Wladimir Putin am Valdai Club: Sechs Grundsätze für ein neues multipolares Weltsystem 08.10.2023 22:10
Wir veröffentlichen nachfolgend die von Präsident Putin anläßlich des 20jährigen Jubiläums des »Valdai International Discussion Clubs« vorgetragene Rede:
Verehrte
Teilnehmer der Plenarsitzung, liebe Kollegen, meine Damen und Herren,
ich
freue mich, Sie alle in Sotschi und, wie der Moderator schon sagte, zum Treffen
des zwanzigjährigen Jubiläums des »Valdai International Discussion Clubs«
begrüßen zu dürfen
Unser
oder besser Ihr Forum, welches traditionsgemäß führende Politiker und
Wissenschaftler, Experten und Aktivisten der Zivilgesellschaft aus vielen
Ländern der Welt zusammengebringt, hat damit seinen hohen Stellenwert als
wichtige intellektuelle Plattform einmal mehr unterstrichen. Die
Valdai-Diskussionen spiegeln die wichtigsten Prozesse der Weltpolitik des 21.
Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit und Komplexität wider. Ich bin sicher, dass
dies auch heute der Fall sein wird, so wie es wahrscheinlich auch in den
vorherigen Tagen, als Sie miteinander diskutierten, der Fall war, und so bleiben
wird, da wir im Grund genommen vor der Aufgabe stehen, eine neue Welt zu
errichten. In diesen entscheidenden Phasen tragen Sie, liebe Kollegen, die
extrem wichtige Rolle und Verantwortung der Intellektuellen.
In
den Jahren der Arbeit des Clubs haben sich sowohl in Russland als auch in der
Welt gravierende, wenn nicht enorme Veränderungen vollzogen. Zwanzig Jahre sind
nach historischen Maßstäben kein langer Zeitraum; aber eine Epoche, während der
die gesamte Weltordnung zusammenbricht, scheint die Zeit zu verkürzen. Ich
denke, Sie werden mir zustimmen, dass sich in den letzten 20 Jahren mehr
ereignet hat als in den Jahrzehnten vieler historischer Perioden zuvor: Es
waren qualitative Veränderungen, die einen grundlegenden Wandel der Prinzipien
internationaler Beziehungen bewirkten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hofften
alle, dass die Staaten und Völker die Lehren aus den aufwendigen und
zerstörerischen militärisch-ideologischen Konfrontationen des vergangenen
Jahrhunderts gezogen, die Zerbrechlichkeit unseres vernetzten Planeten erkannt
und verstanden hätten, dass die globalen Probleme der Menschheit gemeinsames Handeln
und die Suche nach kollektiven Lösungen erfordern. Egoismus, Überheblichkeit
und die Mißachtung der echten Herausforderungen würden unweigerlich in eine
Sackgasse führen, genau wie die Versuche der mächtigeren Länder, ihre Konzepte
und Interessen anderen aufzuzwingen. Dies hätte jedem klar sein müssen. Das
sollte es auch, aber es stellte sich heraus, dass dem nicht so war – nein!
Als
wir vor fast 20 Jahren zum ersten Mal im Club zusammentrafen, hatte unser Land
eine neue Entwicklungsphase eingeschlagen. Russland hatte nach Auflösung der
Sowjetunion eine äußerst schwierige Phase der Wiederherstellung durchgestanden.
Wir brachten uns mit aller unserer Kraft und gutem Willen in den Prozeß des
Aufbaus einer neuen, nach unserer Meinung gerechteren Weltordnung ein.
Glücklicherweise ist unser Land in der Lage, einen großen Beitrag zu leisten,
sodass wir unseren Freunden, Partnern und der ganzen Welt etwas anzubieten
haben.
