Der Gipfel von Vilnius 16.07.2023 22:29
Mit neuen Aufrüstungsverpflichtungen und der Einigung auf konkrete Operationspläne für einen möglichen Krieg gegen Russland ist der NATO-Gipfel in Vilnius am 12. Juli zu Ende gegangen.
Beschlossen wurden unter anderem drei Teilpläne, die das militärische Vorgehen im Kriegsfall getrennt nach drei Regionen skizzieren: Einer für den Nordatlantik, ein zweiter für Deutschland und die Ostsee plus Anrainer, ein dritter für Südeuropa und das Schwarze Meer.
Um ausreichend Waffen bereitstellen zu können, hat die NATO für die Militärhaushalte der Mitgliedstaaten eine Schwelle von 2 % der Wirtschaftsleistung als Mindestbetrag beschlossen. Schon
im vergangenen Jahr nahmen die Wehretats der europäischen NATO-Staaten und
Kanadas um 8,3 % zu. Gewaltige Summen sollen auch weiterhin in die Aufrüstung
der Ukraine gesteckt werden: Sicherheitsgarantien, die die G7-Staaten Kiew am
12. 7. zusagten, sehen die fortgesetzte Bewaffnung des Landes im großen Stil
vor. Sie enthalten zudem umfassende Hilfe zum Wiederaufbau. Eine feste
Beitrittszusage von der NATO, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
gefordert hatte, erhielt Kiew jedoch nicht.
»Fast
die gesamte Bundeswehr«
Bekräftigt
hat die NATO auf ihrem Gipfel ihr neues Streitkräftemodell [NATO Force Model],
das bereits auf dem NATO-Gipfel vom 28. bis zum 30. Juni 2022 in Madrid
beschlossen worden war. Demnach sollen 300.000 Soldaten aus NATO-Mitgliedstaaten
stets in hoher Bereitschaft gehalten werden; 100.000 von ihnen sollen binnen
zehn, 200.000 binnen 30 Tagen eingesetzt werden können. Die Bundesregierung
hatte damals zugesagt, die Bundeswehr werde rund 30.000 Soldaten, die über 85
Schiffe und Flugzeuge verfügten, in hoher Bereitschaft halten. Im Ernstfall
könnten sogar mehr deutsche Soldaten zur Verfügung gestellt werden. Das
Bundesverteidigungsministerium räumte im Juli 2022 ein: »Insgesamt umfaßt das ›New
Force Model‹ nahezu die gesamten deutschen Streitkräfte«. Zentrale
Elemente der Planung sind 8 NATO-Battlegroups, die in einem weiten Bogen um
Russlands Westen liegen und deren Standorte von Estland, Lettland und Litauen
über Polen, die Slowakei und Ungarn bis nach Rumänien und Bulgarien reichen. Sie
können je nach strategischer Lage bis auf Brigadestärke aufgestockt werden. Die
Bundeswehr wird künftig eine solche Brigade in Litauen stellen; dabei sollen
die deutschen Soldaten nicht rotieren, sondern dauerhaft in dem Land
stationiert sein.
»Wie
wir kämpfen wollen«
In Vilnius
hat die NATO zudem neue Verteidigungspläne beschlossen. Dabei handelt es sich
laut einem NATO-Mitarbeiter um »operative [...] Kriegspläne, die beschreiben,
wie wir kämpfen wollen«. Berichten zufolge umfassen die streng geheim
gehaltenen Pläne gut 4.000 Seiten. Sie sind in zweifacher Hinsicht
aufgegliedert. Zum einen beziehen sie die fünf Dimensionen heutiger
Kriegführung ein: Land, Luft, See, Welt- und Cyberraum. Zum anderen sind sie
geografisch in 3 riesige Regionen geteilt. Die erste von ihnen erstreckt sich
demnach von Nordamerika über den Atlantik und Großbritannien bis in den Hohen
Norden; ihr zuständiges Hauptquartier liegt in Norfolk [US-Bundesstaat Virginia].
Die zweite Region umfaßt Deutschland, das nördliche Europa und insbesondere die
Ostsee und die an sie grenzenden Staaten; das zugehörige Hauptquartier befindet
sich in Brunssum in den Niederlanden. Die dritte Region mit Hauptquartier in
Neapel umfaßt Südeuropa, vor allem mit dem Mittel- und dem Schwarzen Meer. Wie
berichtet wird, begann die Erstellung der Pläne bereits im Jahr 2018, also
lange vor Russlands Angriff auf die Ukraine. [1] Nach dem formellen Beschluss
in Vilnius, die neuen Verteidigungspläne umzusetzen, wird ab sofort mit den
praktischen Vorbereitungen begonnen.
