metropole zu ergreifen.  [36]  Es gehe darum, in China Unruhen zu schüren. Dabei könne die Bundesrepublik über soziale Medien chinesische Zielgruppen ansprechen und agitieren. Vorbild ist Litauen. Es hat Ende vergangenen Jahres in enger Abstimmung mit den Vereinigten Staaten ein taiwanisches Vertretungsbüroin Vilnius eröffnet und so gezielt gegen die auch im Westen anerkannte Ein-China-Politik verstoßen  [37], was zu Reaktionen seitens China führte. Auch könnten sich Berlin und Brüssel fremde Staaten vornehmen: Etwa «die strategisch wichtigsten EU-Beitrittskandidaten und Partnerländer weltweit». Das zielt vor allem auf Serbien, das immer enger mit China kooperiert.  [38]    

Für die Ausrichtung der Bundeswehr im Machtkampf gegen Russland

schlägt das Strategiepapier der Konrad-Adenauer-Stiftung vor, «den europäischen Pfeiler in der NATO und die militärische Handlungsfähigkeit der Allianz zu stärken».  [39]  Auch solle sich die Bundesrepublik nach dem Vorbild der Asien-Pazifik-Fahrt der Fregatte Bayern und der Entsendung eines Geschwaders der Luftwaffe zu Manövern nach Australien «stärker an der Vorwärtsstationierung in mittelosteuropäischen NATO-Staaten beteiligen».  [40]  Es gelte zu verhindern, dass Peking durch den Aufbau eines Militärs von Weltrang bis 2049 seine Interessen durchsetzt, «dazu hat die Volksrepublik ihren Verteidigungshaushalt in der letzten Dekade nahezu verdoppelt. Heute weist China nach den USA die zweithöchsten weltweiten Verteidigungsausgaben auf».  [41] 

Auf aussagekräftige Zahlen wird wohlweislich verzichtet: Die Militärausgaben der USA betrugen 2021 801 Milliarden US-$, die von China 293.  [42]  Peking dürfe seine steigende Machtprojektionsfähigkeit nicht dazu nutzen, um die eigenen Interessen weltweit völkerrechtswidrig durchzusetzen. Die USA sehen in China die größte strategische Bedrohung für ihre Interessen. Um die regelbasierte Ordnung in Chinas maritimer Nachbarschaft zu sichern und die chinesische Aufrüstung auszubalancieren, verlagern die USA das Gros ihrer militärischen Kräfte in den Indo-Pazifik.    

Damit setzt der ehemalige Vizepräsident von Barack Obama nun die Politik fort, die sein demokratischer Amtsvorgänger Obama eingeleitet hat: Bereits im ersten Amtsjahr, am 13. November 2009, bezeichnet sich US-Präsident Obama in einer Grundsatzrede vor seinem pazifischen Verbündeten Tokio als erster pazifischer Präsident der USA, denn die «Geschichte von Amerika und des asiatischen pazifischen Raumes sind nie enger  miteinander verbunden gewesen».  [43]  Gleichzeitig kündigte er ein stärkeres Engagement in den asiatischen Ländern an und betonte den Führungsanspruch der USA in der Welt. Anfang Oktober 2011 unterstrich die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton die neue Außenpolitik ihres ersten pazifischen Präsidenten als Schwenk nach Asien: «Die Zukunft der Politik wird in Asien entschieden, nicht in Afghanistan oder im Irak, und die Vereinigten Staaten werden im Mittelpunkt der Aktion stehen».  [44]  Damit sei die Verlegung des Einsatzschwerpunktes des US-Militärs vom Großraum Naher Osten hin nach Asien zwangsläufig. Und am 9. Februar 2012 sprach Admiral Samuel Locklear im Verteidigungsausschuß des US-Senats anläßlich seiner Nominierung zum Chef des amerikanischen Pazifik-Kommandos Klartext: «Wir sind eine Großmacht in Asien. Die Chinesen und die anderen Länder der Region müssen begreifen, dass die USA bereit sind, dort ihre nationalen Interessen zu verteidigen».  [45]  Anfang Oktober 2014 zeigten auf der Konferenz der Association of the United States Army (AUSA) hohe Offiziere und  Vertreter des US-Verteidigungsministeriums die Vision künftiger bewaffneter Konflikte. Inmitten von Lobbyisten der Waffenindustrie, deren Firmen die neuesten Waffensysteme präsentierten, wurde das neue TRADOC-Dokument 525-3-1 Win in an Complex World 2020-2040  [46]  vorgestellt. Das United States Army Training and Doctrine Command (TRADOC) ist eines von drei Heereskommandos auf Armeeebene und damit eines der wichtigsten Kommandos der US-Streitkräfte.  [47]  Diese Veranstaltung veranlaßte Bill van Auken und David North zu einem geharnischten Artikel im Sprachrohr des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI):»US-Armee entwirft Blaupause für dritten Weltkrieg».  [48] 

Anläßlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises 2005 an den englischen Dramatiker Harold Pinter erinnerte dieser in seiner Dankesrede an das weitverzweigte Lügengespinst, von dem wir uns nähren. Damit die Macht der herrschenden Eliten «erhalten bleibt, ist es unabdingbar, dass die Menschen unwissend bleiben, dass sie in Unkenntnis der Wahrheit bleiben». Pinter erinnerte daran, dass nach dem Ende des 2. Weltkriegs die Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt unterstützten, und sie in vielen Fällen erst hervorbrachten. «Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen, Guatemala, El Salvador und natürlich Chile. Die Schrecken, die Amerika Chile 1973 zufügte, können nie gesühnt und nie verziehen werden. In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts. Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemanden. Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam, unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber gesprochen. Das muß man Amerika lassen. Es hat weltweit eine ziemlich kühl operierende Machtmanipulation betrieben und sich dabei als Streiter für das universelle Gute gebärdet. Ein glänzender, sogar geistreicher, äußerst erfolgreicher Hypnoseakt».  [49]   

Nun sollte die Welt endlich aus der Hypnose erwachen und aus dem Geist des Friedens, der Wahrhaftigkeit und dem Respekt vor anderen Kulturen zu einer echten Völkergemeinschaft zum Wohl der Menschheit und des Planeten finden.      

 

1)  2. Dreißigjähriger Krieg nach General de Gaulle und Winston Churchill der 1. Weltkrieg (1914-1945); der 3. Dreißigjähriger von 2001- 2031?)
2)  https://www.deutschlandfunk.de/abgehaengtes-kreuz-bei-g7-treffen-auswaertiges-amt-weiter-in-der-kritik-100.html
3)  https://www.indianpunchline.com/scholzs-china-trip-raises-hackles
4)  China-Politik muss sich verändern: NOZ vom 2. November 2022, S. 7 66. Jg. Nr. 255
5)  https://www.kas.de/documents/259586/259635/Handlungsoptionen.+Innovation.pdf/c1e6909d-b671-8277-7ed4-fad7d347d5bb
6)  Jens Spahn, Johann Wadephul: «Weg von einseitigen Abhängigkeiten», Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.11.2022
7)  China-Politik muss sich verändern: NOZ vom 2. November 2022, S. 7 66. Jg. Nr. 255
8)  https://www.bundestag.de/parlament/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_06-245136
9)  https://taz.de/Eingebunden-und-entmachtet/!717443/
10)  https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/pressestatements-von-bundeskanzler-scholz-und-praesident-xi-jinping-am-4-november-2022-in-peking-2139834
11)  Ebd.
12)  https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/pressestatements-von-bundeskanzler-scholz-und-ministerpraesident-li-keqiang-am-4-november-2022-in-peking-2139836
13)  Ebd.
14)  https://www.washingtonexaminer.com/opinion/waltzing-in-beijing-germanys-olaf-
15)  https://www.deutschlandfunk.de/olaf-scholz--china-staatsbesuch-peking-xi-eu-100.html
16) 
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9074 
17)  https://german.cri.cn/kommentar/alle/3259/20220414/749724.html 
18)  Ebd.
19)  https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29952/die-politik-der-usa-der-eu-und-chinas-in-zentralasien/
20)  1995 nahm Rebiya Kadeer als chinesische Delegierte an der Weltfrauenkonferenz der UN in Peking teil