Bedauerlicherweise
wurde unsere Bereitschaft der konstruktiven Teilnahme mißverstanden und als
Unterwerfung und Zustimmung dafür aufgefaßt, dass die neue Weltordnung von
denen eingerichtet würde, die sich selbst zu den Gewinnern des Kalten Krieges
erklärten. Es wurde als Eingeständnis gewertet, dass Russland bereit wäre, dem
Kielwasser anderer zu folgen und sich nicht von eigenen nationalen Interessen,
sondern von den Interessen anderer leiten ließe. In diesen Jahren haben wir
mehr als einmal davor gewarnt, dass dieser Ansatz nicht nur in eine Sackgasse
führe, sondern auch die zunehmende Gefahr eines militärischen Konflikts in sich
berge. Aber niemand hat auf uns gehört, oder wollte es. Die Arroganz unserer sogenannten
Partner im Westen hat sich ins Unermeßliche gesteigert. Ich kann es nur so
ausdrücken. Die Vereinigten Staaten und ihre Satelliten haben einen steten Kurs
in Richtung Hegemonie eingeschlagen: Militärisch, politisch, wirtschaftlich,
kulturell und sogar moralisch und wertebasiert. Von Anfang an war uns klar,
dass der Versuch, ein Monopol zu errichten, zum Scheitern verurteilt wäre. Die
Welt ist zu komplex und vielfältig, um sie einem einzigen System zu
unterwerfen, selbst wenn es auf die gewaltige und akkumulierte Macht des
Westens nach Jahrhunderten der Kolonialpolitik gestützt wäre. Viele Ihrer
Kollegen sind heute abwesend, doch sie leugnen nicht, dass ein Großteil des
westlichen Wohlstands durch das Ausbeuten von Kolonien über die Jahrhunderte
realisiert worden ist. Das ist eine Tatsache. Im Wesentlichen wurde dieses
Niveau der Entwicklung durch das Ausplündern des gesamten Planeten erreicht. Die
Geschichte des Westens ist im Wesentlichen eine Chronik endloser Expansion. Der
westliche Einfluß in der Welt entspricht einer riesigen
militärisch-finanziellen Pyramide, die ständig neuen ›Treibstoff‹
braucht, um sich selbst zu stützen, dies mit natürlichen, technologischen und
menschlichen Ressourcen, die anderen gehören. Aus diesem Grund kann und wird
der Westen nicht aufhören; und unsere Argumente, Mahnungen, Appelle an die
Vernunft, oder Vorschläge, wurden einfach überhört. Ich habe dies sowohl
unseren Verbündeten als auch unseren Partnern öffentlich erklärt. Es gab sogar
einen Moment, als ihr braver Diener vorschlug: »Vielleicht sollten wir auch der
NATO beitreten?« »Aber nein!«, die NATO brauche kein Land wie das unsere, »nein!«
Ich möchte wissen, was sie sonst noch brauchen. Wir dachten, wir gehörten dazu,
hätten einen Fuß in der Tür. Was hätten wir denn sonst tun sollen? Es gab keine
ideologische Konfrontation mehr. Was war das Problem? Ich denke, das Problem fußt
auf geopolitischen Interessen und ihrer Arroganz gegenüber anderen: Ihre Selbstüberschätzung
war und ist das Problem!
Wir
müssen auf den immer stärker werdenden militärischen und politischen Druck
reagieren. Ich habe schon oft gesagt, dass nicht wir es waren, die den sogenannten
›Krieg in der Ukraine‹ lostraten. Ganz im Gegenteil, wir
versuchen ihn zu beenden. Wir waren es nicht, die 2014 einen Putsch in Kiew
inszenierten, einen blutigen und verfassungsfeindlichen Coup d’état. Wenn immer
solches an anderen Orten geschah, hörten wir sofort von allen internationalen
Medien, vor allem natürlich von denen, die der angelsächsischen Welt
unterstehen: Das sei inakzeptabel, das sei unmöglich, das sei
anti-demokratisch. Aber der Putsch in Kiew war möglich. Sie nannten sogar die
Summe, die sie für diesen Putsch ausgegeben hatten. Plötzlich war alles
akzeptabel.
Zu
jener Zeit hat Russland sein Bestes getan, um die Menschen auf der Krim und in
Sewastopol zu unterstützen:
- Wir haben nicht
versucht, die Regierung zu putschen oder die Menschen auf der Krim und in
Sewastopol einzuschüchtern und ihnen mit ethnischen Säuberungen nach Nazi-Art
zu drohen.
- Wir haben nicht versucht, den Donbass durch Beschuß und Bombardierung
zum Gehorsam zu zwingen.
- Wir haben nicht
gedroht, jeden zu töten, der seine Muttersprache sprechen will.