Immer mehr rüsten
Das neue Streitkräftemodell und die neuen Verteidigungspläne erfordern,
wie die NATO konstatiert, eine massive Aufrüstung. Deshalb haben sich die
Bündnismitglieder in Vilnius verpflichtet, in Zukunft mindestens 2 % ihres
Bruttoinlandsprodukts (BIP) in ihre Streitkräfte zu investieren, davon wiederum
mindestens ein Fünftel in »größere Ausrüstung«. Zuweilen
werde es erforderlich sein, mehr als 2 % des BIP in den Militäretat zu stecken, heißt es in
der Gipfelerklärung;
nicht
zuletzt deshalb, weil die NATO ihren »technologischen Vorsprung« sichern müsse.
[2] Im laufenden Jahr haben aktuellen Angaben zufolge 11
Bündnisstaaten die Zwei-Prozent-Schwelle bereits überschritten, darunter
Griechenland (3,01 %), die
Vereinigten Staaten (3,49 %) und Polen
(3,9 %). Die
Bundesrepublik liegt bei 1,57 %
und
muß schon jetzt
bei der Kindergrundsicherung sparen, bekräftigt aber, den Wehretat um die
erforderliche zweistellige Milliardensumme pro Jahr aufstocken zu wollen. Um
die gewünschte Aufrüstung sicherzustellen und nach Möglichkeit zu koordinieren,
hat die NATO einen ›Defence Production
Action Plan‹ erstellt, auf
den die Gipfelerklärung erneut hinweist. Er soll insbesondere die notwendigen ›verteidigungsindustriellen
Kapazitäten‹ zu schaffen
helfen.
Kein NATO-Beitritt Dominiert haben den NATO-Gipfel die erbittert geführten
Auseinandersetzungen um die NATO-Perspektive der Ukraine. Durchgesetzt haben
sich die USA und die Bundesrepublik, die sich gegen eine feste Beitrittszusage,
vor wie auch nach Kriegsende, positioniert hatten. In der Gipfelerklärung heißt
es nun weitgehend unverbindlich, »die Zukunft« der Ukraine
liege »in der NATO». Dazu wird
auf die Erklärung des NATO-Gipfels vom April 2008 verwiesen, auf dem der
Ukraine und Georgien grundsätzlich die NATO-Mitgliedschaft in Aussicht
gestellt, aber nichts konkretisiert worden war; in den 15 Jahren seither ist
die Ukraine einem Beitritt nicht wirklich nähergekommen. Um jeden Anschein
eines etwaigen Beitrittsautomatismus zu meiden, heißt es in der
Gipfelerklärung, dass
man
der Ukraine »eine Einladung« zukommen
lassen werde, »wenn die
Verbündeten zustimmen«. [2] Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, hat
öffentlich mit heftigem Unmut reagiert und der NATO ›Unschlüssigkeit‹ und ›Schwäche‹ vorgeworfen. Die G7-Staaten haben nun Kiew als Ersatz
für die ausgebliebene NATO-Beitrittszusage Sicherheitsgarantien zugesagt, die
jeweils noch bilateral verbindlich festgezurrt werden sollen. Die
Bundesrepublik ist in vollem Umfang an den Maßnahmen beteiligt.
Sicherheitsgarantien Im Detail sehen die Sicherheitsgarantien dreierlei vor. Zum einen soll
die Ukraine mit aller Macht hochgerüstet werden. Dazu zählt die Lieferung von
Panzern und Flugabwehr, von Artillerie »und anderen Schlüsselfähigkeiten«. [3] Dies ist
mit einer massiven Ausweitung der Rüstungsproduktion auch in Deutschland
verbunden. Zudem soll die rüstungsindustrielle Basis der Ukraine ausgebaut
werden. Damit ist unter anderem der deutsche Rheinmetall-Konzern befasst. Auch
Militärausbildung und gemeinsame Manöver sollen intensiviert werden. Zum
zweiten soll die Ukraine ökonomisch stabilisiert und widerstandsfähig gemacht
werden. Dazu gehört besonders der Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes.
Weithin wird dafür eine wohl dreistellige Milliardensumme veranschlagt. Zum
dritten stellen die G7 Kiew unmittelbare Unterstützung technischer wie auch
finanzieller Art in Aussicht. Letzten Endes soll die Ukraine so in die Lage
versetzt werden, sich gegen einen künftigen erneuten Angriff selbst zu
verteidigen – als ein ausgeblutetes und verarmtes, aber waffenstarrendes Land.