21)  Die Unabhängigkeit Xinjiangs wird von den Exil-Uiguren als Anliegen des gesamten uigurischen Volkes dargestellt. 1992 wurde in der kirgisischen Hauptstadt Bishkek die «Partei für ein unabhängiges Uiguristan» mit dem Ziel eines separaten uigurischen Staates gegründet. Siehe dazu auch die Untersuchung von Takashi Sugimoto: The  Political Stability of Ethnic Regions in China. A Methodological Study, Tokyo: International Institute for Global Peace, April 1993, sowie «Die Heterogenität des Islam in China - Bedrohungsperzeption und ethnische Konfliktmuster» in: Klaus H. Schreiner, Hrsg., Islam in Asien, Bad Honnef 2001, S. 196-231
22)  Siehe Justin Jon Rudelson: «The Uighurs in the Future of Central Asia», S.297
23)  Rebiya Kadeer, Präsidentin des Uigurischen Weltkongresses, bei der Jahreshauptversammlung der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte in Bonn am 19. April 2008
24)  Augstein, Franziska: «Als die Menschenrechte schießen lernten». Kosovo-Krieg 1999, in SZ vom 19. Mai 2009, S. 13
25)  Engdahl, William F.: «Washington is Playing a Deeper Game with China» in Global Research vom 12. Juli 2009 unter http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid=14327
26)  Einer von ihnen zog inzwischen nach Schweden weiter
27)  Maier-Albang, M.: «Seltene Einigkeit im Stadtrat. Uigurische Guantanamo-Häftlinge» in der SZ vom 6. Februar 2009
28)  Siehe Welt-online vom 10. Juni 2009: Inselstaat Palau. 200 Millionen Dollar für 17 Guantánamo-Uiguren, unter
http://www.welt.de/politik/article3896609/200-Millionen-Dollar-fuer-17-Guantanamo-Uiguren.html
Palau ist einer der wenigen Staaten, die die Volksrepublik China nicht anerkennen und diplomatische Beziehungen mit Taiwan unterhalten
29)  SPIEGEL-online vom 11. Juni 2009: US-Behörden schicken vier Uiguren auf die Bermudas, unter
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,druck-629963,00.html
30)  Lutz, Martin: «Uiguren – Aus dem Terrorcamp nach Deutschland?» in WELT-online vom 2. Juni 2009 unter
http://www.welt.de/politik/article3847854/Uiguren-Aus-dem-Terrorcamp-nach-Deutschland.html
31)  Bundesländer wollen Guantanamo-Häftlinge nicht, in «Der Westen» vom 5. Mai 2009 unter
http://www.derwesten.de/nachrichten/nachrichten/politik/2009/5/5/news-118957130/detail.html 
32)  Uiguren fordern Absage der China-Reise
https://de.uyghurcongress.org/vor-scholz-visite-in-peking-uiguren-fordern-absage-der-china
33)  Mathias Brüggmann: «Baerbock sieht China als
systemischen Rivalen – Außenministerin grenzt sich von Scholz-Kurs ab», handelsblatt.vom 03.11.2022
34) 
Die Strategie für das entscheidende Jahrzehnt   
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9074 
35)  https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9061 
36) 
Zitate hier und im Folgenden: Konrad-Adenauer-Stiftung: «Das Ende der Naivität – Deutschland und die EU im globalen Wettbewerb zwischen den USA und China», kas.de  37)  https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8779 
38)  https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8578
39)  Zitate hier und im Folgenden: Konrad-Adenauer-Stiftung: «Das Ende der Naivität – Deutschland und die EU im globalen Wettbewerb zwischen den USA und China», kas.de. 40)  https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8965
41)  https://www.kas.de/documents/259586/259635/Handlungsoptionen.+Innovation.pdf/c1e6909d-b671-8277-7ed4-fad7d347d5bb 
42) 
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157935/umfrage/laender-mit-den-hoechsten-militaerausgaben/
43)  «Obama umwirbt Asiens Staaten»
https://www.spiegel.de/politik/ausland/us-praesident-in-tokioobama-umwirbt-asiens-staaten-a-661256.html
44)  Hillary Clinton: «America’s Pacific Century» vom 11.
Oktober 2011
https://foreignpolicy.com/2011/10/11/americas-pacific-century/  
45)  NOMINATIONS BEFORE THE SENATE ARMED SERVICES COMMITTEE, SECOND SESSION, 112TH CONGRESS
https://www.govinfo.gov/content/pkg/CHRG-112shrg80073/html/CHRG-112shrg80073.htm
46)  http://www.tradoc.army.mil/tpubs/pams/tp525-3-1.pdf vom 7. Oktober 201447)  Wolfgang Effenberger: «US-Krieg gegen Rivalen China: Der Count-Down läuft!»
vom 15. Oktober 2014
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26390&css=print 
48)  http://www.wsws.org/de/articles/2014/10/15/pers-o15.html vom 15. Oktober 2014 49)  https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2005/pinter/25626-harold-pinter-nobelvorlesung/