Sie
wissen, jeder hier ist eine informierte und gebildete Person. Man kann
Millionen von Menschen, welche die Realität aus den Medien als real auffassen, einer
Gehirnwäsche – entschuldigen Sie den Ausdruck – unterziehen. Aber Sie hier
wissen, was wirklich los war: Sie [das Regime der westlichen Putschisten] haben
9 Jahre lang bombardiert, geschossen und Panzer eingesetzt. Es wurde ein Krieg,
ein echter Krieg gegen den Donbass entfesselt. Und niemand hat die toten Kinder
im Donbass gezählt. Niemand, insbesondere nicht im Westen, weinte um die Toten.
Der Krieg, den das Regime in Kiew mit aktiver und direkter Unterstützung des
Westens startete, geht in sein zehntes Jahr und Russlands militärische
Sonderoperation zielt darauf ab, ihn zu beenden. Und er erinnert uns daran,
dass einseitige Schritte, egal wer sie unternimmt, unweigerlich Reaktionen
auslösen. Wie wir wissen, erzeugt jede Aktion eine Gegenreaktion. Das ist es,
was jeder Staat mit Verantwortung, jedes souveräne und unabhängige Land, das
sich selbst respektiert, zu tun hat. Jedem ist klar, dass in einem
internationalen System, in dem Willkür herrscht, in dem alle Entscheidungen von
denen getroffen werden, die sich für einzigartig, ohne Sünde und allein im
Recht halten, jedes Land angegriffen werden kann, nur weil es einem Hegemon mißfällt,
der jegliches Augenmaß – und ich möchte hinzufügen, jeglichen Sinn für die
Realität – verloren hat.
Leider
müssen wir einräumen, dass unsere westlichen Partner den Sinn für die Realität
verloren und alle Grenzen überschritten haben, doch vergeblich. Die
Ukraine-Krise ist kein Territorialkonflikt, das möchte ich klarstellen.
Russland ist das flächenmäßig größte Land der Welt, und wir haben keinerlei
Interesse an der Eroberung weiterer Gebiete. Wir haben noch viel zu tun, um Sibirien,
Ostsibirien und den Fernen Osten Russlands richtig zu erschließen. Hier geht es
nicht um einen territorialen Konflikt oder auch um einen Versuch, ein
regionales geopolitisches Gleichgewicht herzustellen. Es geht um eine viel
umfassendere und grundlegendere Frage, nämlich um die Prinzipien, auf denen die
neue Weltordnung beruhen wird. Dauerhafter Frieden setzt voraus, dass
Sicherheit herrscht, Meinungen respektiert, ein Gleichgewicht auf der Welt
hergestellt und niemand gezwungen werden könnte, so zu leben oder sich so zu
verhalten, wie es dem Hegemon gefiele, selbst wenn es der Souveränität, den
wahren Interessen, Traditionen und Bräuchen von Völkern und Ländern
entgegenstünde. Nach einem solchen Schema würde das Konzept jeder Souveränität
in Abrede gestellt und, verzeihen Sie den Ausdruck, auf dem Müll landen.