In
einem Interview [4] der russischen Nachrichtenagentur TASS vom 14. 7. in New
York zum NATO-Gipfel sagte Helga Zepp-LaRouche, der Versuch, eine globale NATO
zu schaffen, verärgere nicht nur China, sondern fast alle Länder Asiens. Die
Länder des Globalen Südens könnten den Unwillen der NATO erkennen, eine
diplomatische Lösung in der Ukraine zu finden. TASS zitiert die Gründerin des
Schiller-Instituts weiter mit den Worten: »Die einfachen Menschen werden die
offizielle Darstellung dieses Konflikts mehr und mehr in Frage stellen, da ihre
Sozialleistungen und ihr Lebensstandard zugunsten der Militärausgaben
beschnitten werden«. »Es besteht eindeutig die Gefahr, dass der gesamte
Konflikt zu einem globalen Krieg eskaliert, was die Befürworter der Politik zur
›Ruinierung Russlands‹ offensichtlich töricht abtun«.
Die Ukraine solle als ›riesige
Waffen- und Rüstungsfabrik mit Investitionen aus den USA, Deutschland und
anderen Ländern‹
aufgebaut werden. Sie betonte, dies sei eine »Botschaft
an das ukrainische Volk, das nicht nur die Absicht erkennen wird, den Krieg
noch lange fortzusetzen, sondern auch damit rechnen muß, dass etwa 300
Millionen Streubomben auf es abgeworfen werden, und verstehen wird, dass sein
Leben und seine Sicherheit nicht viel zählen«.
Dass
sich die anderen NATO-Mitglieder nicht gegen die Streubomben gewehrt haben,
werde »das moralische Ansehen der NATO in den Augen
der Bevölkerung noch mehr untergraben«. In dieser Situation müssen die
europäischen Länder mit den Menschen des globalen Südens zusammenarbeiten, um
ein »neues, gerechtes Wirtschaftssystem zu schaffen«, so die Expertin.
Die
ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidatin und Kongreßabgeordnete Tulsi
Gabbard hat in einem Interview mit Fox News am 9. Juli die unmenschliche
Mentalität hinter dieser Entscheidung scharf kritisiert: »Das ukrainische Volk
ist ihnen egal; diese Munition wird noch jahrzehntelang zu ukrainischen Opfern
durch nicht detonierte Streubomben führen. Das ist die gleiche kalte
berechnende Gefühllosigkeit, die wir bei Madeleine Albright gesehen haben, als
sie sagte, dass der Preis von 500.000 toten irakischen Kindern durch die
US-Sanktionen es wert sei«. [5]
Der republikanische Kongreßabgeordnete Paul Gosar aus Arizona verlangt,
dass die USA stattdessen auf Friedensgespräche drängen sollten. »Der Krieg in
der Ukraine zieht sich nun schon seit über 500 Tagen hin, und Biden hat gerade
angekündigt, dass er tödliche Streubomben in die Ukraine schicken wird, die von
fast 120 Ländern verboten sind, weil sie wahllos unschuldige Zivilisten töten
können. Das Biden-Regime will keinen Frieden«, schrieb er in
einem Tweet vom 11. Juli. Am Tag zuvor hatte er geschrieben, dass »der Krieg in
der Ukraine immer noch schwelt. Niemand in der Biden-Regierung oder in der NATO
will Frieden, also geht der Krieg weiter. Ich verurteile den andauernden Krieg
und rufe weiterhin zu Friedensgesprächen auf, wie ich es seit März 2022 getan
habe, und ich bleibe dabei, dass wir in diesem Krieg nichts zu suchen haben«. [6]
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9295
13. 7. 23 Eigener Bericht: Der Gipfel
von Vilnius
[1] María R. Sahuquillo, Andrea Rizzi:
The dilemma of Ukraine’s accession and other keys to a NATO summit near Russia;
https://english.elpais.com/ 10.07.2023
[2] Vilnius
Summit Communiqué. Issued by NATO Heads of State and Government participating
in the meeting of the North Atlantic Council in Vilnius 11 July 2023 [3] Joint Declaration of Support for Ukraine.
gov.uk 12.07.2023 [4] https://www.bueso.de/tass-interview-helga-zepp-larouche-bewertet-nato-gipfel
14. 7. 22
[5] https://twitter.com/TulsiGabbard/status/1677997014406283266
[6] https://twitter.com/RepGosar/status/1678756167437238273
https://twitter.com/RepGosar/status/1678483399860781058
|