Es
ist offensichtlich, dass ein Block-Denken nach dem Ansatz, die Welt in einer
ständigen Konfrontation ›Wir-gegen-sie‹ zu halten, eindeutig ein
böses Erbe des 20. Jahrhunderts ist. Es ist ein Produkt der westlichen
politischen Kultur, zumindest in ihrer aggressivsten Ausprägung. Ich
wiederhole: Der Westen, zumindest ein bestimmter Teil westlicher Eliten, braucht
immer einen Feind. Sie brauchen einen Feind, um die Notwendigkeit militärischer
Einsätze und Expansionen zu rechtfertigen. Aber es dient auch dazu, um die
interne Kontrolle innerhalb eines bestimmten Systems besagter Hegemonen sowie
innerhalb von Blöcken – von NATO oder anderen militärisch-politischen Blöcken –
aufrechtzuerhalten. Es muß einen Feind geben, damit sich alle um den ›Führer‹
scharen können. Es ist nicht unsere Angelegenheit, wie andere Staaten ihr Leben
ausrichten. Wir sehen jedoch, wie die herrschende Elite in vielen Ländern die
Gesellschaft zwingt, Normen und Regeln zu akzeptieren, die das Volk, oder
zumindest eine beträchtliche Anzahl von Bürgern, in einigen Ländern sogar die
Mehrheit, nicht zu akzeptieren bereit ist. Dies zwingt sie ständig dazu, Rechtfertigungen
für ihr Handeln zu erfinden, um wachsende innere Probleme auf äußere Ursachen
zurückführen oder nicht existierende Bedrohungen herbeizureden und über Gebühr
aufzublasen. Russland ist ein beliebtes Thema für diese Politiker. Daran haben
wir uns im Laufe der Geschichte natürlich gewöhnt. Aber sie versuchen jedem,
der nicht bereit ist, diesen westlichen Eliten blind zu folgen, ein Feindbild
zu verpassen. Das haben sie in gewissen Situationen und zu gewisser Zeit mit
der Volksrepublik China gemacht und auch mit Indien versucht, obwohl sie es zugleich
umwerben, wie wir sehr deutlich sehen können. Wir erkennen und sehen die
Szenarien in Asien sehr gut – alles ist klar. Die indische Führung, das möchte
ich sagen, verhält sich unabhängig und stark national. Meiner Meinung nach sind
diese Versuche sinnlos, aber sie werden trotzdem fortgesetzt. Sie versuchen
auch, die arabische Welt als Feind darzustellen; sie tun das selektiv und
handeln vorsichtig. Doch im Großen und Ganzen läuft es darauf hinaus, sogar aus
Muslimen ein feindliches Umfeld zu machen. Für die westlichen Eliten verwandelt
sich in der Tat jeder, der unabhängig und im eigenen Interesse handelt, in ein
Hindernis, das es zu beseitigen gilt.
Der
Welt werden künstliche geopolitische Zusammenhänge aufgezwungen und zugleich
geschlossene Blöcke geschaffen. Wir sehen dies in Europa, wo seit Jahrzehnten
eine aggressive Politik der NATO-Erweiterung betrieben wird, sowie im
asiatisch-pazifischen Raum und in Südasien, wo man versucht, eine offene und
integrative Kooperationsarchitektur zu zerstören. Ein Block-Ansatz, wir sollten
das Kind beim Namen nennen, schränkt die Rechte und Freiheiten von Staaten beim
Versuch, sie in eine ›Zwangsjacke‹ mit Verpflichtungen zu stecken, in
ihrer eigenen Entwicklung ein. Es läuft in gewisser Weise und ganz
offensichtlich auf den Verlust eines Teils ihrer Souveränität hinaus, oft nur
gefolgt vom Zwang nach Lösungen im Bereich der Sicherheit - vor allem was die Wirtschaft betrifft - wie es derzeit in den Beziehungen zwischen
den Vereinigten Staaten und Europa geschieht. Es ist nicht nötig, dies jetzt zu
erklären. Falls erforderlich, können wir in der Diskussion nach meinen
einleitenden Bemerkungen ausführlich darüber sprechen. Um diese Ziele zu
erreichen, versuchen sie, das internationale Recht durch eine ›regelbasierte
Ordnung‹ zu ersetzen, was immer das auch heißen mag. Es ist nicht klar,
welche ›Regeln‹ das wären und wer sie erfunden hat. Es ist
einfach Unsinn, aber sie versuchen, diese Idee in die Köpfe von Millionen der
Leute zu verpflanzen: ›Du hast nach den Regeln leben‹. Was sind
das für Regeln? Und tatsächlich, wenn Sie erlauben, stellen unsere westlichen »Kollegen«,
vor allem die aus den Vereinigten Staaten, diese Regeln nicht nur willkürlich
auf, sondern belehren uns, wer sie wie zu befolgen hat und wie man sich
insgesamt zu verhalten hätte. All dies geschieht in einer unverhohlen
ungehobelten Weise. Es entspricht einer weiteren Ausprägung kolonialer
Mentalität. Ständig hören wir: »Sie müssen, Sie sind dazu verpflichtet, wir
möchten Sie ernsthaft warnen«. Wer sind sie eigentlich, um sich das
herauszunehmen? Welches Recht haben sie, andere zu warnen? Das ist einfach
unglaublich. Vielleicht sollten diejenigen, die all das sagen, ihre Arroganz
ablegen und aufhören, sich gegenüber der Weltgemeinschaft, die ihre Ziele und
Interessen genau versteht, so zu verhalten und dieses Gehabe einer kolonialen
Ära endlich ablegen. Manchmal möchte ich ihnen sagen: »Reibt Euch die Augen,
diese Zeiten sind längst vorüber und werden nie wiederkehren!« Ich will dazu
noch eines sagen: Jahrhunderte lang hat solches Verhalten zu einer Wiederholung
von einer Sache geführt: Zu großen Kriegen, für die verschiedene ideologische
und krypto-moralische Rechtfertigungen erfunden wurden. Heute ist dies
besonders gefährlich. Wie Sie wissen, verfügt die Menschheit über die Mittel,
den gesamten Planeten mit Leichtigkeit zu zerstören. Die ständige Bewußtseinsmanipulation
hat ein unglaubliches Ausmaß angenommen und führt zum Verlust des
Realitätssinns. Es ist klar, dass ein Ausweg aus diesem Teufelskreis gefunden
werden muß. Soweit ich es verstehe, liebe Freunde und Kollegen, ist das der
Grund, warum Sie in den Valdai-Club gekommen sind.
Russlands
außenpolitisches Konzept hat unser Land als originären Zivilisationsstaat
klassifiziert. Diese Formulierung spiegelt klar und deutlich wider, wie wir
nicht nur unsere eigene Entwicklung, sondern auch die wichtigsten Grundsätze
der internationalen Ordnung verstehen, von der wir hoffen, dass sie sich
durchsetzen wird. Aus unserer Sicht ist Zivilisation ein vielschichtiger
Begriff, der verschiedenen Interpretationen erfuhr. Dazu gibt es auch eine
offen ausgesprochene koloniale Interpretation: Es gäbe eine ›zivilisierte
Welt‹, die dem Rest als Modell diene, mit Standards, woran sich jeder zu
halten hätte. Diejenigen, die damit nicht einverstanden wären, würden mit dem
Knüppel des ›aufgeklärten Meisters‹ in die ›Zivilisation‹
getrieben. Doch, diese Zeiten, wie ich schon sagte, gehören der Vergangenheit
an, denn unser Verständnis von Zivilisation hat sich komplett gewandelt.
Es
gibt viele Zivilisationen, und keine ist einer anderen über- oder unterlegen.
Sie sind gleichwertig, da jede Zivilisation ein einzigartiger Ausdruck der
eigenen Kultur, ihrer Traditionen und der Bestrebungen ihres Volkes darstellt.
Jeder von uns empfindet sie anders. In meinem Fall verkörpert sie zum Beispiel
die hohen Ziele des Volkes, meines Volkes, zu dem ich glücklicherweise gehöre.
Herausragende Denker aus der ganzen Welt, die das Konzept eines
zivilisationsbasierten Ansatzes befürworten, haben sich eingehend mit der Bedeutung
des Konzepts ›Zivilisation‹ auseinandergesetzt. Es ist ein
komplexes Phänomen, das sich aus vielen Komponenten zusammensetzt. Ohne zu tief
in die Philosophie einzusteigen, was hier vielleicht nicht angebracht wäre,
wollen wir versuchen, es pragmatisch zu beschreiben, so, wie sie auf die
aktuellen Entwicklungen zutrifft. Zu den wesentlichen Merkmalen eines
Zivilisationsstaates gehören Vielfalt und wirtschaftliche Unabhängigkeit, die
meines Erachtens zwei Schlüsselelemente darstellen. Der heutigen Welt ist Uniformität
fremd. Jeder Staat und jede Gesellschaft möchte den eigenen Entwicklungsweg
beschreiten. Dieser ist in der Kultur und in den Traditionen verwurzelt und von
der Geografie und den historischen Erfahrungen, von den alten wie auch den
neuzeitlichen, sowie von den Werten der Menschen geprägt. Es handelt sich um
eine komplexe Synthese, aus der eine eigenständige Zivilisationsgemeinschaft
hervorgeht. Ihre Heterogenität und Vielfalt bilden den Schlüssel zur
Nachhaltigkeit und Entwicklung. Russland hat sich im Laufe der Jahrhunderte zu
einer Nation mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Ethnien entwickelt.
Die russische Zivilisation kann nicht auf einen einzigen gemeinsamen Nenner
gebracht werden, aber sie kann auch nicht geteilt werden, da sie als eine
einzige geistig und kulturell reiche Einheit gedeiht. Die Aufrechterhaltung der
soliden Einheit einer solchen Nation ist keine leichte Aufgabe. Im Laufe der
Jahrhunderte standen wir vor den größten Herausforderungen: Wir haben sie
gemeistert, manchmal unter großen Opfern, aber wir haben jedes Mal unsere
Lehren für die Zukunft gezogen und unsere nationale Einheit und die Integrität
des russischen Staates stärken können. Diese Erfahrungen, die wir gesammelt
haben, sind heute von unschätzbarem Wert. Die Welt wird immer vielfältiger und
die Komplexität der Prozesse läßt sich nicht mehr
mit Methoden eines einfachen Managements über einen Kamm scheren - wie wir
sagen. Dem ist noch etwas Wichtiges hinzuzufügen: Ein wirklich effektives und
stabiles Staatssystem kann nicht von außen aufgezwungen werden. Es wächst auf
natürliche Weise aus den zivilisatorischen Wurzeln der Länder und Völker, und
in dieser Hinsicht liefert Russland ein Beispiel, wie es im wirklichen Leben
und in der Praxis abläuft. Zivilisatorischer Rückhalt ist eine notwendige
Voraussetzung für den Erfolg in einer modernen Welt: In einer chaotischen und
leider gefährlichen Welt, welche ihre Orientierungspunkte verloren hat. Immer
mehr Staaten kommen zu diesem Schluß und werden ihrer eigenen Interessen und
Bedürfnisse gewahr sowie ihrer Möglichkeiten und Grenzen, ihrer Identität mit
dem Grad der Verflechtung der sie umgebenden Welt.
Ich
bin überzeugt, dass die Menschheit sich nicht auf eine Zersplitterung rivalisierender
Segmente zubewegt und nicht auf eine neue Konfrontation zwischen den Blöcken,
aus welchen Motiven auch immer, oder auf den seelenlosen Universalismus einer
neuen Globalisierung. Im Gegenteil, die Welt ist auf dem Weg zu einer Synergie
unter Staatszivilisationen, großen Räumen und Gemeinschaften, die sich als
solche begreifen. Zugleich ist die Zivilisation kein universelles Konstrukt,
das für alle gilt, so etwas gibt es nicht. Jede Zivilisation ist anders, jede
ist kulturell autark und schöpft ihre ideologischen Prinzipien und Werte aus
ihrer eigenen Geschichte und Traditionen. Der Respekt vor sich selbst ergibt
sich natürlich aus dem Respekt vor den anderen, aber er setzt auch den Respekt
der anderen voraus. Deshalb zwingt eine Zivilisation niemandem etwas auf, läßt es
aber auch nicht zu, dass ihr etwas aufgezwungen wird. Wenn sich jeder an diese
Regel hält, könnten wir eine harmonische Koexistenz und eine kreative
Interaktion unter allen Teilnehmern in den internationalen Beziehungen
sicherstellen. Seine zivilisatorische Ausrichtung zu schützen, stellt
selbstredend eine große Verantwortung dar. Es betrifft auf externe Übergriffe
zu reagieren, die Entwicklung enger und konstruktiver Beziehungen zu anderen
Zivilisationen herzustellen und, was am wichtigsten ist, Stabilität und
Harmonie im Inneren aufrechtzuerhalten. Wir alle können sehen, dass das
internationale Umfeld heute, wie ich schon sagte, leider instabil und
hinlänglich aggressiv geworden ist. Und noch eine sehr wichtige Sache:
Selbstverständlich darf niemand seine Zivilisation verraten. Das wäre auch ein
Weg ins universelle Chaos, unnatürlich und widerlich, würde ich sagen. Wir für
unseren Teil haben immer versucht, Lösungen anzubieten, welche die Interessen
aller Seiten berücksichtigen, und werden dies weiter tun. Aber unsere Kollegen
im Westen scheinen Konzepte angemessener Selbstbeschränkung mit Kompromissen
und Bereitschaft zu Zugeständnissen zu Gunsten eines für alle akzeptablen Ergebnisses
vergessen zu haben. Nein, sie sind buchstäblich nur von dem einem Ziel
besessen: Ihre Interessen durchzusetzen, hier und jetzt, und zwar um jeden
Preis. Wenn das ihre Wahl scheint, werden wir sehen, was passiert.
Es
scheint paradox, aber die Situation kann sich schon morgen ändern - was ein
Problem ist. Beispielsweise kann es zu innenpolitischen Verschiebungen nach
Wahlen kommen: Heute kann ein Land noch darauf bestehen, etwas um jeden Preis
durchsetzen zu wollen, aber morgen schon kann sich die innenpolitische Lage
geändert haben und eine andere, manchmal sogar gegenteilige Idee würde mit
demselben Druck und derselben Unbekümmertheit durchgedrückt werden. Ein
eindrucksvolles Beispiel ist das iranische Atomprogramm. Eine US-Regierung hat
eine Entscheidung durchgesetzt. Dann kam die nachfolgende Administration, hat
alles umgedreht und es ging in die genau gegenteilige Richtung. Wie kann man
unter solchen Bedingungen arbeiten? Was blieben die Leitlinien? Worauf kann man
sich noch verlassen? Wo sind die Garantien? Sind das die ›Regeln‹,
von denen man uns erzählt? Das ist nur Nonsens. Warum geschieht dies, und warum
scheint es niemanden zu stören? Die Antwort ist, weil strategisches Denken
durch kurzfristige Eigeninteressen ersetzt worden ist, und zwar nicht einmal
von Ländern oder Nationen, sondern von wechselnden Einflußgruppen. Dies erklärt
die unglaubliche Verantwortungslosigkeit politischer Eliten, die nach den Maßstäben
des Kalten Krieges alle Furcht und Schande abgelegt haben und sich für fehlerfrei
halten. Der zivilisatorische Ansatz stellt sich diesen Tendenzen entgegen, weil
er sich auf die grundlegenden und langfristigen Interessen der Staaten und
Völker stützt, auf Interessen, die nicht von aktuellen ideologischen Umständen
diktiert werden, sondern von der gesamten historischen Erfahrung und dem Erbe
der Vergangenheit, auf dem die Idee einer harmonischen Zukunft beruht. Wenn
sich alle von einer solchen Einstellung leiten ließen, gäbe es meines Erachtens
viel weniger Konflikte auf der Welt und die Methoden der Resolutionen wären
viel rationaler, weil sich alle Zivilisationen, wie ich sagte, gegenseitig
respektieren würden und nicht in Versuchung fielen, jeden aufgrund eigener
Vorstellungen zu ändern.
Geschätzte
Freunde, ich habe mit Interesse den Bericht gelesen, den der Valdai-Club für
das heutige Treffen vorgelegt hat. Er besagt, dass man versuche, die Zukunft zu
verstehen und sie sich vorzustellen. Das ist natürlich und verständlich,
insbesondere für intellektuelle Kreise. In einer Zeit des radikalen Wandels, in
der die Welt, an die wir gewöhnt sind, zerbricht, ist es sehr wichtig zu
verstehen, wohin wir uns bewegen und was wir erreichen wollen. Und natürlich
wird die Zukunft jetzt geschaffen, nicht nur vor unseren Augen, sondern durch
unsere eigenen Hände. Natürlich ist es bei solch gigantischen, unglaublich
komplexen Prozessen schwierig oder sogar unmöglich, das Ergebnis vorherzusagen.
Ganz gleich, was wir tun, wird das Leben sicher für Anpassungen sorgen. Aber in
jedem Fall müssen wir uns darüber im Klaren sein, was wir anstreben und was wir
erreichen wollen. In Russland gibt es ein solches Verständnis:
- Wir wollen in einer offenen vernetzten Welt
leben, in der niemand versuchen wird, der Kommunikation der Menschen, ihrer
kreativen Entfaltung und ihrem Wohlstand künstliche Hindernisse in den Weg zu
legen. Wir müssen uns bemühen, einem Umfeld ohne Hindernisse nachzugehen.
- Wir wollen, dass die Vielfalt der Welt nicht
nur erhalten bleibt, sondern als Grundlage für eine universelle Entwicklung
dient. Es sollte verboten sein, irgendeinem Land oder Volk vorzuschreiben, wie
es zu leben und zu fühlen hätte. Nur eine echte kulturelle und zivilisatorische
Vielfalt kann das Wohlergehen der Völker und einen Ausgleich der Interessen
garantieren.
- Russland steht für einen maximalen
Repräsentationsgrad. Niemand hat das Recht, die Welt für andere und im Namen
anderer zu regieren. Die Welt der Zukunft ist eine Welt der kollektiven
Entscheidungen, die auf denjenigen Ebenen getroffen werden, auf denen sie am
wirksamsten sind, von denjenigen, die wirklich in der Lage sind, einen
wesentlichen Beitrag zur Lösung eines bestimmten Problems zu leisten. Es ist
nicht so, dass eine Person für alle entscheidet, und nicht einmal alle
entscheiden alles, sondern diejenigen, die von diesem oder jenem Problem direkt
betroffen sind, müssen sich einigen, was
zu tun wäre und wie es getan werden soll.
- Russland steht für universelle Sicherheit und
dauerhaften Frieden, der auf der Achtung der Interessen aller beruht: Von den
großen bis zu den kleinen Ländern. Es geht vor allem darum, die internationalen
Beziehungen vom Blockdenken und dem Erbe der Kolonialzeit und des Kalten
Krieges zu befreien. Wir sagen schon seit Jahrzehnten, dass Sicherheit
unteilbar ist und dass es unmöglich ist, die Sicherheit der einen auf Kosten
der Sicherheit der anderen zu erreichen. In der Tat kann in diesem Bereich
Harmonie erreicht werden. Man muß nur Hochmut und Arroganz ablegen und
aufhören, andere als Partner zweiter Klasse, Ausgestoßene oder Wilde zu
betrachten.
- Wir setzen uns für Gerechtigkeit für alle
ein. Die Ära der Ausbeutung ist, wie ich schon zweimal sagte, vorbei. Die
Länder und Völker sind sich ihrer Interessen und Fähigkeiten bewußt und sind
bereit, sich auf sich selbst zu verlassen, was ihre Stärke vervielfältigt.
Jeder sollte Zugang zu den Vorteilen moderner Entwicklungen haben, und
Versuche, dies für ein Land oder ein Volk einzuschränken, sollten als ein Akt der
Aggression betrachtet werden – genau so.
- Wir stehen für Gleichheit, für die
vielfältigen Potentiale aller Länder. Dies ist ein völlig objektiver Faktor.
Aber nicht weniger objektiv ist die Tatsache, dass niemand mehr bereit ist,
sich zu unterwerfen oder seine Interessen und Bedürfnisse von irgendjemandem abhängig
zu machen – vor allem nicht von den Reichen und Mächtigen.
Dies
ist nicht nur der natürliche Zustand der internationalen Gemeinschaft, sondern
die Quintessenz der gesamten historischen Erfahrung der Menschheit. Dies sind
die Grundsätze, denen wir folgen möchten und zu denen wir alle unsere Freunde
und Kollegen einladen.
Kolleginnen
und Kollegen!
Russland
war, ist und wird eines der Fundamente dieses neuen Weltsystems sein, bereit zu
einem konstruktiven Umgang mit allen, die nach Frieden und Wohlstand streben,
aber auch bereit zu einem harten Widerstand gegen diejenigen, die sich zu den
Prinzipien von Diktatur und Gewalt bekennen. Wir glauben, dass sich
Pragmatismus und gesunder Menschenverstand durchsetzen werden und eine
multipolare Welt entstehen wird.
Abschließend
möchte ich mich bei den Organisatoren des Forums für die wie immer gründliche
und qualifizierte Vorbereitung sowie bei allen Teilnehmern dieses
Jubiläumstreffens für ihre Aufmerksamkeit bedanken.
Ich
danke Ihnen sehr herzlich.
Quelle: https://unser-mitteleuropa.com/wladimir-putin-am-valdai-club-sechs-grundsaetze-fuer-neues-multipolares-weltsystem/ 7. 10. 23
|